Während der Corona-Krise waren Videospiele eine gute Gelegenheit, die Realität beiseite zu schieben. Das zeigen auch Rekorde bei den Zugriffszahlen. Doch die Games-Branche spielt sich eben nicht nur in-game ab. Von Eskapismus und einem etwas anderen Spielejahr.
Die eigenen vier Wände hat in den letzten Monaten jeder zur Genüge erkundet und geputzt. Seit Mitte März verbringen viele Menschen weltweit ihren Arbeitsalltag zuhause. Und dieser ist starken Veränderungen unterworfen, etwa durch Kurzarbeit oder sogar Arbeitslosigkeit. Eine Zeit der Ungewissheit, der man zu gern entfliehen möchte. Wer nicht liest, stürzt sich über diverse Streamingdienste in den nächsten Serienmarathon – oder verliert sich in der virtuellen Realität. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Inselbesuch? Das dachten sich im April immerhin 3,6 Millionen Spieler, als sie Nintendos Animal Crossing: New Horizons auf digitalem Wege erwarben und die Inselsimulation auf Platz 1 der umsatzstärksten Konsolenspiele im April 2020 hoben. Damit soll es ganz nebenbei sogar zum bisher stärksten Online-Titel der Nintendo Switch geworden sein.
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Games bieten vielseitige Möglichkeiten, die eigenen Sorgen zu vergessen. Egal ob Abenteurer, Sammler oder Planer: Im Reich der Videospiele kann jeder für sich passende Genres und Geschichten entdecken. Dieses reichhaltige Angebot wird angenommen, wie aktuelle Entwicklungen zeigen. „Steam, die marktführende Internet-Vertriebsplattform für elektronische Spiele, verzeichnete durch Covid-19 ein Allzeit-Hoch mit über 20 Millionen Menschen, die zeitgleich spielen. Weiterhin verbuchten die Spiele-Apps außergewöhnlich hohe Download-Zuwächse“, sagt Lutz Anderie, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Frankfurt University of Applied Sciences und zählt große Softwareentwickler und Publisher zu den Krisen-Gewinnern. Dieses Hoch gilt auch für ältere Titel, etwa vom Entwickler Riot Games. Laut den Analysten von SuperData, das sich auf das Tracking im Games-Bereich spezialisiert hat, verzeichnete dessen Multiplayer Online Battle Arena (MOBA) League of Legends die höchsten Spielerzahlen seit 2017.
An diesen Ergebnissen sind Spieler aller Geschlechter und Altersgruppen beteiligt, auch hierzulande. Die vom Österreichischen Verband für Unterhaltungssoftware ÖVUS initiierte Studie „Gaming in Österreich 2019“ zeigte im Dezember des letzten Jahres, dass eine beachtliche Zahl von 5,3 Millionen Österreicherinnen und Österreichern Videogames spielt, also mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Das Durchschnittsalter von 35 Jahren ist die Goldene Mitte zwischen den am stärksten eingeschätzten Gruppen der Jugendlichen und über 50-Jährigen. Auch hier ist ersichtlich, wie divers Videospiele sind. Wer direkt an Controller oder Maus und Tastatur denkt, vergisst schnell das Smartphone, das der Studie zufolge aber das am stärksten genutzte Endgerät zum Spielen ist. Manchmal als „Casual Gaming“ belächelt, weil die mobilen Spiele oft weniger komplex und eher was für zwischendurch sind, sind sie doch besonders eng mit unserem Alltag verknüpft.
Die Gamesbranche wurde aufgrund der schönen Ergebnisse schon vielerorts als Gewinner der Krise bezeichnet. Der Boom soll ein gutes Vorzeichen sein. Er zeigt, dass die gesparten Arbeitswege und Arbeitsstunden bereitwillig in die Produkte der Branche investiert werden. Immerhin machen sie auch das möglich, was viele sich während der Ausgangsbeschränkungen so sehr gewünscht haben: Kontakt. Ein Miteinander. Dazu startete sogar die Weltgesundheitsorganisation WHO eine passende Initiative. Ein Jahr, nachdem sie die Spielsucht offiziell als Krankheit anerkannte und damit für Diskussionsstoff in der Branche sorgte, spricht sie sich nun mit der Kampagne „Play Apart Together“ für digitale Spiele aus. Teil davon waren zu Beginn 18 Publisher, darunter beispielsweise Activision Blizzard (Overwatch, World of Warcraft), die nicht nur Gratisangebote machten, sondern auch die Gesundheitshinweise verbreiteten und den Spielern so näherbrachten.
Das gemeinsame Spielen fängt beim Kniffeln mit der Familie über die Webcam an und erstreckt sich bis zu den größten Gaming-Communities. Vor allem Online-Multiplayer profitieren davon. League of Legends, das im eSports-Bereich auch echte Arenen füllt, führt die von SuperData veröffentlichte Liste der umsatzstärksten PC-Spiele im April 2020 an. Und das, obwohl es eigentlich Free-To-Play ist.
Damit kommen wir auch zu einem Knackpunkt der Boom-Theorie. Hohe Spielerzahlen bedeuten nicht zwingend einen Gewinn, auch wenn es bei League of Legends offenbar geklappt hat. Denn nicht jedes Spiel wird auch tatsächlich gekauft. Free-To-Play-Titel zeichnen sich, wie der Name schon sagt, dadurch aus, dass sie für jeden zugänglich sind. Wer In-Game-Käufe tätigt, kann beispielsweise schneller vorankommen oder das Design der Figuren verändern. Aber sie sind eben nicht notwendig, um zu spielen. Auch wenn Mikrotransaktionen mittlerweile einen großen Teil der Einnahmen der Branche ausmachen, sind sie aus Konsumentensicht wohl am ehesten verzichtbar. Vor allem wenn die Welt in eine Rezession schlittert und sich die Vielzahl der Betroffenen gut überlegen muss, wo investiert wird.
Die Games-Branche bietet Spielern in der aktuellen Situation natürlich angepasste Möglichkeiten – als Zeichen der Solidarität, vermutlich aber auch nicht ganz uneigennützig. Wer sich zwei Monate bei Googles Gaming-Dienst Stadia anmelden kann, ohne zu zahlen, bleibt vielleicht dran. Nutzer der Abo-Angebote von Sony und Microsoft kennen bereits mehrere Gratis-Spiele im Monat. Dem gleichen System folgt auch Ubisofts Vertriebs-Plattform Uplay, die mit zusätzlichen kostenlosen Titeln für den späteren Selbstbehalt einen Anreiz setzte und damit parallel ein indirekter Teil der WHO-Kampagne wurde. Dieses Segment des Cloud-Gaming wächst zusehends.
Damit kommt man direkt zu den großen Akteuren der Branche. Mit etablierten Titeln wie Rayman oder Assassin’s Creed lassen sich Spieler locken. Was ist mit den kleineren Unternehmen? Die Wahrheit ist, dass wie in jeder Branche nicht nur große Fische im Teich schwimmen. Am Beispiel Österreich zeigt sich das deutlich. „Man muss ehrlicherweise sagen: Als Entwicklungsstandort war Österreich schon mal lebendiger“, sagt ÖVUS-Vereinspräsident Niki Laber. Nach der Schließung von Rockstar Vienna 2006 machten sich zwar viele frühere Mitarbeiter von dort selbstständig, und österreichische Spiele-Unternehmen wie Mi’pu’mi (Hitman) und die Moon Studios (Ori and the Blind Forest, Ori and the Will of the Wisps) konnten international Erfolge feiern. Doch Herausforderungen wie die hohen Standortkosten sind nicht ohne. „Während in den Nachbarländern die Ansiedlung von Entwicklerstudios gefördert wird, gibt es hierzulande keine vergleichbaren Förderprogramme. Ganz generell nehmen die Produktionskosten für Videospiele mit jeder Konsolengeneration – und die nächste steht vor der Tür – rasant zu. Immer leistungsstärkere Hardware verlangt nach immer aufwendigeren Entwicklungen. Und trotzdem sollen die Spiele nicht teurer werden.“
Die Kleinen haben es in der Krise besonders schwer. Was tun, wenn eben noch kein umsatzstarkes Spiel am Markt platziert ist? Auch wenn es Entwickler gibt, die von daheim arbeiten, mussten viele eben auch erstmal ins Home Office ziehen. Für eine innovative und ohnehin digitale Branche ist der Schritt vielleicht kleiner als für andere. Hürden gibt es dennoch. Dazu gehören leistungsstarke Geräte, die transportiert, Geheimhaltungsregelungen, die gewahrt werden müssen. Kommunikation inmitten einer Situation, die nicht wenigen auch psychisch einiges abverlangt. Das trifft jeden, auch wenn es bei den Produkten um Spiel und Spaß geht. Niki Laber stimmt dem zu: „Die Videospielbranche hat sich die Vorteile der Digitalisierung sehr früh zunutze gemacht und davon während Corona sicher profitiert. Denken wir an eSports-Events, die online auch während der Krise stattfinden konnten, oder Spieleentwickler, die einfach im Home Office weiterarbeiten konnten. Ich glaube aber auch, dass es für ein Fazit noch viel zu früh ist. Ja, im Vergleich zu Branchen wie Tourismus, Gastronomie oder Einzelhandel, die Corona voll getroffen hat, ist die Videospielbranche bis jetzt vergleichsweise glimpflich durch die Krise gekommen. Aber die wirtschaftlichen Folgen der weltweiten Lockdowns sind noch lange nicht ausgestanden.“
Für die Spieler bedeutet dies in erster Linie einige Verschiebungen der Veröffentlichungsdaten. Mit Spannung wird da vor allem auf die komplett neue Konsolengeneration geschaut, die Ende des Jahres das Licht der Welt erblicken soll. Sonys PlayStation 5 ist ebenso wie Microsofts neues Flaggschiff, die Xbox Series X, noch für 2020 vorgesehen. Beides soll sich nach aktuellem Stand nicht ändern.
Was sich in diesem Jahr aber definitiv anders anfühlen wird, ist die Messezeit. Die großen Events wie die E3, gamescom und GDC werden digital stattfinden. Mit Streams zu arbeiten, um die Informationen zu den Neuheiten zu verbreiten, scheint aufgelegt. Doch etwas fehlt. Wer weiß, wie schnell beispielsweise die Tickets für die gamescom ausverkauft sind, kann sich viele enttäuschte Gesichter und, aus Branchensicht gesprochen, einige Umsatzeinbrüche vorstellen. Eintrittskarten werden nicht gekauft, Hotels nicht gebucht, Messestände nicht gebraucht. Mitglieder der Branche haben keine Möglichkeit des persönlichen Netzwerkens, während Besucher ein Event vermissen, bei dem Spiele oft erstmals für sie greifbar und spielbar werden. Es geht auch um Vorfreude, um einen Hype und die Begeisterung für das Medium Game.
Schöne Zahlen sind also nur eine Ebene der Gesamtsituation. „Die Videospielbranche wird sich von der weltweiten Wirtschaftsentwicklung nicht abkoppeln können. Alles hängt davon ab, ob die Konjunktur- und Hilfspakete die wirtschaftlichen Auswirkungen werden abfedern können. Insofern halte ich es für nicht so entscheidend, ob in der Sekunde ein paar Spiele mehr oder weniger verkauft werden, sondern wie sich die Weltwirtschaft weiterentwickelt“, endet ÖVUS-Vereinspräsident Niki Laber. Die Games-Branche also als absolutes Glückskind dieser Zeit zu sehen, ist eher verwegen.