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The Revenant

| Jörg Schiffauer |

So weit die Füße tragen

Der „Frontier-Mythos“, jene Legendenbildung um die Erforschung, Eroberung und Erschließung des „Wilden Westens“ bei der Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika, hat sich fest ins kollektive Gedächtnis der Bevölkerung von „God’s own country“ eingebrannt und spielt eine nicht unwesentliche Rolle für das dortige Selbstverständnis. Hugh Glass zählt zu jenen Figuren, die diesen Mythos um den Pioniergeist entscheidend mitgeprägt haben. Basierend auf der Lebensgeschichte dieses Mannes hat Alejandro González Iñárritu mit The Revenant seine Sicht auf diesen Mythos in Szene gesetzt.

1823 befindet sich eine Expedition auf Pelzjagd im Gebiet des heutigen South Dakota, das zu dieser Zeit tatsächlich noch sehr wilder Westen war. Als die Gruppe von den dort lebenden Indianern vom Stamm der Arikara angegriffen wird, kann sich nur ein kleiner Teil der Truppe retten. Auf dem beschwerlichen Rückweg durch die Wildnis zur nächsten einigermaßen sicheren Ansiedlung verlassen sich die Männer vor allem auf die Kenntnisse des Trappers Hugh Glass (Leonardo DiCaprio). Der wortkarge Westerner, der mit einer Indianerin liiert war – der gemeinsame, halbwüchsige Sohn begleitet Glass auf dieser Expedition –, schafft es zunächst, die kleine Gruppe auf den Weg zu bringen und allen Gefahren auszuweichen. Doch Glass wird bei einem Erkundungsgang von einem Grizzly angefallen und schwer verletzt – sein Tod scheint nur mehr eine Frage von wenigen Tagen zu sein. Weil man ihn zwar nicht seinem Schicksal überlassen will, jedoch auch nicht die ganze Gruppe der latenten Gefahr eines erneuten Angriffs der Indianer aussetzen will, bietet der Anführer der Expedition, Andrew Henry (Domhnall Gleeson) denjenigen eine stattliche Bezahlung an, die sich bereit erklären, bei Glass zu bleiben und ihn auf seinem letzten Weg nicht allein zu lassen. Jim Bridger, ein junger Mann, erklärt sich sofort bereit, ebenso wie schließlich auch zögerlich ein eher rauer Gesell namens John Fitzgerald (Tom Hardy). Mit Glass’ Sohn Hawk bleiben sie bei dem Trapper, doch dessen Überlebenswille ist stärker als gedacht. Als einige Tage später Fitzgerald die Nerven verliert, kommt es zum Konflikt mit Hawk, der diesem das Leben kostet. Fitzgerald überredet schließlich Bridger entgegen ihrem Versprechen Hugh Glass zurückzulassen, Doch dieser gibt nicht auf und versucht das Unmögliche – allein durch die Wildnis zurück in die Zivilisation zu gelangen und Rache für den Tod seines Sohns zu nehmen.

Mit The Revenant hat Iñárritu einen deutlichen inhaltlichen und stilistischen Kontrapunkt zu seiner schwarzhumorigen Komödie Birdman gesetzt. Seine Inszenierung weist zu Beginn eine epische Kraft auf, die mit streckenweise atemberaubender Wucht das Kunststück schafft, Mythen des Westerns gleichzeitig zu pflegen und zu zerschmettern. Hugh Glass Überlebenskampf entwickelt sich vor allem zu einer Auseinandersetzung mit der Rohheit der Natur, die sich in den Bildern von Kameramann Emmanuel Lubezki kongenial widerspiegelt – auch wenn mit der Zeit manches ein wenig zu überzogen wirkt und das eine oder andere Survival-Klischee strapaziert wird. Bei allem physischen Totaleinsatz, den Leonardo DiCaprio dabei zeigt, bleibt die Schärfung des Charakters etwas auf der Strecke. Das erscheint doppelt schade, denn mit Tom Hardy würde ein formidabler Antagonist bereit stehen. Doch das Rache-Motiv, das zunächst als treibende Kraft die Geschichte zu konstituieren scheint, kommt schlussendlich ein wenig zu kurz und flacht zusehends ab, Dem großen Showdown fehlt damit jene archaische Kraft, die dem Plot eigentlich angemessen wäre, von der narrativen Wucht, die etwa in den ersten Sequenzen so zu beeindrucken versteht, ist auf dem langen Marsch des Hugh Glass einiges verloren gegangen.

 

„Die meisten Filme bewegen sich allesamt auf viel zu sicherem Terrain.“

Alejandro González Iñárritu über die Arbeit an The Revenant.

Interview ~ Pamela Jahn

Herr Iñárritu, Rache und Vergeltung wurden im Kino schon immer groß geschrieben. Was unterscheidet The Revenant Ihrer Ansicht nach von anderen altbekannten Ablegern des Genres?
Die meisten Revenge-Movies laufen doch darauf hinaus, dass die Person, die auf Rache sinnt und damit Erfolg hat, am Ende glücklich und zufrieden davon zieht, fast wie im Märchen. Aber das war mir nie ganz geheuer. Ich glaube, Rache ist ein zutiefst unheilsames Unterfangen, selbst wenn man damit im ersten Moment vielleicht das erreicht, was man wollte. Der Triumph mag eine kurze Befriedigung schaffen, bringt auf die Dauer aber nicht viel. Im Kern ist Rache geistlos und leer. Und das gilt für zwischenmenschliche Auseinandersetzungen genauso wie auf nationaler und globaler Ebene. Schauen Sie sich nur den Konflikt im Nahen Osten an, das ist eine endlose Spirale der Vergeltung. Was mich allerdings konkret an der Geschichte von Hugh Glass interessiert hat, ist, was danach kommt. Mit anderen Worten: Wenn Revanche tatsächlich das alleinige Ziel im Streben eines Menschen ist, worin besteht dann hinterher noch der Sinn des Lebens? Und selbst wer Rache übt, kann damit zuvor Geschehenes nicht ungeschehen machen, auch das wird im Film deutlich. Widersprüche wie diese offenzulegen, darum ging es mir und darum, dass mit Rache allein sich die Dinge nicht regeln lassen, so einfach ist es nun mal nicht. Ein chinesisches Sprichwort besagt: „Wer auf Rache aus ist, der grabe zwei Gräber: eines für den Feind und das zweite für sich selbst.“

Wenn Rache tatsächlich so geistlos ist, wie Sie sagen, was ist es dann, das Glass dazu bringt, trotz allem am Leben festzuhalten?
Das ist die Frage! Und die genaue Antwort kenne ich auch nicht, aber  worauf ich hinaus will, ist, dass es da vielleicht noch etwas anderes gibt. Was übrigens nicht heißt, dass ich Rache grundsätzlich verurteile, in manchen Situationen mag sie durchaus notwendig und angebracht sein, und wir alle kennen das Verlangen danach nur zu gut. Es steckt in uns, das ist ganz natürlich. Aber ist es vielleicht auch möglich, Emotionen wie diese zu transformieren und stattdessen in positive Energien wie Vergebung und Versöhnung umzuwandeln? Zumindest in Bezug auf Glass liegt die Vermutung nahe, dass eine derart lange, beschwerliche Reise durch die Natur mitunter durchaus auch eine heilende, kathartische Wirkung haben kann, so dass aus Rachegelüsten am Ende sogar eine Art von Mitgefühl hervorgeht. Ob und inwiefern das tatsächlich gelingen kann, bleibt fraglich, aber ich wollte zumindest versuchen, die Möglichkeit auszuloten.

Es wurde viel darüber gemunkelt, wie strapaziös und brutal die Dreharbeiten waren, und dass Sie sich deswegen mit Cast und Crew überworfen hätten. Wie anstrengend was es denn nun wirklich?
Es war wahnsinnig anstrengend. Jede Szene, jeder Tag, jedes winzige Detail des Films war eine Herausforderung. Zum einen, weil die Witterungsverhältnisse in jeder Hinsicht extrem waren, zum anderen, weil die Maßstäbe, den ich mir selbst und den anderen für dieses Projekt gesetzt hatte, ebenfalls immens hoch waren, das gebe ich zu. Aber nachdem ich die Erfahrung gemacht habe und vor allem, wenn ich mir jetzt das Ergebnis anschaue, hätte ich es kein Stück anders haben wollen.

Wie würden Sie Ihren schlimmsten Tag beschreiben?
Das kann ich nicht, da müsste ich die Dreharbeiten als Ganzes beschreiben. Sie müssen sich das wie in den Anfängen des Kinos vorstellen, als Regisseur, Darsteller und Crew tatsächlich noch jedes Mal zu den realen Schauplätzen gereist sind, um ihre Geschichte zu filmen. Dazu kommt, dass wir es obendrein mit ungeheuren Naturgewalten zu tun hatten. Und die Natur verhandelt nicht. Man kann sich ihr nicht entgegenstellen, sondern muss ihr gegenüber kapitulieren, wenn man überleben will. Ein Film wie dieser stellt einen als Regisseur auf eine harte Probe, weil permanent alles schief geht. Wenn wir einen Tag ohne Schnee brauchten, hat es pausenlos gestürmt und  geschneit, und das bei minus vierzig Grad Celsius. Kurz darauf wurden unsere Sets plötzlich von den Chinooks zerstört. Das sind diese warmen Winter-Winden, die binnen kürzester Zeit das Eis und den Schnee schmelzen lassen, so dass unsere Sets komplett überflutet wurden – mitsamt der Schauspieler und Crew, wenn die nicht gerade von umstürzenden Bäumen getroffen und verletzt wurden. Und jedes Mal, wenn wieder etwas passiert, müssen Sie als Regisseur sich darum kümmern, ganz abgesehen von der Frage, wie Sie unter solchen Bedingungen eine Action-Szene mit 150 Leuten in einem Take über die Bühne bringen.

Sie sind für Ihren Perfektionismus und Detailfanatismus bekannt. Wie weit ging das trotz der widrigen Bedingungen diesmal?
Es gibt eine Szene im Film, die recht einfach ausschaut, aber vielleicht deutlich macht, worauf Sie hinaus wollen. Es geht um den Moment, wenn Glass in den Bergen die Leiche von Captain Henry findet. Der Ort, an dem das gedreht ist, liegt 8000 Fuß hoch und wir mussten nicht nur die Pferde dort hinauf kriegen, sondern es geht vor allem um diesen intimen Augenblick, in dem Glass entdeckt, dass der Captain tot ist. Noch im gleichen Atemzug setzt hinter ihm eine Lawine ein, die wir mit einem Hubschrauber und Sprengstoff künstlich erzeugt und auf die Sekunde genau getimt haben. Es sind Szenen wie diese, die am Ende auf der Leinwand ganz natürlich aussehen mögen, aber filmisch gesehen war es ein Alptraum, das zu inszenieren. Dennoch kann man auch trotz noch so widriger Umstände recht viel kontrollieren – nichts in dem Film ist improvisiert.

Es heißt, Sie hätten sogar eine Herde Ameisen „Erste Klasse“ einfliegen lassen, weil es die so weit oben in den Bergen eigentlich nicht gibt und Sie die aber für eine andere Szene mit Leonardo DiCaprio benötigten. Was sagen eigentlich Ihre Produzenten dazu, wenn Sie mit solchen Sonderwünschen an sie herantreten?
Unsere Zusammenarbeit beruht auf einem gegenseitigen Vertrauen. Ich vertraue ihnen in dem, was sie tun, und auf die gleiche Weise vertrauen sie mir. So ist es auch mit den Schauspielern und allen anderen. Bei einem Projekt wie diesem ist gegenseitiges Vertrauen das A und O, sonst können Sie gleich einpacken. Und die Ameisen sind ein gutes Bespiel dafür, was wir mit dem Film erreichen wollten: einerseits diese spektakulären, epischen Landschaften und auf der anderen Seite Mikroorganismen wie diese, die repräsentieren, was Natur ausmacht. Nichtsdestotrotz war es eine Gratwanderung, zu verstehen, dass jedes einzelne winzige Detail mindestens genauso wichtig war wie alles andere. Und es gab unzählige kleine Dinge, die wir beachten und auf die wir oftmals lange warten mussten, um sie mit der Kamera einzufangen. Manchmal haben Emmanuel Lubezki und ich zwei ganze Tage gewartet, um eine Einstellung ganz genau so filmen zu können, wie wir sie haben wollten.

Wie haben Sie in der Zwischenzeit die Schauspieler und Crew bei Laune gehalten, während Sie auf den richtigen Moment gewartet haben?
Wie gesagt, die Dreharbeiten waren kein Zuckerschlecken, und es war mitunter extrem hart, aber trotzdem herrschte eine großartige Kameradschaft am Set, und jedes Mal, wenn es was zu lachen gab – und das kam nicht oft vor – glauben Sie mir, dann haben wir unseren Spaß gehabt. Und ich habe einen guten Sinn für Humor, das heißt, wann immer sich die Gelegenheit ergab, habe ich versucht, das zu forcieren.

Sie haben vorhin von Vergebung gesprochen. Wie leicht können Sie sich selbst und anderen vergeben für Dinge, die eventuell nicht hundertprozentig nach Plan gelaufen sind oder zumindest nicht so, wie Sie es vielleicht gerne gehabt hätten?
Ich denke, der Schlüssel zum Erfolg ist Scheitern – und wieder aufstehen. Und dann versucht man es erneut. Und nur weil etwas nicht so läuft, wie man es sich gewünscht hat, heißt das ja nicht, dass das, was am Ende dabei herauskommt, unbedingt schlechter sein  muss. Manchmal entstehen die besten Sachen aus Fehlern oder Einschränkungen heraus. Aber manchmal eben auch nicht, weshalb ich immer eine ziemlich genaue Vorstellung davon habe, wie die Dinge laufen sollen. Trotzdem bin ich grundsätzlich bereit umzudenken, wenn es die Situation verlangt. Ich passe mich den äußeren Bedingungen an und versuche dann anschließend etwas zu kreieren, das mich interessiert und zufrieden stellt.

Birdman hat im vergangenen Jahr vier Oscars gewonnen. The Revenant ist bereits für vier Golden Globes nominiert. Was meinen Sie, wie stehen die Chancen, dass Sie auch in diesem Jahr wieder bei den Academy Awards abräumen?
Ganz ehrlich, ich habe da keine großen Erwartungen, das überlasse ich anderen. Aber ich denke, dass die Konkurrenz in diesem Jahr extrem groß ist. Natürlich wäre es schön, wenn der Film gewinnt, aber wenn nicht, ist das auch nicht tragisch. Ich bin so unheimlich stolz auf das, was wir da auf die Beine gestellt haben, das ist mir Belohnung genug. Ich habe mein Herzblut gegeben, besser geht es nicht, und viel ist von mir jetzt nicht mehr übrig (lacht)… Ich bin stolz aber auch überrascht, dass ich diesen Film überlebt habe, das grenzt fast an ein Wunder. Es ist ein gigantisches Stück Kino und jeder, der etwas von dem Geschäft versteht, wird das sehen und zu schätzen wissen. Daran habe ich keinen Zweifel.

Haben Sie eigentlich jemals Bedenken, dass Sie zu weit gehen könnten mit Ihren Ideen und Visionen?
Nein. Zu weit gibt es nicht. Woran es dem Kino von heute mangelt, sind Ambitionen. Die meisten Filme – ganz gleich, ob sie nun gut oder schlecht gemacht sein mögen – bewegen sich allesamt auf viel zu sicherem Terrain. Anstatt zu provozieren, machen sie es sich auf der Leinwand bequem. Mir ist es dagegen viel lieber, wenn ein Film versucht, beim Zuschauer etwas zu bewegen. Selbst wenn dies am Ende nicht gelingt, ist das immer noch besser, als es gar nicht erst versucht zu haben. Das Kino ist grenzenlos und voller unendlich vieler Möglichkeiten. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit unsere populistische Kultur gewillt ist, sich darauf einzulassen. Denn die meisten Leute wollen nun einmal leider nur das, was sie ohnehin schon kennen. Sie wollen den gleichen Doppel-Cheeseburger von McDonald’s mit dem gleichen Ketchup – tagein, tagaus. Dem Publikum stattdessen etwas zu servieren, das auch nur annähernd anders ist als das Gewohnte, darin besteht die größte Herausforderung.

Worin genau liegen Ihre Ambitionen? Was treibt Sie?
Ich gebe immer alles, was ich habe. Jeder Film, den ich mache, ist eine Verlängerung meiner selbst. Ich bin auf der Suche nach der Wahrheit in dem, was ich tue, und gleichzeitig versuche ich dabei auch stets mir selbst und meinen Umständen gegenüber treu zu bleiben. Darum geht es mir – eins zu sein mit mir und meiner Kunst.

Was kommt nach einem Mammutprojekt wie diesem? Wie geht es für Sie jetzt weiter?
Das Einzige, woran ich gerade denken kann, ist schlafen – sechs Monate mindestens. Außerdem habe ich eine ganze Menge nachzuholen, was Bücher lesen, Filme und Musik angeht. Mein ganz gewöhnliches Leben erwartet mich und dem werde ich mich fügen und für eine Weile untertauchen.

Denken Sie, Ihr nächster Film wird eher wieder ein Kammerspiel werden?
Das hoffe ich (lacht). Ganz sicher ist, dass ich so schnell nicht noch einmal einen Film wie diesen drehen werde.

Eine Fortsetzung ist also erst einmal nicht geplant?
Auf keinen Fall. Ich mag verrückt sein, aber ich bin nicht blöd.