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John Denver Trending

Filmfestival

Soziale Relevanz wieder gefragt

| Andreas Ungerböck |
Die Preise beim 15. Cinemalaya Philippine Independent Film Festival in Manila gingen an Filme, die etwas zu sagen hatten.

Das Cinemalaya Film Festival, das sich alljährlich im August in der philippinischen Metropole Manila (derzeit, mit Agglomerationen, rund 13 Millionen Einwohner) begibt, ist in vieler Hinsicht einzigartig. Das hervorstechendste und zunächst ein wenig verblüffende Merkmal der Veranstaltung ist, dass die zehn Langfilme und die zehn Kurzfilme, die am Wettbewerb teilnehmen, schon lange im Voraus feststehen. Der Überraschungsfaktor hält sich also in Grenzen. Bei näherem Hinsehen freilich wird das verständlich: Cinemalaya ist nämlich nicht nur ein Festival, sondern eine staatliche kulturelle Institution, die Fördermittel an – mehr oder weniger – junge Filmemacherinnen und Filmemacher vergibt, mit dem Ziel, das unabhängige philippinische Filmschaffen zu beleben bzw. eine „andere“ Art von Film neben dem doch recht, sagen wir, plakativen Kommerzkino des Landes möglich zu machen. Aber nicht nur das: Das Cinemalaya Institute ist darüber hinaus eine Ausbildungsstätte, die jungen Filmschaffenden ermöglicht, ihre ersten Schritte in den Bereichen Drehbuch, Regie und Produktionsmanagement zu machen. Filmausbildung wird auf den Philippinen offensichtlich groß geschrieben: Praktisch alle der zehn Kurzfilme im Wettbewerb waren Abschlussarbeiten aus den unterschiedlichsten Universitäten des Landes, allen voran aus der University of the Philippines.

In den wie Pilze aus dem Boden schießenden Shopping Malls und deren Kinos in der boomenden Hauptstadt dominiert, wie überall sonst auf der Welt, mediokre Hollywood-Ware (The Lion King, Hobbs & Shaw, usw.), aber die bekannt große Kinobegeisterung der Bevölkerung des Inselstaates erstreckt sich sehr wohl auch auf lokale Produkte. Das war auch beim Festival deutlich spürbar. Schon bei der Eröffnungsfeier, bei der alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Wettbewerb vorgestellt wurden, war der Enthusiasmus am Überkochen, hatte doch jede/r Filmschaffende sozusagen ihre/seine eigenen lautstarken Fans mitgebracht. Auch bei den Gala-Vorstellungen der jeweiligen Filme in den folgenden acht Tagen war die Stimmung bestens, der eine oder andere anwesende Star (etwa Ricky Davao, der am Ende den Preis als bester Nebendarsteller erhielt) konnte sich über mangelnde Aufmerksamkeit nicht beklagen. Szenenapplaus und lautstarke Zustimmung während der Vorführung sind durchaus nichts Ungewöhnliches. Das zum überwiegenden Teil junge Publikum stürmte die – ebenfalls festivalunüblichen – fünf bis sechs Vorstellungen jedes Films, und das trotz Taifuns und heftiger Unwetter, die die ohnehin schon verstopften Straßen Manilas zeitweise unpassierbar machten – schließlich ist hier im August Regenzeit.

Auch bemerkenswert: Cinemalaya reicht inzwischen weit über die Hauptstadt hinaus. Im 15. Jahr seines Bestehens spielt das Festival nicht nur im fast schon ehrwürdigen Cultural Center of the Philippines, einem nicht völlig uncharmanten Betonklotz aus der Imelda-Marcos-Ära, sondern mittlerweile auch in anderen Kinos in Manila sowie in mehreren Provinzhauptstädten, etwa in Bacolod, Iloilo oder Legazpi, und auch dort, so berichteten Augenzeugen, vor vollen Sälen. Dass die Gründung des Cultural Centers sich heuer zum 50. Mal jährt, ergab zudem einen weiteren Anlass zum Feiern. Am meisten gefeiert – kein Wunder – wurde am letzten Tag, als im Zuge einer umfangreichen Zeremonie, die auch live im Internet gestreamt wurde, die Preisträgerinnen und –träger bekanntgegeben wurden. Allein 13 Preise gab es im Langfilmbereich zu ergattern, eine Art Oscar-Verleihung also für die philippinische Indie-Szene. Allzu schwer hatte es die Jury (unter dem Vorsitz des „ray“-Herausgebers) nicht, denn vier Filme ragten dann doch deutlich über die grundsätzlich allzu sehr am Mainstream orientierte Konkurrenz hinaus.

Die Preise für den besten Film und den besten Hauptdarsteller (Jansen Magpusao) sowie drei weitere Auszeichnungen gingen an Arden Rod Condez’ Erstlingsfilm John Denver Trending, wobei der Titel nichts mit dem gleichnamigen US-Countrysänger zu tun hat, sondern mit einem 14-jährigen Jungen aus einer Kleinstadt in der philippinischen Provinz, der sich nach einer falschen Beschuldigung durch einen Schulkameraden und einem heimlich aufgenommenen Handy-Video einer unfassbaren Hass-Kampagne auf Facebook und in anderen „Sozialen“ Medien ausgesetzt sieht. So plakativ das Thema klingen mag, so subtil hat der Filmemacher es umgesetzt, und das Highlight des Films ist der zu Recht ausgezeichnete jugendliche Darsteller, der mit wachsender Fassungslosigkeit zusehen muss, welche Woge der Niedertracht über ihn hereinbricht. Seine stumme Verzweiflung, die erst von seiner Mutter durchbrochen wird, die in der Folge wie eine Löwin für ihn kämpft, lässt sich zunächst nur an seinem Gesicht ablesen – eine gewaltige schauspielerische Leistung für so einen jungen Burschen. Dass alle Versuche, die Lawine zu stoppen, letztlich vergebens sind, zumal niemand in Johns Schule auch nur einen Finger rührt, um ihm zu helfen, machen den Film zu einem aufrüttelnden Appell – und er ging dem jungen Publikum sichtlich und hörbar an die Nieren. Auch in der Publikumswertung und bei den Besucherzahlen war John Denver Trending klar die Nummer 1.

Auch die anderen drei wesentlichen Filme des Wettbewerbs beschäftigten sich, auf höchst unterschiedliche Weise, mit akuten sozialen Fragen. In Edward von Thop Nazareno steht ebenfalls ein halbwüchsiger Junge im Fokus, der in einem öffentlichen Krankenhaus in Manila seinen Vater betreut – und das ist wörtlich zu nehmen: Das Personal ist unter dem gewaltigen Ansturm und wegen der mangelden Ressourcen so unter Druck, dass die Angehörigen der Patienten im Spitalsbetrieb mitzuhelfen haben, wollen sie deren Versorgung nicht gefährden. Sie schlafen dann auch nachts unter den Betten (!) der von ihnen betreuten Kranken. Nazareno schafft es aber, über diesen deprimierenden Hintergrund hinaus eine stimmige Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen. Edward lernt auf seinen Streifzügen durch das Spital, bei denen er auch höchst unerfreuliche Beobachtungen in der Totenkammer macht, eine junge Patientin (Ella Cruz, ausgezeichnet als beste Nebendarstellerin) kennen, die offensichtlich auf der Straße lebt. Die sich anbahnende Zuneigung zwischen den beiden Jugendlichen überstrahlt, zumindest eine Zeitlang, die tristen Verhältnisse. Das knallharte Schlussbild des Films ist hingegen ein dringender Appell an die Verantwortlichen, sich den Zuständen in den öffentlichen Spitälern intensiv zu widmen.

Ein ganz anderes, wenngleich nicht weniger prekäres Milieu beleuchtet der schon erfahrenere Regisseur Eduardo Roy, Jr. in F #*@bois: die Welt von jungen Burschen, die sich mit Hilfe von Instagram-Inszenierungen, obskuren Schönheitswettbewerben und drittklassigen Model-Shows einen „Platz an der Sonne“ zu sichern erhoffen – als solcher gilt z.B. eine Nebenrolle in einer Fernseh-Sitcom. In diesem nicht sehr angenehmen Biotop leben die beiden Freunde Ace und Miko, die ein großes Problem haben, das sie vergeblich versuchen, abzuschütteln: einen hartnäckigen Verehrer in Gestalt eines lokalen Politikers (Ricky Davao, siehe oben), der eifersüchtig über sie wacht und damit droht, ein pornografisches Video, das sie vor seiner Handykamera gedreht haben, öffentlich zu machen. Er erpresst sie erneut, und so landen sie wieder in seiner pompösen Villa, wo sie ihm zu Diensten sein müssen. Diesmal jedoch eskaliert das Geschehen, und die Realität bricht harsch in die Tag- und Nachtträume der beiden jungen Männer ein. Man muss F #*@bois wirklich für seinen Mut bewundern, mit dem er in die schaurig-schöne Glitzerwelt der billigen Shows abtaucht und vor allem für seine unerschrockene Behandlung des Tabu-Themas sexuelle Ausbeutung (zumal einer der beiden Jungen noch minderjährig ist). Eduardo Roy, Jr. wurde dafür auch mit dem Preis als bester Regisseur bedacht.

Auch Iska von Theodore Boborol wurde mit zwei der wichtigen Auszeichnungen bedacht, jene für das beste Drehbuch (Mary Rose Colindres) und jene für die beste Hauptdarstellerin: Ruby Ruiz spielt in einer wahren Tour de force eine aufopfernde Großmutter, die in einem dicht besiedelten, armen Viertel von Manila versucht, ihren autistischen Enkel – wahrlich kein einfaches Kind – mit Würde zu erziehen, und das, obwohl sie kurz davor ist, ihren ohnehin kargen Job zu verlieren, ihr Mann ein übler Taugenichts ist, der das wenige Geld auch noch aus dem Fenster wirft, und obwohl ihre Tochter, die Mutter des Jungen, einfach abgehauen ist. Iska beeindruckt nicht nur mit dieser starken Frauenfigur, sondern mit der Authentizität des sozialen Milieus (viele der Darsteller sind Laien aus dem Viertel, in dem gedreht wurde) und einer, nun ja, recht deftigen Sprache, die, wie die philippinischen Jurymitglieder versicherten, mitten aus dem Leben gegriffen ist.

Zu ergänzen ist noch, dass der Preis für den besten Kurzfilm an die junge Filmemacherin Josef Dielle Gacutan für ihre schöne Arbeit Please Stop Talking ging – eine handgezeichnete, animierte Geschichte über einen Vater-Sohn-Konflikt, die wohltuend aus dem übrigen Angebot an doch eher mittelprächtigen narrativen Kurzfilmen herausstach. Und, dass sich die zweite Jury, die in Manila am Werk war, nämlich die von NETPAC (Network for the Promotion of Asia Pacific Cinema) ebenfalls von den Qualitäten von John Denver Trending überzeugen ließ. Auch von ihr wurde Arden Rod Condez‘ Arbeit als bester Langfilm ausgezeichnet.

Am Ende der Preisverleihung, so schien es, waren alle glücklich: die Preisträgerinnen und Preisträger ebenso wie die mitgekommenen Fanclubs und das Publikum, die gesamte Festival-Crew, angeführt vom charismatischen Direktor Chris B. Millado, die sich über eine rundum gelungene Veranstaltung freuen durfte, und die Jurorinnen und Juroren, die eine erfüllte Festivalwoche mit zahlreichen wunderbaren Begegnungen und vielen neuen Erkenntnissen erleben durften. Nicht zu vergessen: die zehn Kurzfilm- und die zehn Langfilmfinalistinnen und Finalisten für 2020, denn diese stehen jetzt schon fest. Sie müssen jetzt bloß noch ihre Filme für den nächstjährigen Wettbewerb drehen.

www.cinemalaya.org