„Boardwalk Empire“ und „Mad Men“ gehen zu Ende, der Boom historischer Stoffe im Serienfernsehen nicht. „The Americans“ und „Masters of Sex“ versetzen die Zuschauer in Phasen der Umbrüche, in ein Jahrhundert unüberschaubarer Dynamik. Sie folgen dabei keinem vermeintlichen Retro-Trend, sondern sind Bestandsaufnahmen der und Kommentare zur Gegenwart.
Die vierziger und fünfziger Jahre waren in den Vereinigten Staaten noch weitgehend durch die alte Ordnung geprägt: Weiß und maskulin war die Herrschaft, Ereignisse wie die sexuelle Revolution, Antikriegs-, Bürgerrechts- und Emanzipationsbewegungen kündigten sich erst subversiv an. Der populärkulturelle Blick in diese Phase wird insbesondere im US-Pay-TV seit Jahren exzessiv betrieben. Die Serie Mad Men rund um den Werbeagenten Don Draper, die im kommenden Frühjahr nach sieben Seasons ihr Ende finden wird, löste nicht nur einen modischen und musikalischen Retro-Hype im Kleinen aus. Sie sorgte auch für einen Rückblick auf eine Periode, die wir scheinbar hinter uns gelassen haben. Die scheinheiligen Eheideale des mittleren zwanzigsten Jahrhunderts, die Unterdrückung weiblicher Selbstbestimmung, die direkten Rassismen gegen Schwarze, die gesellschaftliche Schmach Homosexueller: Wir sehen Mad Men und die in der jeweiligen Periode inhärenten gesellschaftlichen Missstände und denken uns, dass just diese Übel nur noch im historischen Rückblick existieren.
Während Don Drapers TV-Ära endet und wir zugleich Zeugen des Untergangs eines Mannbildes werden, flimmern bereits neue serielle „period pieces“ über unsere Bildschirme. Masters of Sex, entwickelt vom Sender Showtime, erzählt nun in zweiter Season die Geschichte rund um Dr. William Masters (herrlich zurückgenommen: Michael Sheen), der in den fünfziger und sechziger Jahren an der Washington University höchst kontroverse Experimente zur Sexualität durchführte und neben Alfred Kinsey zu einem der wegweisenden Begründer der empirisch-naturwissenschaftlichen Sexualwissenschaft zählt. Bereits die Pilotfolge wirft eine große Forschungsfrage für Masters auf: Täuschen Frauen tatsächlich zuweilen Orgasmen vor? Der Handlungsverlauf ist meist rund um ein scheinbar naives Forschungsproblem geordnet, das wir aus dem heutigen Blickwinkel und auch ohne fundierte Kenntnis der modernen Sexualwissenschaft belächeln. Masters of Sex läuft aber nie Gefahr, sich in eben dieser Prämisse zu erschöpfen. Vielmehr erinnern uns die einzelnen Episoden daran, welche Wege begangen werden mussten, um viele der heutigen gesellschaftspolitischen Selbstverständlichkeiten zu erreichen.
Mann, Frau, Familie
Masters of Sex basiert auf Thomas Maiers gleichnamigem Buch, welches sich auch Masters Sekretärin und späterer Ehefrau Virginia Johnson widmet. Virginia (Lizzy Caplan) ist eine starke Frau des 21. Jahrhunderts, nur knapp ein halbes Jahrhundert zu früh geboren: Sie will Karriere machen, ihren Universitätsabschluss nachholen, ihre (sexuelle) Freiheit genießen und zugleich eine gute alleinerziehende Mutter sein. All dies vereint die Figur, muss jedoch stets gegen männliche Dominanzstrukturen ankämpfen. Virginia passt eben nicht in das Bild der braven Hausfrau, die zu Hause darauf wartet von ihrem Ehemann geschwängert zu werden, um daraufhin den Haushalt zu führen – so wie Masters (Noch-)Gattin zu Beginn der ersten Season. So spannend dieser konfliktreiche Blick auf Frauenbilder der 1950er Jahre auch ist, so sehr nimmt die Serie eine nicht weniger konservative Perspektive ein: Familienverbundenheit, Treue und Werte des Zusammenhalts stehen hier im Konflikt mit neuen prä-emanzipatorischen Vorstellungen. Virginias Konflikte rund um Familie und Karriere kreisen um die Meinung, man müsse sich zwischen emanzipierter Stärke und einem Leben mit Familienwerten entscheiden. Und trotz bald folgender sexueller Revolution: Die Dualität des Entweder-Oder bestimmt auch heute noch viele Bereiche moderner Feminismusdebatten.
Dass Masters of Sex nicht ausschließlich von der Errungenschaft weiblicher Selbstbestimmung handelt, zeigt ein Subplot rund um Masters Vorgesetzten, den Dekan der Washington University (Beau Bridges). Der Dekan ist heimlich schwul und sucht sich seine gesellschaftlich verpönte Befriedigung bei Straßenstrichern. Masters Forschungen sollen auch zu einem Verständnis von Homosexualität führen. Hier wird die sexuelle Revolution bis hin zur Schwulenbewegung der späten sechziger Jahre in ihren mikroskopischen Schritten erkennbar. Der Wandel hatte lange vor Straßenprotesten und lautstarken Forderungen unterdrückter Minderheiten seine stillen Vorläufer.
Agents of Sex
Wenn auch über zwei Dekaden später und auf einem gänzlich anderen Gebiet angesiedelt, lassen sich zwischen der Fox-Produktion The Americans von Joe Weisberg und Masters of Sex aufschlussreiche Parallelen erkennen. Das Period piece handelt vom Ehepaar Jennings, das im unscheinbaren Suburbia Washingtons ein Dasein als Betreiber eines kleinen Reisebüros führt. Was jedoch weder ihr Nachbar, ein FBI-Agent, noch ihre eigenen Kinder wissen: Elizabeth und Phillip Jennings (Keri Russel und Matthew Rhys) sind KGB-Agenten, die seit zehn Jahren undercover in den USA arbeiten und für ihre Vorgesetzten in der UdSSR Informationen sammeln. Der Kalte Krieg, hier in der Reagan-Ära auf einem angespannten Höhepunkt, wird in das Familienidyll der amerikanischen Vorstadt verlegt. Die Konflikte sind sowohl innerfamiliär wie auch in der Spannung mit dem ahnungslosen FBI-Agenten nebenan angesiedelt. Eine dramaturgische Handlungsschwäche ist zugleich der gesellschaftspolitisch interessanteste Aspekt der Serie: Nahezu jeder große Wendepunkt wird durch Sex oder vorgespielte Liebe erreicht. Wenn Elizabeth an Informationen aus Geheimdienstkreisen herankommen will, verführt sie jemanden. Wenn die notwendigen Informationen bei einer Frau liegen, ist Phillip im Einsatz und täuscht Liebe vor – was sogar zu einer Scheinehe mit einer FBI-Mitarbeiterin in der ersten Season führt. Eine Phase, in der die westliche Welt mehrmals am Abgrund stand, wird hier im Mikrokosmos eines fingierten Familienlebens durchgespielt. Historische Wendungen werden durch emotionale Manipulation erreicht. Was die Figur von Elizabeth anbelangt, ist dies in den hier dargestellten 1980ern möglich geworden – die promiskuitive Frau ist in der Zeit nach der sexuellen Revolution kein Tabuthema mehr. Stellt man Masters of Sex und The Americans die Frage nach dem repräsentierten Frauenbild, könnte man zynisch attestieren: Virgina Johnson kann als eine Vorläufering von Elizabeth Jennings gelesen werden. Die sexuelle Befreiung der Frau führt zu mehr Macht und Selbstbestimmung für das weibliche Geschlecht. Doch, weiterdenkend an The Americans: Die Frau kann ausschließlich über Sex ihre neue Machtposition zur Gänze nutzen. Eine triste Conclusio.
Wandel als Möglichkeitsform
Den Erfolg der vielen Period-piece-Serien auf zeithistorische Neugierde oder romantisierenden Retro-Wahn zu reduzieren, würde zu kurz greifen. Mad Men, Masters of Sex und The Americans verbuchen nicht nur auf Grund eines nostalgischen populärkulturellen Blicks Publikumserfolge, sondern sind primär spannende Handlungsbögen dramaturgisch und figurenpsychologisch klar nachvollziehbarer Konflikte. Dass just heutzutage vergangene Jahrzehnte der Umbrüche die Bildschirme dominieren, kann auch als Sehnsucht nach Wandel oder zumindest nach einer fühlbaren Umbruchstimmung gelesen werden. Neue soziale, politische und ökonomische Wege stecken in den großen Period pieces noch in den Kinderschuhen, sind aber auf Grund der porträtierten gesellschaftlichen Sehnsucht danach in greifbarer Nähe. Sich diese Serien mit dem Wohlwollen anzusehen, dass heute alles in Ordnung sei, weil die dargestellten Probleme von (primär maskulin-weißer) Unterdrückung und staatlicher Bevormundung bewältigt seien, würde aufs Glatteis führen. Vielmehr hinterfragen die zeitlich versetzten Handlungen vermeintlich erfolgte Umbrüche und kommentieren gegenwärtige Ängste. The Americans wäre beispielsweise vor 9/11 nicht denkbar gewesen – die Spannungen zum zerbrochenen sowjetischen Staat waren gerade erst gelockert, das elitäre Amerika noch auf der Suche nach neuen Feindbildern. The Americans handelt von Unbehagen, Angst und paranoider Skepsis gegenüber allem, was fremd erscheint, selbst wenn es in der Nachbarschaft liegt. Parallelen zur nach 2001 folgenden Islamophobie und der (selbst-)zerstörerischen Politik der US-Regierung sind offensichtlich.
Mad Men und Masters of Sex erzählen von der schrittweisen Befreiung von Frauen und sexuellen Minderheiten aus männlicher Gewaltherrschaft. Ein Kampf, der mit kontroversen Sexualexperimenten begonnen haben mag, aber noch lange nicht gewonnen ist. Der Wandel ist möglich und geschieht in Etappen. Diese werden vielleicht erst im Rückblick erkennbar. Die Period pieces des modernen US-Fernsehens gehen mit Geschichte zwar meist sehr frei im Sinne der fiktionalisierten Narration um, erinnern uns aber an den Wandel als unhaufhaltsame Form des Fortschritts. Then you better start swimmin’ / Or you’ll sink like a stone / For the times they are a-changin’.