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The Way Back

Der Weg und das Ziel

| Alexandra Seitz |

Nach sieben Jahren Pause hat Peter Weir wieder einen Film gedreht: The Way Back, die Geschichte eines 6.500 Kilometer-Marsches durch Zentralasien, ist ebenso reduziert wie opulent, so malerisch wie karg.

Irgendwann können sie nicht mehr aufhören zu gehen. Einfach nicht mehr aufhören. Einfach immer weiter gehen. Weitergehen. Da sind sie schon in Tibet, mitten im Himalaya, und in der Ferne ist Lhasa zu sehen und der Palast des Dalai Lama. Der Winter steht bevor und ein freundlicher Mönch arrangiert eine Unterkunft: bei einem Bauern in einem Dorf für die nächsten zwei, drei Monate. Im Stall ist es warm, die Männer legen sich schlafen. Doch am anderen Morgen fehlt Janusz (Jim Sturgess). Er will nicht warten, bis der Winter vorbei ist. Er will weiter, er will gehen. Und notfalls geht er bis nach Polen, von wo er im September 1939 verschleppt wurde. Und wohin er zurück will, zurück muss, um seiner Frau zu vergeben, die ihn unter der Folter durch die Sowjets als Kommunistenfeind und Spion belastet und damit ans Messer geliefert hat.

Mit dieser Szene, in der eine zerstörte Frau ihren geprügelten Mann „verrät“ und das eigene Entsetzen und die Sorge umeinander nicht ausgesprochen werden dürfen, aber doch einen Weg zum je anderen finden, beginnt Peter Weirs Wanderfilm The Way Back. Es ist eine schreckliche Szene, weil sie zeigt, was auf Jahre, ja Jahrzehnte hinaus die letzte Erinnerung der Eheleute aneinander sein wird. Schuld und Sorge. Angst um den anderen, Unsicherheit über sein Schicksal.

Zudem liefert diese Szene (die zunächst nicht einmal im Drehbuch stand) das Motiv für Januszs Überlebenswillen und die ungeheure Kraftanstrengung, die er in der Folge unternehmen wird. Allerdings wird dieses Motiv angesichts des unspektakulären Geschehens vor spektakulärer Kulisse, das The Way Back letztlich ist, irgendwann fast ein wenig in Vergessenheit geraten. Bis, und da neigt sich die Reise schon dem Ende zu, Janusz im Gespräch mit Mr. Smith sagen wird, dass seine Frau zuhause sich nicht vergeben könne, was sie getan habe. Das könne nur er. Und deswegen müsse er nachhause.

Ja, stimmt, genau, durchfährt es einen da, das ist der Grund. Und es ist ein guter Grund. Ebenso simpel wie zwingend. Schuld, noch dazu solch schwere, muss vergeben werden. Allerdings wird es erst 1989, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, zu einer Geste der Versöhnung kommen, die den Film wie mit einer Klammer schließt.

Tot oder frei

Zunächst aber findet Janusz sich in einem sibirischen Gulag etwa 500 Kilometer nördlich des Baikalsees wieder. „Feinde des Volkes!“, begrüßt der Lagerkommandant die Neuankömmlinge und fährt fort, nicht er und seine Soldaten seien hier eigentlich die Bewacher, sondern Sibirien selbst sei ein 13 Millionen Quadratkilometer großes Gefängnis. Das unwirtliche Land werde jeden Fluchtversuch vereiteln. Denn auch wer die Zäune und die Stacheldrahtverhaue überwinde und der Aufmerksamkeit der Wachen in ihren Türmen entgehe, der sei immer noch mitten im Nirgendwo einer Kälte ausgesetzt, für die ein normales Thermometer nicht mehr ausreicht – und noch dazu entkräftet und unterernährt.

Da ist was Wahres dran. Fluchtversuche werden aber natürlich dennoch unternommen. Wie eben alsbald auch von Janusz und einigen weiteren Leidensgenossen; darunter ein Amerikaner namens Mr. Smith und Valka, ein russischer Mafia-Fußsoldat und Gulag-Kapo, ein Urki, dessen großes Messer namens Wolf ein ebenso großes Argument darstellt. Mit Ed Harris und Colin Farrell sind Mr. Smith und Valka nicht nur geradezu ideal besetzt, es hält auch ein wenig Hollywood-Glamour Einzug in den ansonsten wohltuend unglamourösen Film. Harris bietet seine ganze virile Knorrigkeit, Farrell seine ganze infantile Wildheit auf. Der eine schweigt stolz, fast verbissen, brummt allenfalls Desillusionierendes, macht, was er für richtig hält, selbst wenn es ihn den Kragen kosten kann. Der andere quirlt schalkhaft herum, unangebracht optimistisch, raubtierhaft elegant, tödlich wie (s)ein offenes Messer. Mit beiden legt man sich besser nicht an, beide haben gelernt, in feindlicher Umgebung zu überleben.

Valka wird Mütterchen Russland nicht verlassen. Die Mongolei, die die Wandergruppe nach Monaten mörderischen Marsches schließlich erreicht, ist ihm fremd und nicht geheuer. Dem Gulag zu entkommen und den Spielschulden, war Valkas Fluchtmotiv, die übrigen aber wollen in die Freiheit; und das heißt, in ein Land, in dem nicht der Kommunismus regiert. Auch die Mongolei kann daher nur eine, im Wortsinne, Durchlaufstation sein. Auf die die Wüste Gobi folgt, riesig und trocken und gnadenlos. Dann die Große Mauer. Tibet. Und der Himalaya. Bis die Überlebenden schließlich Indien erreichen.

Angeregt wurde The Way Back von Slavomir Rawicz’ Roman „The Long Walk: The True Story of a Trek to Freedom“. Außerdem Eingang ins Drehbuch fanden Augenzeugenberichte, Erinnerungen und Geschichten, auf die Weir und sein Ko-Autor und ausführender Produzent Keith Clark im Zuge ihrer Recherchen stießen. Lange Jahre galt auch Rawicz’ 1956 erschienener und seither in 30 Sprachen übersetzter Bestseller als historisches, autobiografisches Zeugnis. Bis ein Reporter der BBC vor einigen Jahren nachweisen konnte, dass der Autor im Zuge der 1942er-Amnestie durch Stalin aus dem Gulag entlassen worden war, sein Bericht mithin auf den Erlebnissen anderer beruhende Fiktion sei. Wiederum ein paar Jahre später behauptete ein polnischer WK-II-Veteran, „The Long Walk“ basiere auf seiner Geschichte. Wie auch immer. Bereits 1947 bestätigten verschiedene offizielle Quellen, dass vier polnischen Gefangenen eine solche Flucht und ein derart langer Marsch gelungen sei. Der Kern der Geschichte ist authentisch, mehr ist letztlich nicht entscheidend.

Sinn oder Schau

Das Spektakel in The Way Back wird von der Landschaft veranstaltet. Einer der Mitproduzenten des Films ist das Medienkonglomerat National Geographic Entertainment, das unter anderem auch an den beiden, mit Schauwerten nicht eben geizenden Filmen Die Geschichte vom weinenden Kamel / Byambasuren Davaa, Luigi Falorni, 2003) und Kekexili / Mountain Patrol (Chuan Lu, 2004) beteiligt war. Die für National Geographic typische Hochglanzästhetik und opulente Inszenierung Aufsehen erregender Natur-Motive vermeint man nun in Weirs Film durchaus wieder zu erkennen. (Gedreht wurde übrigens kaum an Originalschauplätzen, sondern in Bulgarien, Marokko und Indien. Der Vollkommenheit und dem Reiz der Aufnahmen tut dies jedoch keinen Abbruch.) Von der US-amerikanischen Kritik wurde dem Regisseur denn auch vorgeworfen, er vernachlässige die Dramatisierung der Ereignisse zugunsten gefällig in Szene gesetzter Oberflächen. Zudem wären die von ihm gelieferten Bilder schlicht zu schön, um etwas von der realen Bedrohung und konkreten Gefährlichkeit zu vermitteln, die die Natur für die Wandernden darstelle. Das greift ein wenig zu kurz und stimmt auch nur, wenn man als Zuschauer mit reduzierter Aufmerksamkeitsspanne darauf geeicht ist, dass auf der Leinwand ständig etwas passiert.

Zwar trifft es zu, dass Weir in Einstellungen schwelgt, die nicht mehr zeigen als Menschen, die gehen, Menschen, die sich durch die Weite und durch die Wildnis mühen. Oftmals genügen ihm als Bildmotiv die Horizontale und die Marschierenden. Oder deren Gesichter mit ihren Wunden und Scharten und Schrunden. „Eine Reise mit metronomhaftem Rhythmus“, nennt es Colin Farrell. Und Ed Harris sagt: „Diese Figuren leben im Moment. Sie atmen ein und aus, setzen einen Fuß vor den anderen.“ Was in The Way Back passiert, gehorcht nicht den Standards des Abenteuerfilms und schon gar nicht den Regeln Hollywoods, sondern ist Ausdruck dessen, was zwischen diesen notgedrungen aufeinander angewiesenen Menschen sich entwickelt und geschieht.

Einmal machen sie fast verhungert einem Rudel Wölfe die Beute streitig, um sich dann sofort selbst wie die Tiere auf die blutigen Brocken zu stürzen.

Ein andermal halten sie erschöpft Rast an einem Bach und kühlen sich die Füße. Mr. Smiths sind zerschunden und blutig, und Irena, das polnische Mädchen, das sie unterwegs aufgegabelt haben und das gleichfalls auf der Flucht ist, wäscht sie ihm.
Mr. Smith lässt es geschehen. Sein Blick drückt das schmerzliche Glück desjenigen aus, dessen Bedürftigkeit erkannt und freigebig mit Zuneigung beantwortet wird. Es ist, als würden Mr. Smith und Irena in diesem Moment zu Vater und Tochter.

Ohnehin, das Mädchen. Irena übernimmt die Kommunikationsfunktion innerhalb des im Gulag schweigsam und hart gewordenen Männerhaufens. Sie erzählt einem jeden, was er vom je anderen nicht weiß. „Redet ihr nicht miteinander?“, fragt sie einmal verwundert. Sie sorgt für den Austausch. Sie bringt etwas Sanftes und Zartes in diesen Film. Wenn sie ein feuchtes Tuch nimmt und sich damit den Nacken kühlt oder wie sie sich die Haare wäscht, das setzt Weir als quasi utopisches Schönheitsbild in Szene. Und lässt es ungefährdet und unangetastet. Das ist romantisch, steht aber eben auch für das, was die Männer sich mit ihrer Freiheit zurückholen wollen. Denn natürlich befürchtet man, als Irena das erste Mal auftaucht, sofort das Schlimmste. Dazu erklärt Ko-Autor Keith Clark: „Wieviel Anstand haben die Männer bewahrt? Hat das Leben im Gulag sie so amoralisch gemacht, dass sie sie als menschliche Beute betrachten? Wenn sie sich entschließen, das Mädchen zu beschützen, ist das aus meiner Sicht ein Akt des Widerstands gegen den Gulag. So als würden sie sagen: Du hast mir meine Menschlichkeit nicht genommen.“

Indem er Irenas Präsenz nicht für Liebeshändel funktionalisiert (was wiederum von der US-amerikanischen Kritik bemängelt wurde, die damit einmal mehr eine erstaunliche Einfallslosigkeit bewies), erzählt Weir auch etwas über das Geschlechterverhältnis und über dessen Sexualisierung, Brutalisierung und Ausbeutung im Gegenwartskino.

In The Way Back gibt es keine künstliche Aufregung, keine artifizielle Zuspitzung, keine aufgezwungene Dramaturgie. Weir setzt dem etwas anderes entgegen: Nächstenliebe, Kameradschaft, Gemeinsamkeit, Zusammenhalt. Menschen, Landschaft, Dialog. Fertig.

Als Tamasz, der gut zeichnen konnte, im Sterben liegt, schauen sich alle gemeinsam noch einmal seine Bilder an und loben deren Qualität. Sie bereiten ihrem Weggenossen eine Freude und Tamasz stirbt nicht nur als freier Mann, sondern auch als glücklicher.

Für die anderen gibt es schließlich in Indien ein großes Hallo auf der Teeplantage: Woher sie denn kämen, fragt neugierig der Dorfvorstand. Aus Sibirien. Und wie sie unterwegs gewesen seien? Zu Fuß. Vom Baikalsee in die Mongolei, durch die Wüste Gobi, an der großen Mauer vorbei über den Himalaya. Es ist ganz einfach und sehr archaisch. Als konkretes Ereignis, jenseits des Fantastischen, ist es zudem ungeheuer beeindruckend.