Der radikale Filmemacher Yorgos Lanthimos zu seiner emotional chirurgischen Arbeit „The Killing of a Sacred Deer“.
Ein freiliegendes, pumpendes menschliches Herz – in den Händen eines Chirurgen. Das erste Bild in The Killing of a Sacred Deer, dem jüngsten Film des griechischen Regie-Auteurs Yorgos Lanthimos, kann als ikonisch für dessen Arbeitsweise betrachtet werden. Die Emotionen der seltsamen Spezies Mensch untersucht Lanthimos nämlich mit der Schärfe eines Skalpells. Mit der kühlen Präzision eines Operateurs unter klinisch sterilen Bedingungen, mit dem analytischen Blick eines Soziologen und mit der Radikalität eines kompromisslosen Künstlers durchforscht er das merkwürdige Verhalten geschlechtsreifer Großstädter zur verordneten Paarungszeit (The Lobster, 2015), lebende Tote als Personal einer Trauer-Moritat (Alpis, 2011) oder den ganz normalen Wahnsinn einer zwangsneurotischen Familie (Kynodontas/Dogtooth, 2009).
Lanthimos begann seine Karriere mit Werbefilmen und Musikvideos. 2004 gehörte er dem Team an, das die Eröffnungs- und Abschlussfeier der Olympischen Spiele in seiner Homebase Athen konzipierte. Mit Kynodontas stieg er senkrecht in den Olymp des gegenwärtigen Autorenkinos auf, inzwischen hat er für seine imposanten Filme jede Menge Medaillen gewonnen: nationale Filmpreise, Drehbuchpreise in Cannes und Venedig, den Europäischen Filmpreis, zwei Oscar-Nominierungen. Für das jüngste Familiendrama The Killing of a Sacred Deer gab es für Lanthimos und seinen langjährigen Ko-Autor Efthymis Filippou beim Filmfestival in Cannes 2017 einen weiteren Drehbuchpreis.
Wie in allen ihren Filmen entwerfen die beiden in The Killing of a Sacred Deer eine surreale Situation, der sich ihre Protagonisten dann wie in einem Rollenspiel mehr oder weniger hilflos anzupassen versuchen. Kaum kennen die Spielfiguren (und die Zuseher) sich einigermaßen mit den Regeln des Spiels aus, entwickeln die Dinge ein Eigenleben und laufen also aus dem Ruder, was wiederum den gnadenlosen Witz, der Lanthimos’ Tragikomödien innewohnt, weiter einschwärzt und pervertiert. In diesem Fall handelt es sich um eine Ärztefamilie, deren formelhaftes Vorstadtidyll von einem Halbwüchsigen bedroht wird. Der vordergründig harmlos wirkende Martin (exzellent gecastet: Barry Keoghan) schleicht sich in das Leben des Chirurgen Steven (der wie in The Lobster hübsch unterspielende Colin Farrell) und seiner Gattin Anna (Nicole Kidman) ein, freundet sich mit deren Sohn an und verführt deren Tochter, nur um alsbald ein gewaltiges Opfer von der Familie zu fordern.
Ein Nachtmahr bei hellichtem Tag entfaltet sich, hier deutlich wie noch nie bei Lanthimos auch manifest in Spuren von Splatter, der ein wenig an den frühen Body Horror eines David Cronenberg erinnert. (Auch Cronenberg pflegte seine armen Würmer von Filmhelden ja bekanntlich gern surrealen Umständen und unzumutbaren Torturen auszusetzen, um deren allzu menschliche Disposition umso schärfer herauszuarbeiten.) Dazu klingt in The Killing of a Sacred Deer auch eine Note Blue Velvet an, wenn hinter der bürgerlichen Normalitätsfassade allmählich das Grauen hervortritt und in lähmenden Schattierungen bis hin zum buchstäblichen Ausbluten der Charaktere führt (Beim Barte des Chirurgen: Achten Sie auf die keineswegs zufällige Metaphernquote!). Lanthimos sieht seinen wie Laborratten umherirrenden Protagonisten stets in größtmöglicher Ernsthaftigkeit, jedoch beileibe nicht ohne Augenzwinkern bei der Bewältigung unmöglich zu bewältigender Aufgaben zu – Abweichungen der Spielfiguren von den jeweiligen Regeln der filmischen Prämisse sind dabei gleichso garantiert wie der narrative Mehrwert, der sich aus dem Surplus eines abstrakten Gedankenspiels in dessen physisch konkreter Ausgestaltung in Laufbildern ergibt.
Mit einer winzigen Buchstabenverdrehung könnte der Film auch „The Killing of a Scared Deer“ heißen, also ein heiliges Opfer durch ein ängstliches ersetzen. So oder so, die Hölle ist nebenan: Fleischlich und brutal, aber auch eingängig wie nie lässt Lanthimos die menschliche Komödie als existenziellen Horror auf sein angstgeplagtes Publikum hereinbrechen und liefert ganz nebenbei einen Kommentar zum altgriechischen Tragödien-Motiv von Schuld und Sühne (schlag nach bei Euripides, Agamemnon und dessen Opfer-Tochter Iphigenie).
Mit The Killing of a Sacred Deer zielt Lanthimos auf mehr Breitenwirkung als mit seinen bisherigen Arbeiten, ohne dabei seine eigenwillige Autorenposition aufzugeben. So sperrig die psychosoziale Grundkonstellation wirken mag, in ihrer Essenz ist die archaische Welt dieses Films potenziell allen Menschen gleich zugänglich. Denn sind nicht alle Menschen immer schon auf der Suche nach dem Glück? Selbst wenn das Glück wie hier nur darin besteht, auf verquere Weise für ein Gleichgewicht des Schmerzes unter allen Menschen zu sorgen. Wofür aber letztlich der Patriarch Steven stehen soll, dieser vollbärtige Gott in Weiß, der zu Beginn und am Ende auf der Tonspur von Klassikern der Kirchenliturgie unterstützt wird, muss man sich schon selbst fragen. Im Übrigen gilt für The Killing of a Sacred Deer, was für alle Filme von Yorgos Lanthimos gilt: Man muss das selbst sehen, um es überhaupt glauben zu können.
Herr Lanthimos, um einen Dialog des Films aufzugreifen: Was ist Ihr Geheimnis, das Sie noch niemandem verraten haben?
Ich habe keine Geheimnisse! Ich habe alles in den Film gesteckt! (Lacht.)
Die Dialoge wirken auffallend künstlich. Was steckt dahinter?
Das würde ich so gar nicht sehen. Unsere Dialoge könnten durchaus in dieser Form im wirklichen Leben stattfinden. Aber wenn man Texte gestalterisch für einen Film zusammenfügt, scheinen sie bisweilen anders zu klingen als in der Realität. Ich hatte jedenfalls nicht die Absicht, die Dialoge bewusst künstlich ausfallen zu lassen, um damit eine Distanz zu schaffen.
Wie groß war die Absicht, das Publikum zu verunsichern?
Es war nie mein Plan, die Zuschauer zu verunsichern. Für mich und meinen Ko-Autor Efthymis Filippou beginnt ein Projekt immer mit der Frage, welche Themen uns interessieren. Dann suchen wir nach möglichen Geschichten, Situationen und Konflikten, die sich daraus ergeben könnten. Ich finde es spannend, menschliches Verhalten und Beziehungen zu hinterfragen. Wobei ich dem Publikum ausreichend Raum lassen möchte, die aufgeworfenen Debatten selbst fortzuführen. Ich stelle nur die Fragen, die Antworten soll der Zuschauer selbst finden. Wenn das zur Verunsicherung führt, umso besser. Das wäre eine großartige Reaktion.
Was war der Auslöser für diese Geschichte?
Unsere erste Idee war es, dass ein Junge die Kontrolle über einen erfolgreichen, gebildeten und selbstbewussten Erwachsenen übernimmt. Der Teenager findet einen Weg, das Leben seines Opfers vollständig zu verändern. Die Themen Rache, Schuld und Gerechtigkeit spielen eine sehr große Rolle, aber das stand zu Beginn des Projektes für uns gar nicht fest. Das hat sich alles aus der Struktur allmählich so entwickelt.
Können Sie sich vorstellen, ähnliche Rache-Phantasien zu entwickeln, wenn ein nahe stehender Mensch zu großem Schaden käme?
Das kann ich nicht sagen. Deswegen haben wir diesen Film gemacht. Ich habe keine Antworten, wenn ich solche Geschichten entwickle. Wir suchen in der Story nach einer möglichst extremen Situation und bringen sie zu einem Punkt, in dem nichts mehr weitergehrt. Dann beginnen die Fragen. Doch die muss jeder für sich selbst beantworten. Meine persönliche Meinung ist dabei völlig unwichtig.
Bieten griechische Tragödien die besten Vorlagen für Kinostoffe?
Wir hatten nie eine griechische Tragödie im Kopf. Erst im Verlauf des Schreibens wurde uns klar, dass es gewisse Ähnlichkeiten mit der griechischen Tragödie gibt. Es ist faszinierend, dass solche Fragen um Schuld und Sühne seit antiken Zeiten die Menschen beschäftigen. Und bis heute scheint es keine schlüssigen Antworten darauf zu geben.
Was hat es mit dem Titel auf sich?
Die Titel unserer Filme haben nie eine eindeutige Bedeutung. Auch hier handelt es sich mehr um eine Assoziation. In der „Verginius“-Tragödie wird zu Beginn der heilige Hirsch eines Gottes getötet, was schließlich die ganze Geschichte auslöst. Ich finde, das passt assoziativ recht gut zu einem Film, der ebenfalls von Opfer und Tod handelt.
Welche Rolle spielt der Humor für Sie?
Ohne Humor kann man solch eine Geschichte gar nicht erzählen. Ohnehin habe ich eine prinzipielle Abneigung gegen alles, was sich selbst zu ernst nimmt – insbesondere Filme. Man muss über sich selbst und seine Arbeit lachen können, erst dadurch wird die Lächerlichkeit bestimmter Situationen sichtbar. Auch in den größten Dramen gibt es immer Lächerliches und Absurdes zu entdecken, wenn man in gewisser Distanz darauf blickt. Genau dieser Abstand ist notwendig, um den richtigen Blick auf die Dinge zu bekommen.
Wie kamen Sie auf Ihre Besetzung der Rollen?
Mit Colin Farrell war es relativ einfach, wir hatten uns bereits bei Lobster sehr gut verstanden. Für den Darsteller des Teenagers haben wir Hunderte Kandidaten angeschaut, bis wir schließlich mit Barry Keoghan die perfekte Besetzung fanden – ich weiß nicht, wie der Film ohne ihn geworden wäre. Mit Nicole Kidman schließlich wollte ich schon lange arbeiten. Ich schickte ihr das Drehbuch, und wenige Tage später kam die SMS: „Ich bin dabei!“.
Was macht mehr Vergnügen bei der kreativen Arbeit: das Schreiben oder das Inszenieren?
Offen gestanden gar nichts. Alles ist mit viel Stress und Quälerei verbunden. Lediglich ganz zu Beginn eines Projektes gibt es jenen Moment, wo man glaubt, eine gute Idee zu haben. Und dass sich daraus etwas Interessantes entwickeln lassen könnte. Da hofft man, es wird ganz großartig. Aber natürlich entstehen bei der Umsetzung schnell viele Probleme. Man beginnt mit dem Dreh und stellt fest, dass man längst nicht soviel Geld und Zeit zur Verfügung hat, wie man dachte. Egal, ob das Budget größer wird, es reicht nie aus. Allerdings gibt es immer wieder kleine Momente, die man genießen kann. Es ist ein gutes Gefühl zu erleben, wenn das ganze Team auf deiner Seite steht.
War die Arbeit bei Ihren ersten Filmen vergnüglicher?
Meine ersten Filme in Griechenland habe ich mit nur fünf Freunden gedreht. Wir haben nicht viel gebraucht. Wir hatten alle Freiheiten das zu tun, was wir wollten. Jeder hat mitgemacht, weil er das Kino liebte. In einer professionellen Struktur sieht das anders aus. Klar hat man mehr Geld. Aber nun sieht das Team die Arbeit vor allem als Job. Und mehr als vertraglich vereinbart mag keiner leisten. Die Flexibilität wird dadurch schon spürbar eingeschränkt.
Sie stehen bei Festivals regelmäßig auf dem Siegespodest. Welche Rolle spielen Preise für Sie?
Es ist schön, Preise zu bekommen. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass solche Entscheidungen von einer Handvoll Leuten in einer Jury getroffen werden. Ob man deren Geschmack trifft, bleibt Glückssache. Insofern sind Preise kein Gradmesser für Qualität. Allerdings ist es wunderbar, wenn Leute, die man schätzt, die eigene Arbeit auszeichnen. Das verschafft einem Film mehr Aufmerksamkeit und hilft mir, mein nächstes Projekt zu realisieren. Preise sind also wichtig – aber ich nehme sie nicht allzu ernst.