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Silence

Beruf: Märtyrer

| Marietta Steinhart |
Mit seinem anspruchsvollen Mammutwerk „Silence“ berührt Martin Scorsese gewaltige Fragen über Sinn und Unsinn des Glaubens.

Martin Scorseses monumentaler Film Silence beginnt mit einem Bild des Grauens. Das Jahr ist 1633; der Ort eine vulkanische Landschaft mit kochenden Quellen in Japan. Durch die Schwefelabgase und den brütenden Dampf hindurch sehen wir europäische Männer, deren Körper an Kreuze gefesselt sind, während japanische Soldaten brennend heißes Wasser auf ihre Haut gießen. Eine Stimme erzählt, dass die Schöpfkellen so perforiert sind, dass jeder einzelne Tropfen die Haut „wie brennende Kohle“ trifft. Der Mann, der dieser Folter beiwohnt, ist Pater Cristóvão Ferreira (Liam Neeson), ein portugiesischer Jesuit und Missionar. Die Opfer an den Kreuzen sind Katholiken. Das Christentum wurde, nachdem es eine Zeitlang geduldet worden war, aus Japan verbannt. Wir hören Ferreiras Schilderungen wieder, wenn ein Brief sieben Jahre später bei zwei jungen Jesuitenpriestern, die einst seine Schüler waren, in Portugal eintrifft. Ihr ehemaliger Mentor sei seit damals verschwunden, so heißt es, vielleicht tot oder, schlimmer noch, habe möglicherweise seinen Glauben denunziert und eine Japanerin zur Frau genommen, um sein Leben zu retten.

Selbstaufopferung

Pater Rodrigues (Andrew Garfield) und Pater Garpe (Adam Driver) fühlen sich verpflichtet, nach Japan zu reisen, um Ferreira aufzuspüren und seine Seele, wenn nötig, vor der Verdammnis zu retten. Sie wissen, dass Christen dort brutal verfolgt werden, aber sie sind in keinster Weise auf jene Gräuel vorbereitet, die sie dort erleben werden. Katholiken werden kopfüber in Gruben aufgehängt, bis sie langsam ausbluten; an Kreuze im Ozean gefesselt, bis die Flut kommt und sie ertrinken, und in Strohmatten bei lebendigem Leibe verbrannt. Die Folter endet nur dann, wenn sie in einem Akt der Apostasie auf ihren Glauben verzichten, indem sie öffentlich mit ihrem Fuß auf ein Bild Christi „trampeln“.

Der erste Japaner, dem die Männer begegnen, ist Kichijiro (Kubozuka Yôsuke), ein erbärmlicher, gequälter Katholik, der auf seinen angenommen Glauben immer dann verzichtet, wenn es ihm passt und um Vergebung bettelt, wenn er seine Mitchristen wieder einmal verraten hat. Kichijiro dient abwechselnd als falscher Judas und treuer Diener. In ihm wird sich eine der moralischen und schwierigen Fragen von Scorsese manifestieren: Was ist die Beichte wert, wenn ein Mensch an die Sünde gebunden ist wie die Sonne an den Sonnenaufgang?

In einem kleinen, abgelegenen Küstendorf angekommen, stoßen Rodrigues und Garpe auf eine kleine Gruppe von Bauern, die im Stillen Christus anbeten, aber Angst davor haben, ihren Glauben offen auszuleben. Nur ein kleines hölzernes Kruzifix zu besitzen reicht schon, um getötet zu werden. Und so ist die Ankunft der beiden Priester für die Dorfbewohner nicht weniger als ein kleines Wunder. Naiv, wie sie sind, hoffen die beiden das Feuer des Christentums am Leben erhalten zu können, auch wenn ihre verwirrte Herde den christlichen Gott nicht immer so sieht, wie die Kirche das lehrt. Es ist sogar möglich, dass die japanischen Bauern aufgrund eines Übersetzungsfehlers vielleicht gar nicht den „Sohn“ (son) sondern die „Sonne“ (sun) anbeten. Die Anwesenheit der beiden spricht sich herum, und bald sehen sie aus ihrem Versteck dabei zu, wie drei katholische Dorfbewohner hingerichtet werden. Die Bauern umarmen das Martyrium, weil die Selbstaufopferung im Angesicht der Verfolgung ein Prüfstein des Christentums ist und sie im Paradies dafür belohnt werden. „Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Kirche“, sagt Rodrigues an einer Stelle, aber die Idee des christlichen Martyriums wird Scorsese in Frage stellen.

Die beiden Priester trennen sich, und wir folgen Rodrigues. Er wird verraten und von einem Inquisitor (Ogata Issei) gefangengenommen, einem überaus exzentrischen, sadistischen Mann, der dem Europäer versucht zu erklären, dass seine importierte Religion kulturelle und geistige Uneinigkeit nach Japan gebracht hat. „Der Baum des Christentums verwelkt in japanischem Boden“, sagt er. „Weil der Boden vergiftet worden ist“, kontert Rodrigues. Unterdessen muss der Portugiese zusehen, wie seine christlichen Anhänger vor seinen Augen gefoltert werden. Der Inquisitor will an ihm ein Exempel statuieren und foltert sie so lange, bis der Pater seinem Glauben abschwört, doch der ist überzeugt davon, dass er jetzt in die Fußstapfen von Jesus tritt. Er muss entscheiden: Ist es seine Rolle als Priester, dem Leidensweg Jesu zu folgen? Oder ist es seine moralische Pflicht, das Leben der anderen zu retten? Scorsese erwägt eine zutiefst interessante Möglichkeit: Wenn wir öffentlich auf unsere Ideale verzichten und sie in unserem Herzen behalten, ist das legitim?

Hoffnung und Verzweiflung

Es ist manchmal leicht zu vergessen, dass derselbe Mann, der Gangsterballaden wie Mean Streets, Goodfellas, Casino und The Departed gemacht hat, auch ein bekennender Katholik ist, der einst Priester werden wollte, aber Martin Scorseses Filme haben schon immer Aspekte von Religiosität berührt, egal ob es der innere Kampf eines frommen Mafioso wie Charlie (Mean Streets) oder die Rachephantasien eines Psychopathen wie Max Cady (Cape Fear) waren. Silence ist realistischer und nachdenklicher, als wir es von Scorsese gewohnt sind, aber sein Held Rodrigues ist letztlich aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Travis Bickle in Taxi Driver oder Henry Hill in Goodfellas, wenn sie zwischen Hoffnung und Verzweiflung taumeln, zwischen Schuld und Sühne. Aber im Gegensatz zu einem ultrakonservativen Katholiken wie Mel Gibson, der körperliches Leid mit spiritueller Tugend gleichsetzt, schwelgt Scorsese weder in einem Blutrausch von Gewaltdarstellungen, noch predigt er das Wort des einen oder anderen Gottes. Silence ist einer von diesen seltenen theologischen Filmen, die Raum für gravierenden Zweifel lassen. Es ist gleichzeitig eine Bejahung des Glaubens und eine Demontage desselben. Während Rodrigues’ Ergebenheit bewundernswert ist, beginnen wir seinen Wunsch, Christus nachzuahmen, in Frage zu stellen. Ist er vielleicht nur stur? Oder anmaßend? Warum nicht einfach einmal auf das Bild Jesu treten? Andrew Garfield scheint zunächst der falsche Schauspieler für die Rolle zu sein, aber er ist genau der richtige. Es ist der zweite Film nach Hacksaw Ridge, in dem der Brite einen gottesfürchtigen Bibelfreund spielt, und erneut gelingt es ihm, einen gewaltigen Film auf seinen Schultern zu tragen. In Mel Gibsons Kriegsfilm-Passion spielte er einen quasi-messianischen Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg, der sich der Gewaltlosigkeit verschrieb, aber den Krieg implizit unterstützte. Das Gleiche könnte man über Rodrigues sagen, der sich der Liebe verschrieben hat, aber Folter zulässt. In Hacksaw Ridge waren die Japaner nicht viel mehr als grausame Wilde, während Silence ihnen Argumente und Persönlichkeiten gibt. Die Japaner verstehen die Verfolgung der Christen als eine konsequente Antwort auf die westliche Kolonialisierung und die Arroganz der Kirche. Es ist unmöglich, nicht an die Kreuzzüge und an die Inquisition zu denken, in denen die Rollen der Folterer umgekehrt waren. In den japanischen Schauspielern findet der Film außerdem eine Stärke. Kubozuka Yôsuke ist ein Mann, dessen Loyalitäten sich ständig verlagern; Oïda Yoshi und Tsukamoto Shinya, selbst ein prominenter Filmemacher, spielen fromme Dorfbewohner. Asano Tadanobu spielt einen bedrohlichen Dolmetscher, und Ogata Issei, ein populärer Komiker in seinem Heimatland, verkörpert den egozentrischen Richter.

Opernhaft

Das soll aber nicht heißen, dass Silence objektiv ist. Das ist es nicht. Der bereits verstorbene japanische Schriftsteller Endô Shûsaku schrieb seinen Roman „Chinmoku” („Schweigen“) im Jahr 1966 aus der Sicht eines japanischen Katholiken, der er nun einmal war. Er schrieb auch die Filmadaption von 1971, die von Shinoda Masahiro gedreht wurde. Scorsese seinerseits hat seinen Katholizismus niemals offener und umstrittener verfilmt als in The Last Temptation of Christ (1988), einem Passionsfilm, der Proteste unter konservativen Christen auslöste, vor allem wegen einer Liebesszene zwischen Jesus und Maria Magdalena. 28 Jahre später hat der Vatikan Scorseses Silence nicht nur ins Herz geschlossen, sondern auch die Vorpremiere ausgerichtet. Der Amerikaner hatte sich für die Adaption von Endos Werk seit 1988 interessiert, seitdem er den Roman gelesen hatte, doch es dauerte fast drei Jahrzehnte, bis er sein Prestigeprojekt, das er gemeinsam mit Jay Cocks (Gangs of New York) auch selbst schrieb, verwirklichen konnte. Silence wird nach The Last Temptation of Christ und Kundun (1997), einem Porträt des Dalai Lama, als dritter Film in einer inoffiziellen Glaubenstrilogie des 74-jährigen Regisseurs gesehen, aber ist beiden überlegen.

Handwerklich gesehen ist Silence ein weiteres Meisterwerk Scorseses – auch dank Rodrigo Prietos Kameraarbeit und Dante Ferrettis Produktionsdesign und Kostümen, die ein schönes und hartes grünblaues Land von Bergen, Feuer, Wasser, Höhlen und Nebel schaffen. Er ist optisch atemberaubend, provokant und so intensiv wie eine Oper, aber mit 161 Minuten auch ein Stück zu lang, bisweilen redundant  und manchmal schlicht und einfach langweilig. Man verzeiht es ihm, weil das Ganze offensichtlich von Respekt und von der Liebe für das Quellenmaterial getragen ist.

Wir alle bringen unsere eigenen Erfahrungen ein in die Filme, die wir uns ansehen, was auch bedeutet, dass wir alle etwas Anderes von ihnen mitnehmen. Selten ist dies klarer gewesen als im Fall von Silence, einem schwierigen und stillen Film über den Krieg in der Seele, den Krieg zwischen Kulturen und über den spirituellen Glauben mitsamt seiner erlösenden und zerstörerischen Kraft. „Bete ich nur die Stille an?“, will Rodrigues an einer Stelle wissen. Martin Scorsese maßt sich nicht an, zu behaupten, die Antwort zu kennen, aber er will sagen: Es lohnt sich, danach zu suchen.