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Tod auf dem Nil

Filmkritik

Tod auf dem Nil

| Marc Hairapetian |
Künstliche Grandezza

„Die große Ambition der Frauen ist die Ermutigung zur Liebe“, sagt nachdenklich der an die Reling gelehnte Peter Ustinov als Hercule Poirot zu David Niven/Colonel Johnny Race, während die majestätische Orchestermusik von Nino Rota noch mal aufbrandet. Was für ein Schlusspunkt! Tod auf dem Nil von John Guillermin aus dem Jahr 1978 ist ein zum Niederknien schöner Film. Was will man da noch besser machen? Egal, hat sich wohl der stets selbstbewusste Sir Kenneth Branagh gedacht. Frei nach dem Motto: Ich präsentiere einfach meine Version – und wenn es sein muss, auch auf Teufel komm raus! Während seine Neuverfilmung von Mord im Orient-Express (2017) noch ein kapriziöses Who Is Who mit übertriebener Geste war, in dem die an sich löbliche 70mm-Fotografie schrecklich digital überarbeitet wurde, entpuppt sich seine Adaption des Bestsellers von Agatha Christie (1890–1976, verkaufte Gesamtauflage über zwei Milliarden Bücher!) optisch als eher durchschnittliches Verwirrspiel, indem die Humanisierung des mit seinen logischen Fähigkeiten nahezu übermenschlichen, natürlich von Branagh selbst verkörperten Meister-Detektivs (und Gourmets) Hercule Poirot in den Vordergrund rückt.

Die schöne Millionenerbin Linnet Ridgeway (Gal Gadot) schockiert ihr Umfeld, indem sie urplötzlich den notorisch klammen Simon Doyle (Armie Hammer) ehelicht und damit zugleich ihrer besten Freundin Jacqueline de Bellefort (Emma Mackey) den Verlobten wegschnappt. Die Verlassene stalkt das junge Paar daraufhin – sogar während der luxuriösen Hochzeitsreise auf dem Nil. Die sonst nicht gerade zartbesaitete Linnet bekommt es verständlicher Weise mit der Angst zu tun. Sie bittet deshalb Hercule Poirot, ein wachsames Auge auf Jacqueline zu werfen. Doch es dauert nicht lange, bis Linnet tot aufgefunden wird. Zu den Verdächtigen zählen ihr Dienstmädchen Louise Bourget (Rose Leslie), ihr Treuhänder Andrew Katchadourian (Ali Fazal), die Musikerinnen Salome und Rosalie Otterbourne (Sophie Okonedo und Letitia Wright) sowie die Malerin Euphemia (Annette Bening).

Die überbordende Grandezza, mit der der nordirische Regisseur und Schauspieler mit seinem Drehbuchautor Michael Green (Blade Runner 2049) hier zu Werke geht, wirkt aufgesetzt, ja, sogar künstlich. Es menschelt zu sehr, wenn er aus der reinen Beobachterrolle den kniffligen Fall löst. Kein Vergleich zu Peter Ustinov. Die Verdächtigen hingegen sind in der gestrafften Kinoversion (hier mehr noch als bei Guillermin) zu blass skizziert, um auch schon vor dem erst nach der Hälfte der zweistündigen Spielzeit stattfindenden Mord zu fesseln. Und dies trotz des Drehs in Marokko und einer eindrucksvollen Nachbildung des Tempels von Abu Simbel (Ägypten) hat die 2020er-Adaption nicht die imposanten Schauwerte des Leinwandklassikers von 1978. Vom Soundtrack eines Nino Rota ganz zu schweigen. Die aufgepfropft wirkende Popmusik war schon im Trailer deplatziert.

Fast spannender ist da die Geschichte hinter der von Sir Ridley Scott mitproduzierten Verfilmung: Der Release ließ auf sich warten, weil sich erst die Übernahme der Fox durch Disney verzögerte, dann legte die Covid-19-Pandemie die Auswertung lahm, und schließlich wurde Tod auf dem Nil auch noch die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Armie Hammer torpediert, der zudem Kannibalismus-Phantasien in den sozialen Netzwerken ausgelebt haben soll. Da ein Nachdreh mit Neubesetzung außer Frage stand, wartete der Konzern die Beweisaufnahme des Los Angeles Police Department (LAPD) ab. Als man angeblich nichts strafrechtlich Belastendes fand, gab Disney grünes Licht für den Kinostart. Das war auch eine wirtschaftliche Entscheidung, hatte doch Branaghs Mord im Orient-Express mit 353 Millionen Dollar mehr als das Sechsfache seiner Kosten eingespielt. Und wohl auch deswegen hat Branagh schon weitere Verfilmungen der insgesamt 66 Krimis Christies (unzählige Kurzgeschichten nicht mitgezählt) „angedroht“: „Ich denke ihre Gedankenwelt bietet riesige Möglichkeiten.“ Wahrscheinlich demnächst: Das Böse unter der Sonne?