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Der amerikanische Patient

| Roman Scheiber |
In Steven Soderberghs historischer Chirurgen-Serie „The Knick“ findet der Eingriff am offenen Herzen der Gesellschaft statt.

Die zweitwichtigste Figur in The Knick ist ein Afroamerikaner. „Dr. Negro“ oder „Dr. Darky“ wird er mitunter abschätzig genannt, angesehen wird er nicht wie ein Arzt, sondern wie ein Neger. „The patient doesn’t need a shoeshine, he needs a doctor“, zählt noch zu den harmloseren, weil bloß verbalen Tritten, die Dr. Algernon Edwards (charismatisch: André Holland) einstecken muss, seit er nach New York gereist ist, um seine Stelle im Knickerbocker Hospital anzutreten. Sein Abschluss als Jahrgangsbester der Harvard Medical School hat hier ungefähr den Wert einer Besucherkarte. Auch der neue Chefchirurg des Knick begegnet ihm mit unverhohlener Ablehnung.

New York, um das Jahr 1900. Es ist eine Zeit sozialer Unruhen in Amerikas rasant wachsender Metropole. In nur zwanzig Jahren hat sich die Bevölkerungszahl auf fast dreieinhalb Millionen nahezu verdreifacht. Dementsprechend überfordert sind die Krankenhäuser. Von validen Diagnoseverfahren keine Rede, Seuchenvorsorge ist ein Fremdwort, die Medizintechnik steckt in ihren Anfängen. In The Knick sind Chirurgen zugleich Erfinder und Ingenieure ihrer prototypischen Hilfsapparate. Hygienestandards erfordern weder Gesichtsmasken noch Handschuhe. Das gesamte Metier der Chirurgie funktioniert nach dem Prinzip trial and error: Operationen sind ein Wettlauf gegen den Blutverlust, wer sich unters Messer legen muss, dessen Lebenserwartung sinkt signifikant.

Im Zentrum von The Knick steht der besagte Chefchirurg Dr. John W. Thackery (Clive Owen in Bestform), der einen der begabtesten und innovativsten Ärzte seiner Zeit vorstellt. Sein Lebensmittelpunkt ist das Spital, seine Treibstoffe sind Ehrgeiz und Drogen, sein Refugium eine Opiumhöhle, wo er seltene Schlafpausen einlegt und doch wieder nur von Träumen von seinem vorzeitig verstorbenen Mentor heimgesucht wird. Dort, also im Puff, lernen wir Thackery in der Einstiegsszene kennen. Seine Konkubine weckt ihn, eilig besteigt er eine Kutsche Richtung Spital. Im Close-up sehen wir, wie er sich etwas in den Fuß injiziert, und dazu hören wir zum ersten Mal die eingängige, minimalistisch elektronische und insofern konventionsbrechende Soundscape, die Cliff Martinez für die Serie ausgetüftelt hat.

The stakes are so high

Oberflächlich betrachtet, verbindet The Knick zwei Phänomene des Serienfernsehens: die ungebrochene Popularität von Kranken(haus)geschichten und den anhaltenden Trend zu seriellen Period pieces. Wie hätte der Ururonkel von Dr. House seine Patienten behandelt? Wie sahen chirurgische Eingriffe aus, als Ärzten noch kein High-Tech-Instrumentarium zur Verfügung stand? Nach der Lektüre des Skripts von Jack Amiel und Michael Begler war Steven Soderbergh, der mit medizinisch-pharmazeutischen Thrillerstoffen vertraut ist (Contagion, Side Effects), sofort infiziert. „It was about everything I’m interested in ­– science, medicine, problem solving, knowledge creation, race, class, the social contract“, erklärte Soderbergh, der sich erst ein paar Monate zuvor öffentlich vom fiktionalen Filmerzählen verabschiedet hatte, der „New York Times“ seinen Rücktritt vom Rücktritt. Nun verantwortet er Koproduktion, Regie, Kamera und Schnitt jeder einzelnen Episode. Einen Mitgrund, warum die Arztserie als Genre nicht totzukriegen ist, kennt Soderbergh so gut wie jeder Hypochonder und jeder Doctor-Show- Junkie: „The stakes are so high.“

Geschichtliche Akkuratesse verbriefte sich die produzierende HBO-Tochter Cinemax (eine zweite Season ist bereits beauftragt), indem sie den Medizinhistoriker Stanley Burns als Fachberater verpflichtete. Burns ist der Inhaber eines der bedeutendsten Medizinarchive der Welt. Wenn der Zuschauer also, noch näher dran als die staunenden Doktoren im Auditorium bei Vorzeige-Operationen, sieht, wie verlorenes Blut mit händisch betriebenen Kurbeln in den Patientenleib zurückgeleitet wird, soll er davon ausgehen, dass es damals genau so war. Und weil von derlei Dingen ziemlich viel zu sehen ist, ist Menschen mit empfindlichem Magen The Knick nur bedingt zu empfehlen. Die Serie gefällt sich in einer expliziten, an Stellen ausgedehnten Darstellung der Eingriffsprozeduren, welche mitunter in den Gore abzugleiten droht – auch, wenn Thackery zu Forschungszwecken tote Säue aufschneidet.

Neben den plastischen Details aber, und das macht The Knick erst richtig spannend, geht es den Schöpfern um das größere Ganze. Im Spital treffen Klassen, Rassen, Generationen und Geschlechter aufeinander, und so lassen sich hier auch die Grundstrukturen der Gesellschaft trefflich sezieren: Autoritäts-, Macht- und Genderverhältnisse, Trennlinien und Verbindungsnähte zwischen schwarzem Doktor und weißer Spitalsmäzen-Tochter (Juliet Rylance, ein Casting-Glücksgriff), zwischen Chefchirurg und Krankenschwester (ätherisch: Eve Hewson, Tochter von U2-Frontmann Bono), zwischen konservativem Arztvater und freigeistigem Arztsohn und natürlich zwischen Arm und Reich. Wenn ein Mann mit lauter infizierten Bisswunden eingeliefert wird, erinnern wir uns an den geldwerten Schaukampf Mann gegen Ratten im Intro dieser Episode.

Ein hübscher Kniff der Autoren ist, die chronische Unterfinanzierung des Gesundheitswesens augenzwinkernd in ihre Medical-History-Show einzubauen. Dem Verwaltungsdirektor (für Comic relief zuständig: Jeremy Bobb) wird von einem launigen Gangster so nebenbei ein gesunder Zahn gezogen? Na hätte er dem Mob halt rechtzeitig den Kredit zurückgezahlt! Einfallsreiche Elemente wie ein direkt ins Knick durchschlagender Engpass auf dem Weltmarkt für Kokain (damals ein von allen Spitälern benötigtes Allheilmittel) oder die Vermarktung von Gesundheitswässerchen mit berühmten Doktorennamen kostet die Serie genüsslich in allen dramaturgischen Feinheiten aus.

Rewriting history

Die Kühle, die Soderberghs Inszenierungen oft kennzeichnet, ist auch in The Knick spürbar. „Coole“ Musik, lässiger „Look“: Im Unterschied zu manchen Kinofilmen Soderberghs bilden sie in seinem ersten seriellen Film eine gehaltvolle Entsprechung zum durchweg modernen Blick auf eine technisch und ökonomisch erfindungsreiche wie gesellschaftlich umbrechende Zeit. Das vielleicht beste Beispiel dafür ist die eingangs erwähnte Figur des Dr. Edwards. Lose auf einem der ersten afroamerikanischen Chirurgen der Geschichte basierend, folgt diese einem klaren, zeitgemäßen Auftrag: Wegen ihrer Hautfarbe diskriminierten Menschen auf dem Gebiet filmfiktionaler „Geschichtsschreibung“ endlich den ihnen gebührenden Platz einzuräumen. In dieser Hinsicht wandelt The Knick auf den Spuren mehrerer, vor allem aber zweier Kinofilme, die ihren jeweiligen Oscar-Erfolg nicht zuletzt eben diesem selbst gewählten Auftrag verdanken, obwohl in durchaus unterschiedlichen Sphären ausgeführt: Django Unchained (2012) im popkulturell gewitzten Rache-Universum Quentin Tarantinos, 12 Years a Slave (Steve McQueen, 2013) im tränentreibenden Arthouse-Mainstream. Wie in geringerem Maß auch andere History-Serien, etwa das ein paar Dekaden früher ebenfalls in New York angesiedelte Immigranten-Drama Copper (2012–2013, siehe Bonuskasten auf S. 86), fügt sich The Knick in einen durch die Pionierpräsidentschaft Obamas womöglich mitangestoßenen Trend: starken, talentierten und/oder mehrschichtigen schwarzen Charakteren (historischen oder historisch gut fingierten) quasi rückwirkend einen Raum zu öffnen, den solche Figuren im Verlauf der Filmgeschichte selten betreten durften.

Von den bornierten weißen Kollegen ignoriert, etabliert Edwards im Untergeschoß des Knick eine geheime Praxis, um seine schwarzen Mitbürger behandeln zu können. In diesen Szenen kommt die seismografisch-detektorische Qualität von The Knick gleichnishaft zum Ausdruck: Die Veränderung gesellschaftlicher Normen beginnt im Verborgenen, lange vor der öffentlichen Umwälzung. So dunkel, dreckig, feucht und verboten kann es im Keller gar nicht sein, dass ein sozial denkender Arzt nicht wenigstens dort seiner Berufung nachkommt, wenn es denn anders nicht geht. Noch während der ersten Season wird Dr. Algernon Edwards aus den Katakomben des Knick in den lichtdurchfluteten Auditoriums-OP aufsteigen. Viele interessante Figuren mögen ihm folgen in der Mission, von der Filmgeschichte bislang vernachlässigte Menschen breitenwirksam ins rechte Licht zu rücken.