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Österreich. Ein Dossier

Theater und Volkstheater

| Andreas Ungerböck :: Jörg Schiffauer |
Am 11. Juni feiert Filmemacher und Autor Götz Spielmann seinen 60. Geburtstag. Zu diesem Anlass blicken wir ausnahmsweise nicht zurück auf seine große Kinoerfolge, sondern auf seine zu Unrecht weniger bekannten Fernsehfilme.

Götz Spielmanns Karriere begann früh: Schon 1978, als er gerade einmal 17 und noch Gymnasiast war, wurde sein Film Es geht nicht, Steiner im Fernsehen gezeigt, was ihn, wie er sagt, „für einen Tag berühmt“ machte. Auch seine drei an der Filmakademie entstandenen Filme Fremdland, Abschied von Hölderlin und die Abschlussarbeit Vergiss Sneider! sorgten für Aufsehen. 1991 erschien sein viel beachtetes Langfilmdebüt Erwin und Julia mit Julia Stemberger und Heinz Weixelbraun, und 1993 die mit dem Wiener Filmpreis ausgezeichnete Milieustudie Der Nachbar mit Dana Vávrová, Wolfgang Böck und Rudolf Wessely. Bis er wieder einen Kinofilm drehen konnte, nämlich die schöne Genre-Paraphrase Die Fremde (1999) mit Goya Toledo und Hary Prinz, vergingen etliche Jahre. Dass dazwischen zwei sehr beachtenswerte ORF/ZDF-Ko-Produktionen entstanden, ist längst nicht so allgemein bekannt wie seine späteren Kino-Welterfolge.

DIE GROSSE CHANCE
Dieses naive Verlangen (1992), erzählt Götz Spielmann im Gespräch, entstand, nachdem ihn der damalige ORF-Redakteur Werner Swossil anrief und fragte, ob er einen Stoff in der Schreibtischlade habe – es gäbe eine Lücke, weil gerade ein Projekt ausgefallen sei. „Ich sagte: ,Morgen habe ich etwas für Sie‘. Am nächsten Tag um 18 Uhr hatte ich ein Exposé fertig, und es gefiel ihm“, sagt Spielmann. Parallel zur Schnitt-Arbeit an Der Nachbar schrieb er dann das Drehbuch zum Fernsehfilm. War Fernsehen damals nicht verpönt unter den angehenden Kino-Regisseuren? „Ich habe das Verhältnis von Kino zu Fernsehen immer wie das zwischen etabliertem Theater und Volkstheater gesehen. Es war auf jeden Fall eine Chance, ein viel größeres Publikum zu erreichen. Und so leicht war es damals für uns nicht, in den ORF überhaupt hineinzukommen, also war es mir schon wichtig, diese Möglichkeit zu nützen.“ Mit „Volkstheater“ meint Spielmann natürlich Autoren wie Raimund oder Nestroy: „Johann Nestroy schrieb ja fünf, sechs Stücke pro Jahr, die von sehr vielen Menschen gesehen wurden.“ Auch wenn Dieses naive Verlangen sicher nicht die Leichtigkeit eines Nestroy-Stücks hat, kam der Film sowohl ORF-intern als auch bei der Ausstrahlung 1993 sehr gut an und wurde nicht von ungefähr mit dem Erich-Neuberg-Preis für die beste Fernsehregie ausgezeichnet.

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Spielmann beobachtet drei miteinander befreundete Männer um die 30, die allesamt an einem Kreuzungspunkt ihres Lebens stehen, und er webt aus den Beziehungen der drei untereinander und zu den Frauen um sie herum eine dichte, stimmige Erzählung mit einer fein nuancierten Charakterzeichnung – mit der Hellsicht, Sorgfalt und Zuneigung, die längst ein Markenzeichen seiner Arbeit geworden ist. Dass er sich mit einem der drei Männer identifiziert hätte, stellt Spielmann in Abrede, auch nicht mit Max (Ulrich Reinthaller), einem angehenden Architekt/Filmemacher, der viel grübelt und an sich zweifelt und nachts Taxi fährt. Konrad (Rainer Egger) ist ein junger Anwalt, der seinen ersten Job hinschmeißt, weil in der Kanzlei fragwürdige Dinge laufen. Werner (Wolf Bachofner) schließlich ist Schauspieler, eben erst aus der deutschen Provinz nach Wien zurückgekehrt und ebenfalls in einer Sinnkrise, was Beruf und Privates betrifft. Am
Ende gibt es einen Aufbruch: Max entzieht sich dem für diese (Wiener) Bohemien-Szene typischen ewigen Pläneschmieden, dem keine Taten folgen, der Larmoyanz und dem Selbstmitleid. Er unternimmt doch noch einen Anlauf, seiner Berufung zu folgen und macht sich auf in die USA, um dort an einer Kunstschule zu studieren.

Der Erfolg von Dieses naive Verlangen machte es möglich, dass Spielmann wenig später einen weiteren Film für ORF/ZDF realisieren konnte. In Die Angst vor der Idylle (1994) stellt Spielmann fast spiegelbildlich die Befindlichkeiten der in etwa selben sozialen Schicht dar – diesmal allerdings anhand von drei jungen Frauen. Die Männer spielen hier eine geringe und zum Teil nicht sehr schmeichelhafte Rolle. Im Mittelpunkt steht die Radiojournalistin Sandra (Margot Vuga), die in einer mäßig glücklichen Beziehung mit Konrad lebt. Claudia (Regina Fritsch) ist mit ihren Eltern heillos entzweit, eine Konstellation, über die Sandra soeben eine Reportage gemacht hat. Neugierig geworden, begibt sie sich auf die Suche nach Claudia und findet sie bei einem Pornodreh – Ausdruck ihrer Revolte gegen die überfürsorglichen Eltern. Karin (Katharina Stemberger) wiederum lebt in einer vermeintlich intakten Beziehung und bekommt ein Kind, allerdings hat sie starke Zweifel an ihrer eigenen „Reife“ und der ihrer Partnerschaft („Das darf man ja gar nicht laut sagen“, meint sie einmal zu Sandra). Und dann ist da noch Anna (Roswitha Sokoup), die alleine lebt und von den vier Frauen wohl am weitesten ist, was ihre Position im Leben und ihr Selbstverständnis betrifft. Letztlich aber schafft Sandra es, Claudia dazu zu überreden, sich mit den Eltern zu versöhnen, und sie selbst emanzipiert sich – privat ebenso wie beruflich.

SCHNITZLER, MEISTERLICH VERFILMT
Die Arbeit an Die Angst vor der Idylle fiel ihm, erinnert sich Götz Spielmann, „sehr schwer, denn natürlich war mir die Charakterisierung von Männern geläufiger als die von Frauen.“ Zahlreiche Gespräche mit befreundeten Frauen und Kolleginnen brachten ihn schließlich weiter als „die vielen feministischen Bücher, die ich gelesen habe und die mich eher ratlos gemacht haben, sieht man von Simone de Beauvoirs ,Das andere Geschlecht‘ und Christiane Oliviers ,Jokastes Kinder‘ einmal ab.“ Ausgestrahlt wurde der Film erst 1996, und diesmal, anders als Dieses naive Verlangen, nicht im Hauptabendprogramm, sondern „irgendwann in der Nacht, um 22.30 Uhr oder so, denn inzwischen hatte Gerhard Zeiler den ORF übernommen und zu einer Art Privatsender mit ,Formaten‘ anstatt von Sendungen gemacht.“

Neben vielen anderen bemerkenswerten Aspekten der beiden Filme ist, auch das kennt man längst, Spielmanns einfühlsame Arbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern zu beobachten, von denen die meisten sich gerade erst in einem frühen Stadium ihrer Karriere befanden – neben den schon genannten waren das unter anderem Herbert Föttinger, Sandra Cervik, Marcus Bluhm, Nicole Fendesack oder Elke Hartmann. „Das war und ist mir sehr wichtig, und dabei habe ich nie auf Namen geschaut. Das waren Leute, die genauso im Aufbruch begriffen waren wie ich, die jung waren und arbeiten wollten, und ich muss sagen, auch von Seiten des ORF gab es da ein großes Vertrauen und keinerlei Vorgaben, dass ,diejenige‘ oder ,derjenige‘ da mitspielen müssten. Vertrauen war ein wichtiger Faktor, das war schon sehr gut.“

Der anhaltende Höhenflug diverser Streaming-Dienste sorgt zurzeit für einen gehörigen kreativen Schub, der es Filmschaffenden ermöglicht, auf inhaltlicher und formaler Ebene Experimente zu wagen, die im Kino nur mehr – wenn überhaupt – unter großen Schwierigkeiten umzusetzen sind. Auch das Fernsehen traditionellen Zuschnitts hat sich in jüngerer Vergangenheit zusehends zu jener Spielfläche entwickelt, die etwa dem gehaltvollen Genrefilm – der Fachbereich Krimi sei hier nur beispielhaft angeführt – primär zu Verfügung steht.

Eine Situation, die sich zu Beginn des Millenniums noch deutlich anders dargestellt hatte, der heimische Film war da keine Ausnahme. Die zunehmende Reputation des österreichischen Films eroberte man sich primär auf der Kinoleinwand, die Zeit herausragender TV-Produktionen, wie der Alpensaga oder der Arbeiten Axel Cortis, schienen Vergangenheit. Die Entscheidung von Götz Spielmann, 2001 mit Spiel im Morgengrauen eine Fernsehproduktion zu inszenieren, hatte also durchaus auch ein nonkonformistisches Element.

Im Mittelpunkt der Adaption von Arthur Schnitzlers gleichnamiger Novelle steht der von Fritz Karl gespielte Wilhelm Kasda, Leutnant der k.u.k. Armee, der an einem Sommermorgen 1914 unerwartet Besuch von Otto von Bogner (Götz Spielmann selbst), einem ehemaligen Offizierkameraden, erhält. Bogner befindet sich in einer prekären Lage, um die Arztrechnungen für seinen kleinen Sohn bezahlen zu können, musste er eine unerlaubte Anleihe von 980 Kronen aus der Firmenkasse nehmen, die er nicht zurückzahlen kann – und das angesichts einer überraschend angesetzten Revision. Kasda, so der völlig verzweifelte Bogner, sei seine letzte Chance. Wenn er ihm nicht das Geld leihen könne, müsse er sich erschießen. Kasda verfügt jedoch nicht annähernd über eine solche Summe, und obwohl er seine Verachtung für das „unehrenhafte“ Verhalten Bogners kaum verbergen kann, verspricht Kasda, einen Versuch zu unternehmen, ihm zu helfen. Wie fast jeden Sonntag fährt Leutnant Kasda nach Reichenau aufs Land, wo er an einer hoch dotierten Kartenpartie teilnimmt – ein eventueller Gewinn könnte die Lösung für Bogners Dilemma sein. Zunächst läuft es ausgesprochen gut am Kartentisch, doch am Ende hat Kasda schwer verloren, er schuldet Konsul Schnabel 11.000 Kronen – und der besteht auf Rückzahlung innerhalb eines Tages. Kasdas einzige Hoffnung, diese unfassbare Summe aufzutreiben, ist sein Onkel Robert, doch der vermögende ältere Herr ist mittlerweile ausgerechnet mit jener Frau verheiratet, mit der Kasda vor einigen Jahren eine kurze Affäre hatte, die der Offizier reichlich unschön beendete.

Spiel im Morgengrauen erweist sich zunächst als famose Literaturverfilmung, die mit einem präzisen Erzählduktus die für Arthur Schnitzlers Werke typische Atmosphäre – auch dank eines bis in die Nebenrolle exzellentes Schauspielerensemble, das neben Fritz Karl u.a. Birgit Minichmayr, Karlheinz Hackl, Nina Proll, Peter Matic und Florian Teichtmeister umfasst – kongenial widerspiegelt. Der bevorstehende gesellschaftliche Umbruch, der in jenen Tagen, in denen die Geschichte angesiedelt ist, latent spürbar war, wird zu einer Art Leitmotiv: Die Monarchie, das „ancien regime“ samt seinen zu Ritualen verkommenen Erstarrungen, sieht sich immer öfter mit der neuen Zeit konfrontiert. Leutnant Kasda und der Konsul – auch wenn der ein penetrant unangenehmer Repräsentant einer anderen Ära ist – verkörpern dabei exemplarisch diesen Antagonismus, der in einem Konflikt münden muss. Doch Spiel im Morgengrauen entwickelt eine Dimension, die über die Ebene eines Dramas vor einem historischen Hintergrund hinausgeht.

Das Dasein des Leutnant Kasda, das durch ein starres Regelwerk – geschriebene und ungeschriebene wie die oft zitierte „Offiziersehre“ – scheinbar in genauen Bahnen verlaufen sollte, wird vielmehr durch reine Zufälligkeiten bestimmt. Ein um eine Minute verpasster Zug lässt ihn etwa zum Kartenspiel zurückkehren, und erst dann erleidet er jene hohen Verluste, die seinem Leben eine dramatische Wendung verleihen. Ein Determinismus, der sich in der Schluss-Sequenz in einer viel größeren Dimension manifestiert: Weil es Leutnant Kasda nicht gelingt, seine Schulden zu begleichen und er damit gegen den im Militär vorherrschenden Ehrenkodex verstoßen hat, nimmt er sich das Leben. Kurz danach trifft die Nachricht von der Ermordung Erherzogs Franz Ferdinand in Sarajewo ein; obwohl offene Spielschulden in dieser Situation selbst innerhalb der Offizierskaste kaum jemanden interessiert hätten, der Suizid nun selbst in dieser Hinsicht sinnlos ist, erscheint Kasdas Selbsttötung nur die Vorwegnahme des unausweichlichen Sterbens, das Millionen im Verlauf des Ersten Weltkriegs erleiden sollten.   

„Es wird noch einige Zeit brauchen, ehe Schnitzler uns auf dem Umweg über die Zeitlosigkeit wieder erreicht und ehe uns die gesellschaftlichen Voraussetzungen seiner Probleme so gleichgültig werden, dass wir die Gültigkeit der Probleme selbst erkennen.“ schrieb Friedrich Torberg 1967 – Götz Spielmann hat mit Spiel im Morgengrauen die angesprochene Gültigkeit von Arthur Schnitzlers Vorlage evident gemacht.

Acht lange Jahre sind seit Götz Spielmanns letztem Film Oktober November vergangen. Umso erfreulicher ist es, zu hören, dass er im August dieses Jahres im Waldviertel einen von ihm selbst geschriebenen ORF-„Landkrimi“ mit Fritz Karl drehen wird. „21 Tage Drehzeit, das ist nicht viel, um die Tiefe und Genauigkeit in den Film zu bringen, die mir immer wichtig ist. Aber es ist eine reizvolle Aufgabe.“ Wird das eine richtig blutige Angelegenheit oder eher ein Meta-Krimi? Götz Spielmann: „Ich kann nur soviel verraten, dass der Film alle Anforderungen erfüllen wird, die man an einen Fernsehkrimi hat, dass aber die Geschichte nicht unbedingt so erzählt wird, wie man das klischeehafter Weise erwartet.“ Und ist das beim Fernsehen möglich? „Ich habe nur positives Echo bekommen, und die Redakteurin beim ZDF meinte sogar, es sei erstaunlich, was man aus einem scheinbar so durchdeklinierten Genre noch herausholen könne.“ Man darf also gespannt sein.