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Six Million and One

Filmkritik

Six Million and One

| Oliver Stangl |

Großartige, unkonventionelle Dokumentation über die Auswirkungen der Shoah auf eine jüdische Familie

Kann man einen Film über eine der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts drehen, der sich dem Thema zwar durchaus sachlich, aber mit schwarzhumoriger Note nähert? Sieht man David Fishers hervorragende Dokumentation, muss man diese Frage eindeutig mit „Ja“ beantworten. Der israelische Regisseur, Jahrgang 1956, fand nach dem Tod seines Vaters Joseph dessen Memoiren, in denen dieser über seine Zeit in verschiedenen Konzentrationslagern – darunter Auschwitz, Mauthausen, und Gusen – schrieb. Fishers Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester, wollten sich den grauenhaften Erinnerungen zunächst nicht stellen, doch der Regisseur konnte sie schließlich doch noch überreden, ihn nach Österreich zu begleiten und die Lager zu besuchen. Die Dynamik und die mal mehr, mal weniger scherzhaften Anfeindungen der vier untereinander bilden das Fundament des Films und geben Six Million and One eine außergewöhnliche persönliche Note. Schon bei der Anfahrt beschwert sich einer der Brüder: „Fahren wir jetzt in ein KZ? Eigentlich sollten wir in ein Chalet in einem verschneiten Ort fahren.“ Auch bei der Besichtigung von Gaskammern („Es regnet“) oder Tunneln, die von Zwangsarbeitern gegraben wurden, gibt es Beschwerden („Du bist wahnsinnig. Sonst würde niemand auf die Idee kommen, seinen Geschwistern solche Tunnel zu zeigen. Ich brauche keinen Holocaust-Trip um zu wissen, wo meine Eltern früher waren.“). Je tiefer das Quartett jedoch in die Geschichte Joseph Fishers eintaucht, desto klarer wird auch, dass die emotionale Distanz des Vaters, der in den Lagern Unvorstellbares erlitten hatte und sich bloß nach außen hin gefasst gab, der Auslöser für die Konflikte der Geschwister war. Die Reise wird mehr und mehr zur therapeutischen Annäherung der Geschwister.

Der Vater ist durch Familienvideos und aus dem Off vorgelesene Auszüge aus seinen Memoiren präsent. „Wir sind alle Schauspieler“, heißt es darin mit Bezug auf jene Überlebenden der Shoah, hinter deren äußerlicher Fassade eine Hölle aus furchtbaren Erinnerungen brodelte. Die persönlichen Elemente ergänzt Fisher durch Interviews (ehemalige GIs, die an der Befreiung der Lager teilnahmen und bis heute traumatisiert sind; Aktivisten, die sich für die Aufarbeitung der NS-Geschichte Gusens einsetzen; Anrainer, die sich von Geschichtsinteressierten eher belästigt fühlen) und die Gegenüberstellung von Archivmaterial und aktuellen Aufnahmen – eine Überblendung, die offenbart, dass in einem ehemaligen Folterhaus jetzt eine Familie lebt, sorgt für Schaudern.

Dennoch findet der Film ein optimistisches, überaus berührendes Ende. Eine der besten Dokumentationen zum Thema Shoah, die in den letzten Jahren im Kino zu sehen waren.