In der Titelrolle der Serie „Boss“ zeigt Kelsey Grammer, was in Dr. Frasier Crane sonst noch steckt. Alle Mann in Deckung!
Der Bürgermeister von Chicago ist ein übler Schurke. Ein schlimmer Finger. Korrupt. Skrupellos. Menschenverachtend und zynisch. Zudem sterbenskrank. Lewy-Körperchen-Demenz heißt sein Gebrechen und ist die nach dem Morbus Alzheimer zweithäufigste neurodegenerative Demenz; zur Hebung der Moral trägt sie jedenfalls nicht bei. Als Tom Kane, so des Bürgermeisters Name, die Diagnose Hirnfraß – zusammen mit einem Zeitfenster von drei bis fünf Jahren kontinuierlichen Verfalls – erhält, passt ihm das freilich gar nicht ins Konzept. Er steht kurz vor der Wiederwahl und wie soll er die gewinnen, wenn er statt seines Teams weiße Mäuse sieht oder ihn am Rednerpult der Tremor packt? Höchst ungelegen kommt das Ganze. Noch dazu kann einer wie er nicht einfach in eine Apotheke marschieren und einen Sack voll pharmazeutischer Hämmer einkaufen. Er ist schließlich der Bürgermeister, ihn kennt die ganze Stadt! Also shoppt er nächtens in einer dunklen Ecke bei einem zwielichtigen Tablettendealer, das Basecap tief ins Gesicht gezogen und statt des teuren Sakkos Windjacke tragend. Grüne Scheine gegen braunes Papiersackerl, nervös und hastig ausgetauscht. Angst vor Entdeckung. Angst vor Beschämung. Angst vor Schwäche. Und niemand, dem er sich anvertrauen kann. Seine Gattin wahrt längst nur noch den Schein; sie erfüllt offizielle Pflichten und knipst dann ein strahlendes Lächeln an, das jenseits der Scheinwerfer sofort wieder erlischt. Auch die Tochter ist ihm entfremdet, verloren gegangen, gläubig geworden und nunmehr Laienpredigerin in irgendeiner Kirchengemeinde in irgendeinem armen Viertel, beschäftigt in der angegliederten, gemeinnützigen Krankenstation. Sie will nichts von Eltern wissen, die sie ihres Drogenproblems wegen seinerzeit des gemeinsamen Heims – damals gab es noch eines – verwiesen haben. Ganz allein also ist der Bürgermeister dieser großen, bedeutenden, amerikanischen Stadt. Aber „Boss“ nennt man ihn nicht umsonst. So einer wie er verkriecht sich nicht wie ein kranker Hund ins Unterholz um einzugehen. Das werden sie alle schon noch zu spüren bekommen – bevor er abtritt. Die werden sich alle noch wundern! Wir uns auch. Denn fortan tun sich allerorten Abgründe und Verwerflichkeiten auf. Intrige, Manipulation, schmutzige Wäsche, Lüge, Betrug und Verrat, ja sogar Erpressung und Mord. Das ganze Arsenal kommunalpolitischer Mittel wird aufgefahren, in Stellung gebracht, eingesetzt. Wilde Schlachten toben um Projekte und Posten, Einfluss und Entscheidungsgewalt, Geld und Geschäfte – und Tom Kane geht über Leichen, auch über halluzinierte. Denn Macht ist, was er zum Atmen braucht.
The windy city
Die Serie, von der hier die Rede ist, trägt den Titel Boss und wurde von Lionsgate Television, Category 5 Entertainment und Grammnet Productions für den US-amerikanischen Pay-TV-Sender Starz produziert, der sie von Oktober 2011 bis Oktober 2012 in zwei Seasons mit insgesamt 18 Episoden ausstrahlte. Idee und Konzept der Serie stammen von Farhad Safinia, Drehbuchautor von Mel Gibsons Maya-Drama Apocalypto und Schwiegersohn Nancy Reagans. Safinia zählt auch, neben Kelsey Grammer (der die Titelrolle übernahm), Gus Van Sant (der die erste Episode inszenierte) und Brian Sher zu den ausführenden Produzenten. Als Stammregisseure fungierten Jean de Segonzac, Mario Van Peebles und Jim McKay. Drehbücher schrieben unter anderem Safinia, Angelina Burnett und Bradford Winters. Gedreht wurde in und um Chicago.
„The Windy City“ also, gelegen am Südwestufer des Michigansees im Bundesstaat Illinois, drittgrößte Stadt der USA, bedeutender Handelsplatz, Jazzmetropole, Heimat Al Capones und krimineller Syndikate, Hauptsitz der „Nation of Islam“, Schauplatz von Upton Sinclairs „The Jungle“ und Bert Brechts „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Jene Stadt, in der Enrico Fermi die erste kontrollierte nukleare Kettenreaktion gelang und John Dillinger erschossen wurde, als er aus dem Kino kam. Unter anderem. Chicago ist nicht irgendeine Stadt.
Als Ort des Geschehens ist Chicago für die Handlung von Boss nicht weniger relevant als Baltimore für The Wire oder Washington für The West Wing. Dargestellt – ausgebreitet und untersucht – wird ein jeweils spezifisches politisches Geflecht, das der Geschichte der Stadt, ihren sozialen wie räumlichen Gegebenheiten, ihrer Bevölkerungsstruktur und ihren Traditionen Rechnung trägt, um davon ausgehend zeigen zu können, wie sie regiert wird, das heißt, welche Räder und Rädchen auf welche Weise ineinander greifen müssen, damit die Bewältigung ihres Alltags gelingt. Anders gesagt: Wann ist der beste Zeitpunkt, potenzielle Wähler mittels eines Müllfahrer-Streiks zu motivieren? Wie verschiebe ich die Aufmerksamkeit vom Giftmüll vor der eigenen Haustür aufs Grundwasser der Nachbargemeinde? Und: Kommt mir die Drogenvergangenheit meiner Tochter nicht sehr zupass, um von meinem krankheitsbedingten Aussetzer abzulenken? Das sind so die Fragen, mit denen sich Tom Kane und seine beiden engsten Vertrauten, Ezra Stone und Kitty O’Neil, herumschlagen müssen. Und weitergehend die Stadträte, die Bezirksbürgermeister, der Gouverneur und nicht zuletzt die Einwohner Chicagos. Denn die müssen sowieso immer alles ausbaden.
Was nun nicht heißt, dass die haarsträubenden Machinationen, deren sich unser hirnkranker Bürgermeister befleißigt, in jedem Fall für bare Münze und als Porträt tatsächlicher krimineller Praxis von Männern in hohen politischen Ämtern zu nehmen sind. Von der Kritik wurde der Serie denn auch ein Hang zur Übertreibung bescheinigt, wann immer es ums Dirty business geht. So schrieb Alessandra Stanley in ihrer „New York Times“- Rezension: „There are movies and TV shows about politics that tempt viewers to fast forward through the details of governing to get to the juicy parts. Boss is the opposite, a smart look at political power brokers that gets silly on the subjects of sex and violence.“ Da sollte man es dann also nicht so eng sehen, wenn Schatzmeister Ben Zajac jedes Mal, wenn er einen Weiberrock erblickt, der in ihm schlummernde Hengst durchgeht. Oder wenn die Heavies ihrem Namen alle Ehre machen und so tumb wie plump ein Problem der Lösung zuführen. Wesentlich Gewinn bringender ist es, Kelsey Grammer bei der liebevollen Übermalung seiner skurrilen Psychiater-Radiomoderator-Persona Dr. Frasier Crane zuzusehen, die ihn berühmt gemacht hat. Auf dass ein eisenharter Machtmensch zum Vorschein komme, in den das Schicksal sodann wüste Dellen schlagen kann.
Wer mehr über Richard J. Daley (1902–1976) erfahren will, der von 1955 bis 1976 das Amt des Bürgermeisters von Chicago bekleidete, und von dem Kelsey Grammer sich für seine Figur des Tom Kane hat inspirieren lassen: Die beiden Nachrufe vom 21. Dezember 1976 aus dem Archiv der „New York Times“ (http://www.nytimes.com/learning/general/onthisday) geben nicht nur Aufschluss über den Werdegang des Mannes und die (Kommunal-)Politik, die er während seiner Amtszeiten gestaltete, sondern auch über die gesellschaftlichen Veränderungen und die wirtschaftliche Entwicklung Chicagos, die sie begleiteten.