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The Salesman

Fehlende Bewegungsfreiheit

| Dennis Vetter :: Thomas Abeltshauser |
Asghar Farhadis Filme spielen mit Grenzen, zwischen Menschen und Inszenierungsweisen. Die Symbolfigur des iranischen Kinos im Gespräch über sein preisgekröntes Drama „Forushande” („The Salesman”), seine Liebe zum Theater, das Filmemachen im Iran und sein nächstes Projekt, das er in Spanien dreht.

Das Klassenzimmer ist dunkel, bis auf die kleine Leinwand vor der Tafel. Es läuft ein Film, darin wird ein Mann unter Widerwillen gefesselt, gibt angestrengte Laute von sich. Emad ist eingeschlafen. Seine Klasse macht Faxen und Selfies neben dem dösenden Lehrer. Die Jungs respektieren ihn eigentlich, das erklärt früher im Film ein Schüler. Seit dem Beginn der Geschichte im gleichen Klassenzimmer hat sich etwas verändert in diesem Mann, der zunächst lebendig wirkte, freundschaftlich und uneitel im Umgang mit den jungen Leuten. Das Handyvideo, das ihn beim Schlafen zeigt, damit hat er ein Problem. Das muss gelöscht werden. Er fordert es harsch von einem der Schüler, nimmt ihm das Telefon weg, sieht sich die Bilder im Speicher durch und stellt ihn vor den anderen bloß. Wir erfahren, ohne weiteren Kommentar: Der Junge hat keinen Vater. Was wachsen da für Männer auf? Asghar Farhadis The Salesman ist ein Film, der solchen Fragen Raum lassen will, aber alle Räume zu präzise plant.

Emad wird von Shahab Hosseini mit einer durchdringenden Sturheit verkörpert, die manchmal in eine Härte und Intoleranz hineinsteigert, manchmal herrisch wird. Er führt dann eine impulsive Selbstgerechtheit vor, die sich über andere stellt, über die angebliche Wärme zwischen den Menschen in diesem Film. Wie seine Schüler wird auch Emad manchmal kontrolliert und ist darauf bedacht, sein Gesicht zu wahren, lebt als Teil einer bürgerlichen Kunstszene, im Verhältnis zu einer iranischen Autorität. Und Autoritäten, die greifen ins Leben ein. Autoritäten üben Gewalt aus, sie verändern Menschen. Ein anderer Lehrer sagt, seine Unterrichtsbücher seien nichts für Schüler. Wenn Emad dann Theater spielt, spricht er in der Garderobe mit den andern über eine anstehende Kontrolle der Zensurbehörde. Ein paar Stellen ihres Stücks müssen vielleicht herausgenommen werden vor der Premiere. Sie inszenieren „Tod eines Handlungsreisenden“ von Arthur Miller. Emad spielt die Hauptrolle, den gealterten und verbrauchten Willy. Millers Stück entwirft mit Willy einen Mann, der sich jahrelang klein machen musste und sich dabei zum Schlechten verändert hat. Es erscheint in diesem kaputten Typen eine eingebildete und scheiternde Männlichkeit, eine Männlichkeit, die sich auch immer wieder im Ton vergreift, ausfallend und gehässig wird.

Emad ist ein intelligenter Kerl und bekommt es hin, das Theater mit seinem Leben zu arrangieren. Er spielt in erfundenen Räumen Kunstfiguren, die natürlich immer auch etwas freilegen in der eigenen Psychologie. Bis dann das Unwahrscheinliche, das Fiktive, in die Realität einbricht: Seine Frau Rana (Taraneh Alidoosti) wird verletzt, als ein unbekannter Mann eindringt. Es gibt Spuren dieses Kerls, die Emad verfolgen. Und diese Spuren dann zu verfolgen, die geschehene Gewalt zu ergründen, das wird wichtiger als die Erinnerung an das Wesentliche. Ein kommandierender Ton wiederholt sich bald in seiner Stimme, wenn er mit Rana spricht. Weil er nicht weiß, wie er sich zu ihr verhalten soll. Weil er das Geschehene nicht ungeschehen machen kann, ebensowenig wie die Realität seiner Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der wohl etwas schief läuft, denn sie kann so eine Gewalt hervorbringen. Es steht am Ende ein weiterer Mann, der viel sensibler ist als erwartet. Die interessante Figur des Films, er schaut mit verstohlenen Blicken. Seine Zerbrechlichkeit trifft auf einen verhärteten Emad, der sich selbst kaum noch versteht und zum Stereotyp geworden ist in den Händen dieses Regisseurs.

Farhadis Film nutzt als Motiv ein Stück, das nicht eben unbekannt ist, als Filmadaption oder auf der Bühne. Versionen davon kennen manche, die lassen sich formal beschreiben und unterscheiden von andern. Veränderungen in der Geschichte und in Kostümen, die sind erkennbar. Wenn dann eine Frau nicht nackt spielen darf, sondern ein rotes Kleid tragen muss, dann spielt das eine kulturelle Besonderheit aus. Aber so ein Moment formuliert auch einen fremdartigen Maßstab und das fühlt sich irgendwie verquer an. Als Oscar-Preisträger, international sichtbarer Vertreter des iranischen Gegenwartskinos und erklärter Bewunderer des US-Kinos á là „Endstation Sehnsucht“ hat Farhadi einen genauen Begriff davon, was es heißt, das iranische Kino und die dortige Gesellschaft von außen zu betrachten, mit einer naiven und grobschlächtigen Neugierde.

Wenn der Film sich dagegen sträubt, auf das Kleine konzentriert, auf Spannungen und Veränderungen in der Wortwahl, auf Zögern und Schweigen, dann wird er fein, zeigt einen eigentümlichen Sinn für Spannung und ein Interesse an der Psychologie von Entscheidungen. Er wägt Blicke immer wieder ab. Und doch fühlt sich Farhadis Blick immer wieder reichlich unfrei an, zweckorientiert. Sein Spiel mit Inszenierung und Alltag auf der Suche nach Universalität wirkt insbesondere dann erzwungen, wenn eine Liebe zwischen zwei Schauspielenden behauptet wird, die eben keine ist. Deren Verhältnis taugt meistens bloß als Stichwortgeber.

Spiel mit Grenzen

Asghar Farhadi ist nach Auszeichnungen in Berlin, Cannes und seinem Oscargewinn von 2012 zu einer symbolischen Figur für das iranische Kino geworden. Für The Salesman ist der theateraffine Regisseur derzeit zum zweiten Mal für einen Fremdsprachen-Oscar nominiert. Seine Filme spielen mit Grenzen, zwischen Menschen und Inszenierungsweisen. Die aktuelle Politik Donald Trumps setzt dem Regisseur nun selbst eine solche: Muslime aus sieben Ländern sollen nicht mehr einreisen dürfen. Das führte zu Protesten der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die im Fall von Farhadis Anreise zu den Oscars eine Ausnahme erwirkt hätten. Doch er und seine Schauspielerin Taraneh Alidoosti verweigerten medienwirksam die Kooperation. Ein offener Brief des US-iranischen Filmprofessors Jamsheed Akrami an Donald Trump untermauert jüngst Farhadis Entscheidung: „to his credit, he declined a preferential treatment in solidarity with his compatriots and the citizens of the other six countries”. Mit The Salesman startet ein Film im Kino, der sich längst zu einem Politikum entwickelt hat. Welche Gedanken sich darin spiegeln, erklärt Farhadi im Gespräch mit Thomas Abeltshauser.

 

In Ihrem Film steht Arthur Millers Theaterstück „Tod eines Handlungsreisenden“ im Mittelpunkt. Welche Rolle spielen dieses Stück und das Theater allgemein für Sie?

Als ich selbst Theater studierte, war das eines meiner liebsten Stücke. Aber erst als ich später anfing, Filme zu machen, stellte ich rückblickend fest, wie sehr mich gerade dieses Stück als Filmregisseur beeinflusst hat. Das liegt zum einen an den vielschichtigen Aspekten des Stücks, das man aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten kann. Je nach eigenen Interessen und Erfahrungen kann man es als Sozialdrama oder Gesellschaftskritik sehen oder sich auf das zwischenmenschliche Beziehungsgeflecht konzentrieren. Und diese Methode, komplexe und mehrdeutige Geschichten zu entwickeln und zu erzählen, zieht sich wie ein roter Faden durch meine Filme. Theater ist für mich generell wichtig. Ich habe mein Handwerk im Theaterinstitut der Universität Teheran gelernt. In meiner Abschlussarbeit setzte ich mich mit dem Werk des britischen Dramatikers Harold Pinters auseinander. Und auch wenn ich dann bald Filme machte, blieb mein Respekt für Theater immer bestehen. Ich halte es für hohe Kunst und ich wollte immer einen Film drehen, der dem Theater auf die eine oder andere Art Tribut zollt.

Sie verwenden dabei einen sehr realistischen Schauspielstil, der Ihren Filmen zusätzlich Glaubwürdigkeit verleiht. Wie arbeiten Sie mit Ihren Darstellern?

Mit vielen der Schauspieler hatte ich schon bei früheren Filmen gearbeitet, mit ihnen gibt es also ein gemeinsames Verständnis über die Art, wie etwas dargestellt werden soll. Ich habe ein ganz simples Prinzip, das für uns alle die Goldene Regel ist: die Situation und wie etwas gesagt und gespielt wird, darf sich nicht davon unterscheiden, wie man sich im Alltag verhalten würde oder was man selbst im Leben beobachtet. Sobald ich auch nur einen Hauch von Künstlichkeit entdecke, weise ich darauf hin, um das zu vermeiden.

Wie wichtig war es, dass sich das Publikum mit beiden Ehepartnern gleichermaßen identifizieren kann?

Das ist etwas, was ich in all meinen Filmen anstrebe. Obwohl es einen Konflikt oder eine Konfrontation gibt, soll man als Zuschauer beide Positionen verstehen, warum sich jede Figur so verhält, wie sie es tut. Jede Entscheidung, die sie trifft, muss plausibel sein. Das heißt nicht, dass man sich als Zuschauer in einer ähnlichen Situation auch so verhalten würde, aber dass man die Gründe jeder Seite nachvollziehen und mit ihr mitfühlen kann. Mir geht es gerade darum, dass man als Zuschauer nicht leicht Partei ergreift, sondern selbst in einen inneren Konflikt gerät. Nur so findet eine echte Auseinandersetzung statt.

Ein liberaler, gebildeter Mann entwickelt im Laufe des Films immer mehr reaktionäre Züge. Ist das auch eine Kritik an der iranischen Mittelschicht?

Es ist die Wandlung eines Mannes, der anfangs liebevoll, offen und hilfsbereit ist, der seine Frau liebt und respektiert und der von seinen Schülern gemocht wird. Und dann verliert er diese Sympathien und den Respekt der anderen, weil seine gute Seiten damit zu tun hatten, dass er ein einfaches Leben ohne große Probleme hatte. Und als er in eine Situation gerät, die für ihn schwieriger und widersprüchlicher ist, zeigt sich seine andere Seite, die konservativer und potenziell radikaler ist. Ich glaube aber nicht, dass diese Transformation so nur in Teheran oder im Iran stattfinden könnte, sie ist universell. Wenn alles normal läuft, wirkt fast jeder Mensch nett und freundlich, aber sobald Probleme oder eine Krise auftauchen, zeigen wir unser wahre Persönlichkeit. Und das trifft nicht nur auf eine bestimmte Kultur zu, so sind wir alle, es ist menschlich.

Ist es auch eine Metapher dafür, wie heute viele Menschen irrational auf eine gesellschaftliche und politische Realität reagieren, der sie scheinbar machtlos gegenüberstehen?

Das kann man so sehen. Im Stück und im Film geht es um Erniedrigung. Bei Miller fühlt sich der Handlungsreisende Willy Loman von seinem Sohn, seinem Vorgesetzten, seinen Nachbarn zurückgesetzt und erniedrigt. Wie mein Film handelt das Stück davon, wie wir unter sozialem Druck reagieren. Auch Emad im Film hat einen gewissen gesellschaftlichen Status, er ist ein angesehener Lehrer und mit seiner Laientheatergruppe erfolgreich. Doch dann erkennt er, nach dem Übergriff auf seine Frau, Zeichen von Herabwürdigung, denen er sich nicht stellen kann. Es fängt mit ganz kleinen Dingen an, wie die Frau im Taxi, die nicht neben ihm sitzen möchte, und setzt sich in der Schule und in der Nachbarschaft fort. Seine Reaktion ist eine auf soziale Ereignisse, aber es lässt sich genauso auf politische Situationen übertragen.

Nach dem Übergriff kann sie nicht zur Polizei gehen, weil sie dann erklären müsste, warum sie einem wildfremden Mann die Wohnungstür geöffnet hat und von den Behörden erneut gedemütigt würde. Werden in der iranischen Gesellschaft Frauen so wahrgenommen und behandelt?

Beide Ehepartner werden gedemütigt, als ihre Privatsphäre verletzt wird, und es wird zu einer Krise für sie beide. Natürlich war die Frau das eigentliche Opfer dieses Überfalls im Badezimmer der eigenen Wohnung, und sie fühlt sich auf eine Art in ihrem Trauma nicht ernstgenommen. In der iranischen Kultur ist die Intimsphäre sehr viel kostbarer und sensibler, vor allem für Frauen. Sie kann nicht einmal ihren Freundinnen gegenüber aussprechen, was passiert ist. Andererseits muss ich sagen, dass durch diesen Druck viele Frauen im Iran in letzter Zeit auch stärker reagieren, sich Anzüglichkeiten immer weniger gefallen lassen und in diesem Sinne sehr viel progressiver geworden sind als Männer.

Im Film tragen alle Frauen Kopftücher, selbst in den eigenen vier Wänden, wenn sie alleine sind. Entspricht das der Realität oder ist das der Filmzensur in Ihrem Land geschuldet?

Das ist ein Filmgesetz. Die Zensur verbietet es, die Haare der Frauen zu zeigen. Im Alltag müssen Frauen in der Öffentlichkeit ihre Haare mit einem Tuch oder einem Schal bedecken, aber zuhause oder bei Freunden müssen sie das nicht. In der Filmbranche geht mit dieser Einschränkung jeder anders um. Ich habe entschieden, in Innenräumen schmalere Schals zu verwenden, um es realistischer wirken zu lassen. Aber auch ich muss Regeln respektieren, wenn ich im Iran Filme machen will.

Sie haben nach dem internationalen Erfolg von „Nader und Simin – Eine Trennung“, der den Goldenen Bär auf der Berlinale und später den Oscar gewonnen hat, mit „Le Passé – Die Vergangenheit“ einen Film in Frankreich gedreht. Nun sind sie in den Iran zurückgekehrt. Wie hat sich Ihre Position dadurch verändert, und welchen Restriktionen und Herausforderungen müssen Sie sich dort nach wie vor stellen?

Es gibt zwei Aspekte: zunächst die Reaktionen der Bevölkerung und der Kinobesucher, die sehr stark waren. Als Nader und Simin weltweit gefeiert wurde, reagierten sie, als ob die Fußballmannschaft die Weltmeisterschaft gewonnen hätte. Es herrschte eine unglaubliche Euphorie. Man empfand den Erfolg des Films als allgemeinen Sieg, nicht nur den eines individuellen Künstlers. Der Film war nicht mehr nur etwas, das auf Festivals von Kritikern und Kinofans gesehen wurde, es war ein nationales Phänomen. Bei der Weltpremiere von Forushande in Cannes war es ähnlich, es wurde auf Internetseiten landesweit gefeiert, die Leute gratulierten einander gegenseitig. Das ist das größte Geschenk für mich als Künstler. Die Menschen sind stolz, und es macht mich sehr froh und zufrieden, dass ich das mit meinem Land teilen kann. Aber ich muss auch von der anderen Seite sprechen, den radikalen Reaktionen, auch wenn es nur eine kleine Gruppe ist. Sie empfinden einen Film, der außerhalb des Irans reist, als Feind nicht bloß des Regimes, sondern des ganzen Landes, weil es ein vermeintlich schlechtes Bild zeigt. Manche Filme mögen nur die negativen Aspekte unserer Kultur und unserer Politik zeigen, aber ich habe immer versucht, das zu vermeiden. Doch sobald es außerhalb des Landes ein Echo oder Applaus für einen iranischen Film gibt, wird das sofort als Gefahr gesehen und als Komplott gegen das Regime und die Nation. Dagegen kann man wenig tun. Es ist da. Und wir leben unser Leben.

War es schwer, für den Film eine Kinolizenz zu bekommen?

Es war mir von Anfang an wichtig, dass meine Filme im Iran gezeigt werden. Ich hatte Drehbuchstoffe, bei denen klar war, dass sie nur ein auswärtiges Publikum erreichen würden, und deshalb verfilmte ich sie nicht. Ich will, dass man sie in meinem Land sehen kann.

Die Szenen in der Schulklasse haben fast etwas Dokumentarisches. Wie haben Sie mit den Laiendarstellern gearbeitet?

Wir haben zunächst eine Anzeige im Internet geschaltet. Wer in meinem nächsten Film als Darsteller mitwirken wollte, musste einen Dreiminutenclip von sich schicken. Es kamen zehntausend Videos! Und ich musste sie mir alle ansehen. Aber es hat sich gelohnt, ich habe die besten Jugendlichen gefunden, die diese neue, offenere Generation repräsentieren. Ich wollte das Verhältnis dieser Schüler zu ihrem Lehrer zeigen, zu dem sie aufblicken und den sie verehren. Es hat natürlich geholfen, dass Shahab Hosseini, der Emad spielt, im Iran ein Star ist. Sie haben ihn alle angehimmelt, deswegen wirkt es so echt.

Sie hatten ursprünglich ein anderes Projekt geplant, einen Film in Spanien mit Pedro Almodóvar als Koproduzent. Was ist passiert?

Ich bin inzwischen sehr vorsichtig geworden, über geplante Projekte zu sprechen, weil immer wieder etwas dazwischenkommt. Ich war ja auch eine Weile in Berlin und wollte dort einen Film drehen, bin aber zurück in den Iran. Ich sehe den Iran als meinen Mittelpunkt, aber manchmal ist gut, mich eine Weile zu distanzieren und dann wieder zurückzukehren. So ähnlich war es diesmal, ich spürte irgendwann, dass ich meinen nächsten Film in meiner Heimat drehen muss, und so entstand Forushande. Aber diesmal wird es ernst. Wir beginnen demnächst mit den Dreharbeiten, Penélope Cruz und Javier Bardem spielen die Hauptrollen.