Der US-amerikanische Filmemacher Joshua Oppenheimer beschäftigt sich in seinem Dokumentarfilm „The Look of Silence“ erneut mit den Gräueltaten im Indonesien der sechziger Jahre – verstörend und kontrovers wie schon im Vorgängerfilm „The Act of Killing“.
Mit seinem umstrittenen Dokumentarfilm The Act of Killing ließ der US-amerikanische Filmemacher Joshua Oppenheimer die Massaker an hunderttausenden (wirklichen und vermeintlichen) Kommunisten in Indonesien von den damaligen Mördern nachstellen. Im Glauben, in Oppenheimer einen Bewunderer ihrer heroischen Taten gefunden zu haben, stimmten sie dem Projekt freudig zu. Mit The Look of Silence geht der Regisseur nun einen entschiedenen Schritt weiter. Mit einem jungen Mann als Protagonisten, dessen Bruder 1965 eines der Opfer war, konfrontiert er die Massenmörder mit der Realität. The Look of Silence ist ein filmisches Experiment, faszinierend, risiko- und erkenntnisreich, angelegt als Blick von Außen in die unheimliche Konsensproduktion des demokratischen Indonesien.
The Act of Killing hatte sich vor drei Jahren noch die Kritik zugezogen, eine äußerst ambivalente Erzählform gewählt zu haben. Filmemacher Joshua Oppenheimer lässt in seinem bizarren und umstrittenen Dokumentarfilm unvorstellbare Gräueltaten aus den Anfangsjahren von Suhartos Militärdiktatur in Indonesien 1965-66 nacharstellen – durch die realen Täter von damals. Knapp 50 Jahre später feixen und lachen sie, während sie vor der Kamera das Abschneiden von Geschlechtsteilen demonstrieren und Drahtschlingen um die Darsteller ihrer Opfer legen. Es sind grundsätzliche Fragen, die Oppenheimer hier zur den Modi der filmischen Wirklichkeitserfassung aufwirft. Ist es ethisch vertretbar, Mördern eine Bühne zu geben? Wird man den Opfern gerecht, wenn man die Geschichtsschreibung in den entscheidenden Passagen des Films in die Hände der Täter legt? Und liegt im Re-Enactment, also dem Nachstellen von Szenen, durch die Folterer von damals nicht die Gefahr einer Banalisierung des Geschehens? Zwischen 500.000 und einer Million Menschen, viele von ihnen Kommunisten, wurden damals von willfährigen Handlangern, Gangstern und Zivilisten unter der Regie des Militärs und wohlwollender Duldung durch die USA ermordet. Nun kehren die Toten in der selbstheroisierenden „oral history“ der Täter wieder zurück.
Dass The Act of Killing Fragen wie diese aufwirft, zeigt zugleich, wie komplex der Film angelegt ist. Er hinterfragt zugleich in einem ganz grundsätzlichen Sinn auch die Entstehung dokumentarischer Bilder und zeigt sich skeptisch gegenüber der Kamera als objektiver Instanz, die immer auch neue Realitäten jenseits des Dokumentarischen, des Abbildenden schafft. Mit seinem Nachfolge- oder Komplementärprojekt The Look of Silence scheint Oppenheimer zumindest einen Teil der früheren Kritik mit verarbeitet zu haben. Hier firmiert nun ein junger Mann, ein Optiker, als dramaturgisches und emotionales Zentrum des Geschehens. Adi Rukuns Bruder wurde 1965 von den Paramilitärs ermordet, nun sucht er, begleitet von Oppenheimers Kamera, die Mörder von damals auf und stellt ihnen die Frage nach ihrer Verantwortung. Zur Vorbereitung lässt Oppenheimer den jungen Mann auf einem Bildschirm jene Gespräche sichten, die der Filmemacher Jahre zuvor mit den Tätern geführt hat. Es sind grauenhafte Beschreibungen von Taten, die man sich nicht ausmalen kann. Mit einer gewissen spekulativen Neugier switcht Oppenheimer zwischen dem Bildschirm und dem Gesicht von Rukun hin und her, doch dieses bleibt stoisch und verrät keine Reaktion.
Dass The Look of Silence ein noch gewagterer Entwurf als The Act of Killing ist, wird einem erst im Lauf dieser Begegnungen klar. Rukun ist ein Mann von unheimlichem Mut, der sich auf behutsame und zugleich ganz entschiedene Weise an seine mörderischen Kontrahenten herantastet. Die Schatten der Vergangenheit können dabei rasch zur akuten, realen Gefahr werden. Zwei der Täter, beide noch in Amt und Würden, drohen Rukun unverhohlen, als er sich als Bruder des Ermordeten zu erkennen gibt. Regisseur Oppenheimer erzählt, dass Fluchtautos und Flugtickets für Rukun und seine Familie sowie die ganze Crew bereitstanden – The Look of Silence hat auch den Charakter eines Experiments in einem ungeschützten politischen Rahmen. Auch das demokratische Indonesien hat bis heute die „Säuberung“ gegen die Kommunisten, aber auch gegen Angehörige der chinesischen Minderheit sowie gegen Intellektuelle nicht untersucht und sanktioniert. Der Titel des Films ist somit nicht als Allegorie zu verstehen, sondern als ganz präzise Beschreibung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Oppenheimers Protagonist trifft nicht auf marginalisierte Gestalten, sondern auf Menschen, denen ihr ungebrochener Anteil an den „polizeilichen“ Machtzirkeln des heutigen Indonesien ins Gesicht geschrieben steht. Immer wieder erstaunt einen bei diesen Kommunistenjägern der Ausdruck einer rechtschaffenen und ideologischen Überlegenheit, die keine Anfechtungen zu fürchten hat – während die Angehörigen der Opfer bis heute stumm sind. Oppenheimer zieht einen provokanten Vergleich, um die Dynamik seiner Filme zu beschreiben: Es ist, als wäre man 40 Jahre nach dem Holocaust in Deutschland, und die Nazis wären noch immer an der Macht. Dieses staatliche Einvernehmen schreibt sich tief in die Textur dieses Films ein: Hier stehen die Männer, vielfach Angehörige der paramilitärischen Pancasila-Jugend, die drei Millionen Mitglieder zählt und bis heute von der Begeisterung über den Massenmord im Dienst des Staates getragen ist. Zwei der Täter führen Oppenheimer hinunter an ein Flussufer, wo sie nachstellen, wie sie Rukuns Bruder mit der Machete getötet haben. Über zehntausend Menschen wurden an dieser Stelle von LKWs abgeladen, gefoltert und in den Fluss geworfen. Das Blut der Toten habe man gläserweise getrunken. Als gäbe es ein offiziöses Protokoll, wie man sich an die Ereignisse von damals zu erinnern habe, wiederholen sich selbst aberwitzige Erklärungen: Man habe das Blut getrunken, um nicht verrückt zu werden. Vielleicht ist er deshalb heute noch so stark, sagt die Tochter über den Vater, der neben ihr sitzt. Nicht ohne sich bei Rukun für dessen Gewalt zu entschuldigen. An Passagen wie diesen wird deutlich, dass die Wucht dieser Geschehnisse, dass das gesamte filmische Projekt nur von einem Außenstehenden realisiert werden konnte. Wenn ein Lehrer in offenkundiger Geschichtsverfälschung seinen kleinen Schülern von Kommunisten erzählt, die den Generälen 1965 die Augen ausgerissen hätten, wird der allumfassende Legitimismus deutlich, mit dem dieser Staat ohne Risse und Brüche den Übergang von der Diktatur zur Demokratie geschafft hat. Oppenheimer findet selbst in den greisen Eltern Rukuns den Beleg für das umfassende Einverständnis, als Opfer zu schweigen. Seine Mutter warnt ihn, die Vergangenheit aufzuwühlen, während Oppenheimer im nackten, ausgemergelten Körper des 103-jährigen senilen, nahezu blinden Vaters ein willkommenes Schauobjekt findet, um die Zurichtungen eines Gequälten zu demonstrieren. Vor dem Hintergrund indonesischer Staatsräson müssen aber auch die zu Beginn aufgeworfenen Fragen nach der Ethik des Oppenheimer’schen Dokumentarismus betrachtet werden. Liegt im Re-Enactment eine Banalisierung der Geschehnisse vor? Eher schon, weil hier Kritik offenbar nur durch die ins Groteske übersteigerte Affirmation möglich ist, während ein Betroffener wie Rukun unter hohem persönlichen Risiko statt auf ein Gespräch nur auf eine Mauer der Ablehnung trifft. Die Banalisierung ist so gesehen der Preis für die Sichtbarmachung einer umfassend ausgeblendeten Geschichte. Oppenheimer selbst hält die theatrale Nachstellung freilich für ein ganz allgemein probates Mittel zur Dramatisierung dokumentarischer Inhalte, insbesondere, wenn es um Menschenrechte geht.
Er argumentiert, die Fly-on-the-wall-Perspektive des Cinema vérité, die behaupte, die Welt so unverfälscht einzufangen, als sei die Kamera gar nicht vor Ort, sei eine dreiste Lüge. Den Begriff des Re-Enactment lehnt Oppenheimer ab, er spricht von einer Dramatisierung der dokumentarischen Form, die unbedingt auch fiktionale Teile brauche. Nicht nur, um ihre Inhalte deutlich zu machen, sondern auch, um auf die eigenen Produktionszusammenhänge zu verweisen. Das klingt doch etwas apodiktisch, zumal man sich nicht vorstellen möchte, dass etwa ehemalige jüdische KZ-Häftlinge den Nationalsozialisten noch einmal eine Bühne geben müssten, um deren mörderische Willkürakte rekapitulierbar zu machen. Die Camouflage, mit der Oppenheimer operiert, weist jedoch von seinem ersten zum zweiten Film eine Veränderung auf, ohne die The Look of Silence wohl nicht möglich gewesen wäre. Oppenheimer holte die Paramilitärs, Politiker und Gangster in The Act of Killing unter dem Vorwand vor die Kamera, dass sie ihren eigenen Film drehen und darin die heroischen Taten von damals für die Nachwelt festhalten können. Auch wenn diese Herrschaften in der Form einer bunten Oper vor Naturkulisse sowie einem Wasserfall als Ausdruck ihrer tiefen Gefühle die adäquate Formensprache zu finden glauben, kommen einem der Mörder doch auch Zweifel am eigenen Tun, wenn er meint, man sollte die Folterszenen nicht zu „erfolgreich“ inszenieren, weil die Grausamkeit vielleicht an einem selbst statt an den Kommunisten kleben bleibe.
Mit The Look of Silence geht Oppenheimer dann aber einen entschiedenen Schritt weiter und konfrontiert diese Leute, deren persönliches Vertrauen er damals offenbar erworben hat, mit der Realität. Das Ergebnis ist weniger bizarr und stärker an Erkenntnissen über die Ausgestaltung des politischen Diskurses in Indonesien orientiert. Die Angst der Opferangehörigen flackert immer wieder in Szenen auf, wenn es etwa aus dem Mund eines ehemaligen Kommandeurs und nunmehrigen Mitglieds der Legislative heißt: „Wenn Sie die Vergangenheit wieder und wieder auferstehen lassen, wird sie sich mit Sicherheit wiederholen.“ Auch wenn von Indonesien berichtet wird, dass eine junge Generation zunehmend kritische Fragen zur Vergangenheit stellt, montiert Oppenheimer seinen Film pessimistisch. Er stellt eine Szene ans Ende, in der Versöhnung nicht möglich ist. The Look of Silence wurde in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.