Der Spielfilm „Tag und Nacht“ beobachtet den Kontrollverlust eines Lebens. Lea und Hanna, zwei befreundete Studentinnen, gehen auf den Strich. Während sich sexuelle Devianzen häufen, verlieren die beiden den Fokus ihres Handelns.
Für die Heirat ihrer Schwester verkleidet sie sich. Lea (Anna Rot) zieht sich biedere Klamotten, braune Mokassin-Halbschuhe an und stellt sich zur versammelten Hochzeitsgesellschaft. Sie fühlt sich etwas verloren hier, die Mutter (wo ist der Vater?) sagt ihr, dass sie stolz sei – auf die Schwester. Am Abend dann das Fest, alle besaufen sich. Das empfinden alle als selbstverständlich, keine Normüberschreitung. Später schlüpft Lea aus ihrer Camouflage, schießt scharf gegen ihren (karrieremäßig) tüchtigen Ex- Freund und wehrt dessen Annäherungsversuche ab. Er sei ein Egoist und er könne ja bezahlen für Sex, so wie die anderen auch. So sei das jetzt bei ihr.
Es gibt eine ganze Reihe von Szenen in Sabine Derflingers neuem Spielfilm Tag und Nacht, in denen bereits die gesamte Problematik dieser Erzählung (Drehbuch: Eva Testor) steckt. In einer als fremd empfundenen Umwelt finden die zwei Studentinnen Lea und Hanna (Magdalena Kronschläger) keinen Platz für sich selbst. Was folgt, ist ungerichteter Protest und eine Sehnsucht, die auf zunehmend problematische Weise eingelöst wird. Die beiden Freundinnen beginnen für einen Escort Service zu arbeiten, isolieren sich aber nur noch stärker in einem nunmehr zugespitzten gesellschaftlichen Umfeld. Da gibt es die Strebsamen und Normalos wie Leas Ex, Hannas neuen Studienfreund und ein paar Freunde. Sie alle bleiben Randfiguren in dieser Dramaturgie. Und dann gibt es die aus dem Schattenreich, Verlierertypen wie den Zuhälter und Agentur-Chef Mario (Philipp Hochmair) und ein paar Klienten mit eigenwilligen Fantasien oder einfach nur unangenehme Typen, deren Frust sich an den beiden Frauen entlädt. Für die Körperkontakte, die in diesem Film fast ausschließlich in Geldbeziehungen stattfinden, setzt Derflinger einige explizite Bilder ein, ohne darüber den Fokus ihrer Erzählung zu verlieren. Einerseits handelt Tag und Nacht von zwei Freundinnen, in deren Leben sich die Aussicht auf schnelles Geld und ein bisschen Abenteuer mit der Frage verbindet, was sie mit ihrem Leben eigentlich anstellen wollen. Als Lea mit dem Escort-Chef (ökonomisch machtlos, protzig als Boss) auf den Deal anstößt, trifft Cocktail-Glas auf Bierdose. Immer wieder tauchen in diesem Film solche Zeichen auf, die den formulierten Erwartungen widersprechen. Als Name für das Escort-Service leuchtet bei Anrufen am Handy „Reichtümer“ am Display auf. Andererseits entzündet sich Tag und Nacht beständig neu an der Frage nach den Kontrollmöglichkeiten im Leben, primär über das eigene, aber damit immer auch über das der Anderen. Der Zweifel, wie sehr die beiden das Geschehen noch bestimmen, nimmt im Lauf der Handlung immer geringeren Raum ein. Der Treuepakt der beiden Frauen, zu Beginn noch optimistisch vereinbart, verwandelt sich sukzessive zur Notgemeinschaft. Die anfängliche Frage an die bereits vom Leben gezeichnete Partnerin des Zuhälters „Darf ich auch etwas ablehnen?“, stellt sich später nicht mehr. Während das Drehbuch Abzweigungen Richtung Berufsausbildung anbietet (Aufnahmeprüfung zur Schauspielausbildung, Kunstgeschichtestudium), werden diese nicht genutzt, ja geradezu ängstlich abgewehrt. Die Gründe dafür macht der Film nie explizit, beschränkt sich darauf, die Folgen des Geschehens zu zeigen: Mit wachsendem Fatalismus begegnen die Frauen einer neuen Realität, durch die nichts gelöst, sondern neue Probleme geschaffen wurden. Die kurze Begegnung mit einer Freundin auf dem Spielplatz, wo diese über ihr privates Glück spricht, zeigt an den kritischen Reflexen, dass hier kein Modell für das eigene Leben angeboten wird. In Tag und Nacht wollen zwei Frauen Ansprüchen genügen, die immer viel zu hoch sind. Der Versuch ökonomischer Autonomie durch Prostitution ist eine der Paradoxien dieser Erzählung.
Auch wenn Sabine Derflinger über die Devianz sexueller Kontakte auf teils derbe Bilder zurückgreift, bleiben die Klienten inhaltlich auf kluge Weise Staffage in diesem Film. Ein Unternehmersohn mit Infantilwünschen; ein alter Herr mit BH unter dem Anzug; oder, sehr pointiert, ein Manager, der auf lächerliche Weise pudelnackt in der Hotelsuite seine Macht demonstriert, wenn er einen Anrufer am Handy niedermacht, um dann seine sehr männliche Performance bei Lea und Hanna fortzusetzen. All diese Stationen werden letztlich nur als Grenzsteine für die beiden Frauen bedeutsam, um ihren Weg, ihre eigene Lage, immer wieder zu prüfen. Die Befunde wie auch das Ziel bleiben dabei dennoch vage. Bemerkenswert ist Derflingers Umgang mit inhaltlich, aber auch repräsentationstechnisch belasteten Bildern wie diesen. Zwei Studentinnen auf dem Strich, das klingt nach bekannten Perspektiven. Tatsächlich agiert Derflinger sehr sicher, indem sie eine eigene Ästhetik entwickelt. Sie hält einzelne Szenen auf Distanz, reguliert, wenn nötig, über eine knappe Montage (Schnitt: Karina Ressler), versucht so, exploitative Bilder zu vermeiden. Keine Angst vor Naturalismus beweisen auch die Darstellerinnen und Darsteller, insbesondere Anna Rot und Magdalena Kronschläger, die dem Sujet des Films zudem eine ausgesprochen vitale Performanz entgegensetzen.
Über die Vorbereitungen zur Produktion erzählt Derflinger, sie habe ausführlich recherchiert: sich mit Frauen und Studentinnen getroffen, die mit Prostitution Erfahrung haben, Bordelle besucht und Pornos geschaut, um über aktuelle Trends Bescheid zu wissen. Versuche, um die Erzählung mit einer bestimmten Haltung auszustatten, um die Machtfrage zwischen Männern und Frauen deutlich zu machen. Die Visualisierung der sexuellen Handlung sei dabei ein besonderer Punkt gewesen. Derflinger: „Es gibt viele Filme, die zeigen das Davor und das Danach. Ich dachte, es geht darum, einfach zu zeigen, was überhaupt vor sich geht. Vielleicht empfinden das manche Zuseher als drastisch. Aber Geschehen in den Bildern absichtlich auszusparen, hieße für mich, Prostitution zu mystifizieren. Ich wollte aber die Banalität der ganzen Angelegenheit zeigen. Die Mystifizierung entsteht genau aus dem ausgesparten Blick, aus einem damit geschaffenen Geheimnis. Ich habe also versucht, diese Arbeit so zu begreifen und darzustellen, wie man es etwa mit Arbeit in der Fabrik macht. Da geht es um technische Abläufe, Handgriffe, auch wenn der Körper hier eine besondere Rolle spielt. Wichtig ist mir der Gedanke, dass es um einen Arbeitsprozess geht, der Menschen formt und verändert. Ob diesbezüglich Tabus bestehen, war mir egal.“
Tag und Nacht ist der dritte Spielfilm, den Sabine Derflinger für das Kino produziert hat. Bereits mit Vollgas, der das so genannte österreichische Filmwunder vor mittlerweile zehn Jahren mitbegründet hat, brachte die Regisseurin deutlich ihre Vorstellung von Film ein. Realismus ist eines der zentralen und verbindenden Motive ihrer Arbeit. Vielfach spielen Frauen die Hauptrolle. Die Suche nach einer möglichst lebensnahen Erzählung prägte Derflingers Verständnis von Film von Beginn an. Nach einigen sozialkritischen Kurzfilmen und einem Porträt der Band Rounder Girls (1999) ging die gebürtige Oberösterreicherin für ihren ersten Spielfilm nach Tirol, um dort in einem Hotel mitten im Hochbetrieb zu drehen. Vollgas (2001) folgt einer jungen Frau (Henriette Heinze), deren rastloses Leben zwischen Kellnerin, Mutterschaft und Party aus den Fugen zu geraten droht. Relativ ungewöhnlich war, wie Derflinger die Perspektive einer Arbeitenden aus der pittoresken Landschaft herauslöste und konsequent zwischen Arbeitsstress und Überforderung verengte.
Es folgten unter anderem der Krimi Kleine Schwester (2003) für das deutsche Fernsehen und Eine von 8 (2008), das Porträt zweier krebskranker Frauen. Dafür verzichtete Derflinger großteils auf die Kontrolle über die Bilder, gab Marijana Gavric und der kurz nach der Premiere verstorbenen Schauspielerin Frederike von Stechow eine Kamera und ließ sie selbst entscheiden, welchen Blicken sie sich aussetzen wollten. Mit der bewusst gelackten Großbürger-Farce 42plus sprengte sie die Hegemonie spröder heimischer Realitäten und setzte auf forciert künstliche Oberflächen, zu denen mit Claudia Michelsen, Tobias Moretti und Ulrich Tukur auch der fernsehaffine Cast passte. Das Drehbuch für diese Dor-Film-Produktion verfasste Derflinger gemeinsam mit dem Dänen Mogens Rukov, Co-Autor von Thomas Vinterbergs Das Fest. 42plus überzeugt durch seine nahezu unikate Position im heimischen Filmschaffen und führte zu teils heftigen Reaktionen. Es gab zwar keine Drohbriefe, es setzte aber Beschimpfungen, und manche Leute wechselten, so Derflinger, die Straßenseite, um der Filmemacherin nicht zu begegnen: „Damals haben einige Kritiker offenbar die absichtsvolle milieuspezifische Künstlichkeit des Films nicht verstanden, oder er hat einfach nicht in die aktuelle Mode gepasst. Für viele gibt es offenbar nur eine Form von Film, ich lehne diese Art von Religiosität aber ab.“
Derzeit hat Derflinger mehrere Projekte in Arbeit. Der nächste Spielfilm Favoriten ist als überdrehte Komödie in Wien – und zu einem kleinen Teil in Berlin, dem Zweitwohnsitz Derflingers – angelegt. Darin sollen kulturelle Stereotype aufgegriffen werden. Eine kühle deutsche Geschäftsfrau, ein türkischer Fußballspieler, ein xenophober Favoritner Friseur und ein Rudel von Hunden treffen hier aufeinander. Um Langzeitarbeitslose geht es in Hot Spot, einem Dokumentarfilm, bei dem Derflinger im laufenden Projekt die Regie von Michael Seeber übernommen hat. Im Restaurant Michls nahe dem Rathaus in Wien soll der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt, sozialarbeiterisch betreut, gelingen. Der Film begleitet drei Personen über einen längeren Zeitraum, von der konkreten Ausbildung in der Küche und im Lokal über individuelle Strategien des Umgangs mit ihrer Situation, thematisiert aber auch den Sinn und Unsinn unseres Arbeitssystems. Ein Projekt, in dem die eigene Familie durchleuchtet wird, führte Derflinger eben für eine Drehwoche in die USA. Dort traf sie auf die mittlerweile betagte Tochter eines jüdischen Ehepaares, dessen Haus in Linz zur Zeit des Nationalsozialismus „arisiert“ wurde. Nutznießerin war seinerzeit Sabine Derflingers Großmutter, nun versucht die Filmemacherin in einem Porträt zweier Familien, diese Hintergründe aufzuarbeiten. Die Frage des Realismus wird hier auf ganz neue Weise zu stellen sein.