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Gli appunti di Anna Azzori
Gli appunti di Anna Azzori / Bild: Österreichisches Filmmuseum © Katharina Müller

Veranstaltung

Sie sind die anderen Blicke

| Jakob Dibold |
Constanze Ruhm und Laura Mulvey: Zwei Retrospektiven im Österreichischen Filmmuseum

Vom 2. beziehungsweise 16. November an bis ins nächste Jahr hinein präsentiert das Österreichische Filmmuseum zwei Werkschauen von Innovatorinnen des Films, Kinos und dessen Formsprache: Constanze Ruhm und Laura Mulvey. Sowohl die österreichische Künstlerin und Filmemacherin Constanze Ruhm als auch die britische Theoretikerin und Filmemacherin Laura Mulvey setzen sich in ihren filmischen Arbeiten ineinandergreifend mit dem feministischen Subjekt und den Mechanismen von Film und Kino auseinander. In den für sich stehenden, doch eng verknüpften Werkschauen werden zum einen eigene Werke langer und kurzer Form der beiden Künstlerinnen gezeigt, zum anderen stellen beide ihrer Perspektive eine Carte-Blanche-Auswahl zur Seite – Filme, die teils unmittelbar Ausgangspunkte für die eigenen Inhalte darstellen.

Oftmals löst Constanze Ruhm bedeutende weibliche Charaktere der Filmgeschichte aus Werken, die zu Klassikern wurden, und verleiht ihnen neue Handlungsmacht, erzählt sie untersuchend als Figuren einer anderen Sichtweise. In ihrem bei der Diagonale 2020 in der Kategorie Innovatives Kino ausgezeichneten Essayfilm Gli appunti di Anna Azzori / Uno specchio che viaggia nel tempo ist dies die Protagonistin aus der experimentell-dokumentarischen Langstudie Anna (1972–1975) von Alberto Grifi und Massimo Sarchielli, in X NaNa / Subroutine (2004) Nana aus Jean-Luc Godards Vivre sa vie (1962) – die junge Pariserin aus Godards Episodendrama begegnet alsbald in X Love Scenes (2007) Giuliana aus Michelangelo Antonionis Il Deserto Rosso (1964), die ihrerseits in Bree (Klute, 1971, R: Alan J. Pakula) und Hari (Solaris, 1972, R: Andrei Tarkowski) aufgeht. Hari, Giuliana (dort als Julian) und Nana treffen sich in CRASH SITE / My_Never_Ending_Burial_Plot (2010) bei der Ausgrabung eines bedeutungstiefen Erdlochs wieder. Der Mann im Regiestuhl selbst wird in Kalte Probe (2013) kritisch-komisch „auseinandergenommen“, aus Godard wird als Hans Lucas ein sich verbittert an seine glorreiche Vergangenheit Klammernder. Dass Ruhm in ihren Filmen nicht nur kanonisierte Fiktionsfiguren zitiert, zeigt sich unter anderem in La strada (è ancora) più lunga (2021) und A Shard is a Fragment of a Life (2023) ausgehend von Feministinnen im Italien der Siebziger und den Schriften der Kritikerin und Aktivistin Carla Lonzi. Und auch die Beschäftigung der Künstlerin mit den Logiken von Räumen und Kulissen findet in der Retrospektive Platz, mit dem Programm „Future Memories of Players to Come. Frühe Computeranimationen“. Die Carte-Blanche-Vorstellungen umfassen neben den genannten Referenz-Filmen (Klute dabei nur in Form des Trailers) zudem Persona (1966, R: Ingmar Bergman), Mademoiselle (1966, R: Tony Richardson), Le Bonheur (1965, R: Agnès Varda) und Lives of Performers(1972, R: Yvonne Rainer).

Sowohl Lives of Performers als auch Vivre sa vie wurden ebenfalls von Laura Mulvey ausgewählt, selbst beide physisch im „Unsichtbaren Kino“ präsent sind Ruhm und Mulvey im Gespräch mit Christa Blümlinger am 17. November. Die einflussreiche Britin, die in ihrem Aufsatz „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ (1975) den Begriff des „male gaze“ geprägt hat (ein Ausdruck, von dem sie selbst nicht erwartet hätte, dass er noch Jahrzehnte später derart aktuell sein würde, wie sie u. a. in Nina Menkes’ Dokumentarfilm Brainwashed: Sex – Camera – Power verrät), kommt am 16. November nach Wien, um ihre Schau mit Penthesilea: Queen of the Amazons (1974) zu eröffnen. In fünf Kapiteln durchleuchtet sie darin (Be-)Deutungsebenen des Amazonen-Mythos, gemeinsam mit Peter Wollen, mit dem sie auch Riddles of the Sphinx (1977), Amy! (1980, mit Yvonne Rainer als Darstellerin), Crystal Gazing (1982) und The Bad Sister (1983) realisierte. Die Zusammenarbeiten der beiden strahlen als forschendes Kino vieler Ideen ungebrochen filmische Raffinesse und gesellschaftskritische Schlagkraft aus. Eine ungemein vielseitige und hochkarätige Reise durch die Historie des Erzählfilms bildet die Carte Blanche, die ohne Auslassung aufgezählt werden muss; chronologisch nach Erscheinungsjahr wie folgt: Dom na Trubnoj (1928, R: Boris Barnet), Un chien andalou (1929, R: Luis Buñuel), Only Angels Have Wings (1939, R: Howard Hawks), Lola Montez (1955, R: Max Ophüls), Imitation of Life(1959, R: Douglas Sirk), Rio Bravo (1959, R: Howard Hawks), Vivre sa vie (1962, R: Jean-Luc Godard), Deus e o diabo na terra do sol (1964, R: Glauber Rocha), Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (1968, R: Jean-Marie Straub, Danièle Huillet), Rat Life and Diet in North America (1969, R: Joyce Wieland) Lives of Performers (1972, R: Yvonne Rainer), Anemometer (1974, R: Chris Welsby), Unsichtbare Gegner (1977, R: VALIE EXPORT), Toute une nuit (1982, R: Chantal Akerman) !

www.filmmuseum.at