Tod auf der Treppe: HBO Max produziert mit The Staircase eine fiktionale Version der berühmten True-Crime-Dokureihe um einen der mysteriösesten Kriminalfälle der Gegenwart.
Manchmal ist es am besten, wenn man vorab nichts weiß, nichts liest und nichts sieht. Das gilt insbesondere für The Staircase, die neue fiktionale Aufarbeitung um den Tod von Kathleen Peterson, der Frau des bekannten amerikanischen Autors Michael Peterson, die am 9. Dezember 2001 tödlich verunglückte. In dieser nachgespielten Version stürzt Peterson in einer Szene tatsächlich so ungünstig die Treppe hinunter, dass sie sich den Kopf aufschlägt und im Schock mit sich selbst kämpft, bevor sie ihr Mann regungslos findet. Zu dem Zeitpunkt hat sie bereits Unmengen an Blut verloren, ist ohnmächtig und stirbt, noch bevor der Notarzt eintrifft. Und ja, so wie Toni Collette hier den Sturz demonstriert, könnte es durchaus gewesen sein. Aber es bleibt eine Fiktion. Die entscheidende Frage ist nach wie vor dieselbe: War es wirklich ein Unfall oder doch ein Verbrechen?
Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft gibt es keinen Zweifel daran, dass Michael Petersen der Mörder ist. Die Szenerie am vermeintlichen Unfallort kommt schon den ermittelnden Beamten in der besagten Nacht fragwürdig vor. Als die Polizei eintrifft, hat Petersen selbst Blutspuren an seinen Händen und im Gesicht. Er wirkt erschüttert und aufgebracht zugleich. Alles deutet auf einen Streit zwischen dem Ehepaar, der handgreiflich wurde und für die erfolgreiche Geschäftsfrau und Mutter einer siebenköpfigen Familie schließlich am Fuß der Treppe endete. Kurz darauf wird Peterson angeklagt. Der beteuert zwar vehement seine Unschuld und engagiert zu seiner Verteidigung David Rudolf, einen der besten Anwälte in North Carolina. Doch auch er kommt nicht gegen die Beweislage an. 2003 wird Petersen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
Dass die Geschichte damit nicht endet, zeigte bereits die gleichnamige Dokureihe des französischen Filmemachers Jean-Xavier de Lestrade, die erstmals im Jahr 2004 auf dem französischen Sender Canal+ ausgestrahlt und sowohl 2012 als auch 2016 im Zuge weiterer Verfahren jeweils um aktuelle Folgen erweitert wurde. Vor vier Jahren veröffentlichte Netflix erstmals die komplette, mittlerweile 13 Folgen umfassende Serie, nachdem der Streamingdienst die letzten drei Folgen ebenfalls mitproduziert hatte. Und man muss sich nicht wundern, warum: Die Faszination um den spektakulären Fall überträgt sich unmittelbar auf die Bilder, die De Lestrade zu einem Großteil unkommentiert lässt. Die Kamera ist intim, ohne aufdringlich zu sein, operiert ruhig und unauffällig, nimmt an vertraulichen Gesprächen der Schlüsselfiguren (darunter Polizei, Staatsanwaltschaft, Verteidiger, Angehörige und Zeugen) sowie den jeweiligen Gerichtsverhandlungen teil, ist stets an Michaels Seite und kommt ihm doch nie ganz auf die Spur.
Wenn man diese Aufnahmen einmal gesehen hat, fällt es zunächst ein bisschen schwerer, sich an Colin Firth zu gewöhnen, der Petersen in der fiktionalen Version mit Haut und Haaren verkörpert. Zwar lassen sich auch bei Firth eine gewisse Ähnlichkeit und gleiche Gesten erkennen und spielt er seinen Part überzeugend und mit absoluter Präsenz. Aber wer Petersen erst einmal 13 Folgen lang gewissermaßen „in natura“ begleitet hat, dem hat sich der Blick eines Mannes ins Gedächtnis gebrannt, der so undurchsichtig ist, das alles möglich sein kann, vieles aber nicht so ist, wie es im ersten Moment erscheint.
Trotzdem hat auch The Staircase nach der Idee von Antonio Campos und Maggie Cohn seinen Reiz – und seine Berechtigung. Denn den Machern der achtteiligen HBO-Miniserie gelingt es durch ein intelligentes Drehbuch, das Rätsel um Peterson als Person noch ein Stück weiter zu verdunkeln und damit gleichzeitig den Fall auf eine spannende Art und Weise noch mehr zu verkomplizieren. Wie ein neuer Störfaktor im Ermittlungsverfahren bohren sich auch die konstruierten Bilder und Narrative mit jeder Episode (von denen insgesamt fünf vorab zu Rezensionszwecken zur Verfügung standen) tiefer in das Bewusstsein der Zuschauer ein. Denn anders als die vorliegende Dokumentation, die sich chronologisch an den Ermittlungen und Gerichtsverhandlungen nach Kathleens Tod entlang arbeitet, springt die Handlung permanent zwischen drei verschiedenen Zeitebenen vor und zurück, wodurch ein noch persönlicherer Zugang zu den Figuren und Geschehnissen entsteht.
Die komplette Familie Peterson inklusive der fünf Kinder – davon zwei adoptiert und drei aus den jeweils ersten Ehen von Michael und Kathleen – wird so im Laufe der einzelnen Folgen unter die Lupe genommen, seziert und als ein komplexes Beziehungsgeflecht präsentiert, das ebenso schwer zu durchschauen ist, wie die Ehe zwischen Michael und Kathleen. Nur für den Staatsanwalt scheint der Fall nach wie vor klar zu sein. Demnach habe Kathleen in der Nacht ihres Todes von dem sexuellen Doppelleben ihres Mannes erfahren – denn der ist, wie sich bald herausstellt, bisexuell. Daraufhin sei es zu der Auseinandersetzung gekommen, in dessen Verlauf Michael Peterson seine Frau getötet habe.
Richtig oder falsch? Das ist die Frage, die auch Campos und Cohn nicht klären können. Aber darum geht es hier nicht. Es geht nicht um die Wahrheit, die sich allein anhand der vorliegenden Fakten ohnehin nicht eindeutig klären lässt. Vielmehr setzen die Macher der Serie auf Authentizität und Glaubwürdigkeit. Einerseits wurden vereinzelt Szenen und Dialoge direkt aus de Lestrade Dokumentation übernommen. Andererseits werden in der Fiktion die Positionen aller Beteiligten bis in die Nebenrollen aus verschiedenen Perspektiven hinterfragt. Die Ereignisse am sowie unmittelbar nach dem 9. Dezember 2001, die das Rückgrat der Handlung bilden, werden mit Rückblenden in die Monate vor Kathleens Tod verknüpft sowie mit Zeitsprüngen in die jüngere Vergangenheit des Jahres 2017, kurz vor dem letzten Urteil.
Auf diese Weise erkämpft sich die fiktionale Version von The Staircase ihren ganz eigenen exklusiven Blick hinter die Fassade sowie einen unschlagbaren Vorteil gegenüber der Dokumentation: Toni Collette als Kathleen bringt nicht nur eine entscheidende Komponente mit ins Spiel, sie ist das eigentliche Mysterium, die ungreifbare Konstante. In ihrem Auftreten als Powerfrau und engagierte Mutter, die in der Familie das Zepter schwingt, verdient sie es, mindestens ebenso so viel Raum einzunehmen, wie ihr unter Mordverdacht stehender Ehemann. Allerdings greift das Drehbuch in den ersten Folgen ausgerechnet in der Charakterisierung ihrer Figur noch zu kurz, so dass man nur hoffen kann, dass es zum Ende hin anders wird. Die eingangs beschriebene Szene, in der sie den Treppensturz simuliert, gehört nichtsdestotrotz schon jetzt mit Abstand zu den stärksten und eindrücklichsten Momenten der Serie insgesamt, für die sich ein Blick allemal lohnt.