Die einzige Zeugin
Der Iraner Nader Saeivar hat sich trotz eines bislang eher schmalen Werks bereits einen Namen im internationalen Festivalbetrieb gemacht: 2018 konnte er in Cannes für Drei Gesichter zusammen mit Regisseur Jafar Panahi den Preis für das Beste Drehbuch entgegennehmen. Seaivars eigenes Spielfilmdebüt, Namo (wieder hatte er das Drehbuch mit Panahi verfasst), stieß 2020 bei der Berlinale auf positive Resonanz, für seine zweiten Regiearbeit No End gab es insgesamt fünf Auszeichnungen auf diversen Festivals, und für seine aktuelle Arbeit The Witness konnte Saeivar bei den Filmfestspielen von Venedig den Publikumspreis entgegennehmen – keine schlechte Bilanz.
Im Zentrum von The Witness steht Tarlan, eine pensionierte Lehrerin mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, die immer noch gewerkschaftlich engagiert ist und sich für die Freilassung inhaftierter Lehrer einsetzt (dass sie Zeugin der 78er-Revolution war, verbindet Vergangenheit und Gegenwart). Auch ihren Sohn versucht sie freizubekommen. Tarlans leibliche Tochter Ghazal ist noch Teenagerin, ihre Stieftochter Zara ist verheiratet und betreibt ein Tanzstudio. Zaras Mann, der für die Regierung arbeitet, empfindet den Beruf seiner Frau, die ihre Tanzvideos online teilt, jedoch als zunehmend problematisch für seine Stellung. Als Tarlan Spuren von Gewalt an Zaras Körper entdeckt, versucht sie, ihre Stieftochter zu schützen. Doch schließlich passieren noch schrecklichere Dinge, die Tarlan in einen Gewissenskonflikt stürzen: Sie nimmt, nachdem die Polizei ihr Hilfe verweigert, die Dinge selbst in die Hand – und muss zwischen Gerechtigkeit (in welcher Form auch immer) und dem Wohlergehen ihrer Familie entscheiden.
Saeivar verbindet Einzelschicksale mit einem Thriller, der vom Kampf gegen politische Unterdrückung erzählt. Trotz gelegentlicher Symbolik inszeniert der Regisseur betont nüchtern in minimalistischen Settings und gibt vor allem Hauptdarstellerin Maryam Bobani (Tarlan) Gelegenheit zum Glänzen. The Witness stieß auch deshalb auf das Interesse des Feuilletons, weil es sich um Jafar Panahis erste Mitarbeit an einem Film seit 2022 handelt – er fungiert hier als Editor, Ko-Drehbuchautor und künstlerischer Berater. Der vielfach prämierte Panahi hat im Iran eigentlich Berufsverbot, schaffte es aber mit Mut und Kreativität immer wieder, Projekte umzusetzen. 2022 musste er eine mehrjährige Haftstrafe antreten, konnte das Gefängnis nach einem Hungerstreik und Zahlung einer Kaution jedoch 2023 wieder verlassen. Somit erzählt The Witness auch außerhalb der filmischen Ebene von einem Kampf gegen das System – und von einem kreativen Willen, der sich nichts verbieten lässt.