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Tage oder Stunden

| Gerhard Midding |

Ein Familienvater unternimmt unvermittelt den Versuch, sein bisher so harmonisch verlaufendes Leben zu zerstören.

Letzthin hat er sich in seinen Filmen als Zeremonienmeister des gepflegten Wohllebens gefallen. In Ein Sommer auf dem Lande und Dialog mit meinem Gärtner geriet die pastorale Beschaulichkeit zu einer nachgerade moralischen Kategorie: Die Harmonie blieb ungetrübt, die Freundschaft beständig. Wie nur geht ein solches Regietemperament mit dem Unerträglichen um? Sollte Jean Becker überhaupt fähig sein, die Herausforderung anzunehmen, die der Protagonist seines neuen Films darstellt? Antoine (Albert Dupontel) schickt sich an, an seinem 42. Geburtstags dem bisherigen, wohlgeratenen Berufs- und Familienleben den
Garaus zu machen und dabei jede Regel von Anstand und Feingefühl zu verletzten. Man sollte den Regisseur jedoch nicht unterschätzen, schließlich hat er in vergangenen Zeiten mit Ein mörderischer Sommer der Lust am Massaker gefrönt.

Nun spielt er auf einer Klaviatur, deren Tonlage stetig wechselt. Dass Antoine aus der Werbebranche aussteigen will, mag man noch nachvollziehen. Dass er sich als Ehebrecher entpuppen könnte, nimmt man gelassen hin; schließlich ist es ein französischer Film. Als er jedoch seine Kinder demütigt, möchte man schnellstmöglich die Reißleine ziehen. Wie fahrlässig er seine Frau (Marie-Josée Croze) behandelt, verdient ohnehin wenig Sympathie. Bei der Überraschungsparty, die sie zu seinem Geburtstag gibt, beleidigt er die Gäste und reißt ihnen reihum die Maske bürgerlicher Selbstgewissheit herunter. Wenn es Becker angesichts dieses Entlarvungsfurors mulmig geworden sein sollte, verbirgt er es blendend. Aber Verbitterung und Zynismus werden bei ihm nicht das letzte Wort behalten. Die Wahrheiten, mit denen Antoine Familie und Freunde konfrontiert, sind nicht unwiderruflich. Es ist eine Oberfläche, die er angreift, tiefere Abgründe bleiben schonungsvoll unangetastet. Denn sogleich bricht die Zeit der Erklärungen an, die Becker gar nicht offenkundig genug sein können. Antoine sucht Zuflucht bei seinem Vater in dessen britischem Exil, um ihn zur Rede zu stellen. Das Trauma, das dabei bewältigt werden muss, ist recht banal: Nach dem Tod der Mutter hat er den damals gerade 13 Jahre alten Antoine zurückgelassen. Dies ist freilich nicht die letzte Volte, um den unfreiwilligen Misanthropen Antoine endgültig zu entlasten. Sie zu verraten schickt sich nicht, wenngleich sie keine wirkliche Überraschung bereithält. Beckers Dramaturgie der revidierten Gewissheiten ist letztlich eine der Beschwichtigung: Antoine ist eine Figur, die am Ende nicht geläutert werden muss, sondern bedauert werden darf.