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Shutter Island

Shutter Island

Drei- Manegen-Zirkus

| Alexandra Seitz |

Rutschpartie auf Glatteis, mit doppeltem Boden, aber ohne Netz: Shutter Island von Martin Scorsese

Ignorance is bliss. – Selig sind die Unwissenden. Manchmal gerät in Vergessenheit, dass ein Film zuallererst eine Seherfahrung ist, eine im Sehen gemachte Erfahrung. Für Shutter Island von Martin Scorsese gilt das in besonderer Weise. Je weniger der Zuschauer im Vorfeld über diesen Film weiß, umso höher sind seine Chancen, während des Sehens die reizvolle Erfahrung des allmählichen Verlustes der Bodenhaftung zu machen. Wer sich das ganze Vergnügen einer Achterbahnfahrt in der Finsternis gönnen will, sollte in Betracht ziehen, diesen Text erst nach dem Sehen zu lesen. Alle anderen seien hiermit davor gewarnt, dass es im Folgenden ohne den einen oder anderen potenziell verräterischen Hinweis nicht abgehen wird und kann.

Die beiden U.S. Marshals Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) und Chuck Aule (Mark Ruffalo) werden nach Shutter Island beordert, um das Verschwinden einer mehrfachen Mörderin aus dem dortigen Ashecliffe Asylum, einer Anstalt für geistesgestörte Gewaltverbrecher, zu untersuchen: Rachel Solando, die ihre drei Kinder ertränkt hat, weigert sich, die Realität der Irrenanstalt anzuerkennen, stattdessen hält sie Personal, Doktoren und Insassen für Briefträger, Milchmänner und Nachbarn. Eines Nachts verschwindet sie ohne Schuhe aus ihrer verschlossenen Zelle. Auftritt Daniels und Aule, die eben erst einander zugeteilt wurden. Es ist das Jahr 1954.

Die Überfahrt auf die Insel in Boston Harbor macht Daniels zu schaffen; das erste, was zu sehen ist, ist, wie der Marshal mit dem legendären Ruf unglamourös in eine Klomuschel kotzt. Das Hervorwürgen und an die Oberfläche holen – in Rückblenden und Traumsequenzen, die alles immer noch mysteriöser und merkwürdiger machen – wird ein Leitmotiv des Films bleiben. Dann kommt Shutter Island in Sicht und sieht aus wie Peter Jacksons King Kong-Variante von Skull Island; eine schroff ins Meer stürzende Steilküste mit einem einzigen schmalen, streng bewachten Hafen unter grauwolkig tief hängendem Himmel. Begleitet wird der Auftritt dieser unheilschwangeren Insel von Klängen, die unmissverständlich dräuen und drohen, und ganz unironisch ein Genre signalisieren: Horror; Horror in seiner etwas altmodisch-elegischen Ausprägung, für die es die schönen Begriffe „Schauer“ und „Grusel“ gibt, und die eher auf Atmosphäre, weniger auf Schockeffekte setzt. Zugeneigt ist dieser Horror seit jeher der Vorsilbe „Psycho“, im vorliegenden Fall ganz besonders, ist man doch unterwegs in eine psychiatrische Anstalt. Und zwar einer für die ganz harten Fälle.

Angekommen werden den widerwillig gehorchenden Marshals die Waffen abgenommen. Die Anstaltsleitung zeigt sich wenig kooperativ, will keine Akten herausgeben und keine Gespräche zulassen. Die Marshals wiederum bleiben unnachgiebig und läs-tig. Daniels fährt fort zu würgen; bereits in der ersten Nacht der auf vier schweißtreibend intensive Tage komprimierten Geschichte kommen zwei traumatische Ereignisse aus seiner Vergangenheit hervor: Er war im Krieg bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau dabei; seine Frau Dolores fiel einer Brandstiftung zum Opfer. Zu allem Überfluss verschlechtert sich nun auch noch das Wetter, ein Hurrikan walzt heran und bald schon schüttet es in der Waagrechten.

Opulentes Genre-Kino
Shutter Island ist ein ausgesprochen ereignis- und dialogreicher Film; ununterbrochen werden Informationen geliefert, verändert sich die Ermittlungssituation, wird ein neues Motiv oder Thema eingeführt, ein Hinweis gegeben, passiert irgendwas. Es wird rekapituliert, überlegt, geplant. Solange bis sich alles dreht und einem schwindelt. Auch Daniels brummt der Kopf – doch ist es nicht etwas leichtsinnig, angebliches Aspirin aus den Händen eines Nervenarztes anzunehmen, den Ben Kingsley mit dem ihm eigenen diabolisch-doppelbödigen Funkeln spielt?

Der erzählerische Reichtum und die permanente Selbst-Infrage-Stellung von Shutter Island sind nicht zuletzt deswegen so unterhaltsam, weil sie mit derart offenkundiger Lust an der filmischen Arbeit in Bilder gesetzt sind. Scorsese sagt, Laeta Kalogridis Drehbuch – nach dem gleichnamigen Roman von Dennis Lehane, Autor auch der Vorlagen für Clint Eastwoods
Mystic River und Ben Afflecks Gone Baby Gone – habe ihn an Filme wie Cat People (1941) und I Walked With A Zombie (1943) von Jacques Tourneur sowie an Das Cabinet des Dr. Caligari (Robert Wiene, 1920) erinnert. Zu jener Zeit habe er gerade als Sprecher an einem TV-Film über den RKO-Horrorfilm-Produzenten Val Lewton gearbeitet (Val Lewton: The Man in the Shadows) und war genau in der richtigen Stimmung „komplexem existenzialistischem Horror ein modernes Gesicht zu geben“. Um Cast und Crew eine Vorstellung von dem zu vermitteln, was ihm mit Shutter Island vorschwebte, habe er ihnen Laura (Otto Preminger, 1944), Out of the Past (Jacques Tourneur, 1947), Shock Corridor (Sam Fuller, 1963), The Haunting (Robert Wise, 1963), The Innocents (Jack Clayton, 1961), aber auch The Trial (Orson Welles, 1963) und nicht zuletzt Frederick Wisemans skandalisierte Irrenhaus-Doku Titicut Follies (1967) gezeigt. Im Kontext dieser (mit Ausnahme der beiden letzten) wunderbaren, wild und wendungsreich fabulierten und dabei doch ökonomisch in Szene gesetzten Genre-Filme will Shutter Island also gesehen werden. Damit geht der ohnehin absurde Vorwurf, Scorsese habe sich mit seinem Film in niedere Gefilde begeben, ins Leere. Allerdings sprengt Shutter Island mit seinen fast zweieinhalb Stunden Laufzeit den von den Vorbildern gegebenen knappen Rahmen. Also fragt sich, welchen Mehrwert die ganze Sache bietet.

Scorsese hat die opulente Big-Budget-Variante eines B-Pictures gedreht, und opulent meint hier Gangs of New York-opulent. Keine halben Sachen, stattdessen volles Rohr. Schrecklich und riesig ist die Anstalt, fürchterlich sind ihre Katakomben. Dröhnend und peitschend ist das hereinbrechende Unwetter. Großartig ist die Besetzung, verdächtig sind die Figuren, aufgewühlt die Gefühle; in jeder Hinsicht extrem sind die gezogenen Regis-ter. Dazu kommt eine erstklassige Musikauswahl, die mit Krzysztof Penderecki, Max Richter, Ingram Marshal, György Ligeti, Gustav Mahler und anderen herausragende Komponisten des 20. Jahrhunderts versammelt und so den produktiven Kontrast von sogenannter Hochkultur mit Pulp Fiction wagt.

Irrwege
Shutter Island ist ein Drei-Manegen-Zirkus, aber keine reine Zirkusnummer. In der ersten Manege ereignet sich die Geschichte Teddy Daniels. Der Marshal hat, wie sich herausstellt, seine eigene Agenda mit auf die Insel gebracht. Nicht nur ist auf ihr jener Brandstifter inhaftiert, der seine Frau auf dem Gewissen hat. Daniels glaubt sich auch einer politischen Konspiration auf der Spur, er munkelt von Gehirnwäsche-Experimenten an Patienten, wild entschlossen, diesem Nazi-Spuk ein Ende zu bereiten. Und läuft dabei Gefahr, auf der Abschussliste finsterer Hintermänner zu landen. Es gilt auf der Hut zu sein, schon um die nächste Ecke könnte der Attentäter lauern.

In der zweiten Manege desintegriert vor den Augen des Zuschauers ein Film. Es dauert nämlich nicht lange, da beschleicht einen der Verdacht, dass der Perspektive dieses seltsam gequälten Teddy Daniels nicht zu trauen ist. David Finchers Fight Club fällt einem ein und man betrachtet Chuck Aule fortan mit Misstrauen. Eine falsche Fährte? Plötzlich wollen auch die Anschlüsse zwischen einzelnen Szenen nicht mehr ohne weiteres gelingen. Sprunghaft und assoziativ treibt es einen gemeinsam mit der Hauptfigur durch ein Labyrinth aus Traumata, Psychosen und verdrängten Erinnerungen, von den Filmbildern mit sklavischer Dienstbarkeit übersetzt in unberechenbare Rhythmen, wilde Zeit- und Ortswechsel, Sprünge zwischen vormals unbekannten Ebenen, Blicke in Abgründe. Es gilt auf der Hut zu sein, denn schon mit dem nächsten Schnitt könnte der endgültige Sturz in die Leere folgen.

In der dritten Manege ist die Rede von Gewalt: Traumatisierung durch Gewalt, gewalttätige Sozialisation, Gewalt durch Unterlassung, Gewalt aus Notwehr und zum Selbstschutz. Auf dieser, der abstraktesten Ebene gliedert sich Shutter Island zwanglos in Scorseses Werk ein, das seit jeher den Spuren der Gewalt durch die US-amerikanische Mentalitätsgeschichte folgt. Die Figur des Teddy Daniel beschreibt die seelische Verfasstheit des aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrten Mannes und knüpft an die psychotische Tradition des Film noir an. Es gilt auf der Hut zu sein, schon der nächste Blick könnte ein Blick in den Spiegel sein und die vermeintliche Realität an der Wahrheit der Selbsterkenntnis zerschellen.

Auch einer zweiten Sichtung wird Shutter Island ohne weiteres standhalten. Viel Spaß im Kino!