Ein Gespräch mit Erika Balsom und Hila Peleg, den Kuratorinnen der groß angelegten Ausstellung „No Master Territories. Feminist Worldmaking and the Moving Image” im Berliner Haus der Kulturen der Welt.
Mit dem Lippenstift malen, übermalen Robin Laurie und Margot Nash ihre Münder. Die Künstlerinnen zeigen keine lasziver Werbungsmimik, sondern clowneske, lachende und verzerrte Gesichter. Doch sie belassen es nicht bei der Karikatur, sondern setzen stereotypen Vorstellungen von Weiblichkeit ganz eigene Ideal/Wunschbilder gegenüber: Die eigenen Schamlippen zum Beispiel, inmitten australischer Fauna. Der experimentell-radikal-lesbische We Aim to Please (1976) ist ein Film, den man in einem queer-feministischen Kontext einer kleinen Filmreihe vermutet, aber der nun stattdessen mitten im Haus der Kulturen der Welt zu sehen ist. Und zwar in dem aus Exponaten, Filmprogramm, Podcast und Bibliothek bestehenden Ausstellung „No Master Territories – Feminist Worldmaking and the Moving Image”, die von 19. Juni bis 28. August stattfindet. Ein Mammutprojekt, das weit über hundert filmische Werke von über 80 Kunstschaffenden versammelt und die Frage stellt: Wie haben Künstlerinnen und Filmemacherinnen das bewegte Bild als Inspiration feministischer Vorstellungswelten erschlossen? Wobei feministisch und “frau” hier im „maximal inklusiven” Sinne alle meint, die sich, ungeachtet des Geschlechts, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, als Frau identifizieren. Auf der langen Namensliste treffen die Aborigine-Filmemacherin und Aktivistin Essie Coffey auf französische „Klassikerinnen“ wie Agnés Varda, die Frauenfilmgruppe München der siebziger Jahre auf die Frau-Sein-Erkundungen von Heike Misselwitz in der DDR. Die afroamerikanische Harlem-Renaissance Autorin Zora Neale Hurston („Their Eyes Were Watching God“) ist mit Feldaufnahmen von Alltagsszenen vertreten, die sie 1935 und 1936 in Florida anfertigte.Auch Österreich ist im Programm vertreten, etwa Maria Lassnig mit ihrem Film Iris von 1971, der den Körper einer dicken Freundin bar jedes pornografischen Subtexts erkundet. Aber schon die Kategorisierung und Einordnung und auch die Einordnung in „gut“, „bahnbrechend“ läuft den Absichten der Kuratorinnen der Ausstellung, Erika Balsom und Hila Peleg, eigentlich zuwider, wie sie im Gespräch berichten. Ihr Fokus ist die Überforderung. Wie sie die tatsächliche Fülle des Materials bewältigten und ihre Ausstellung inmitten von Diskursen um Teilhabe und Repräsentation inmitten der Pandemie umsetzten, erzählen sie im folgenden Gespräch.
Die Film- und die Kunstwelt erscheinen oft als separate Bereiche, als stünden sie in Konkurrenz zueinander. Nun machen Sie ein Ausstellungsprojekt, das das Bewegtbild in den Mittelpunkt stellt. Wie kam es dazu?
Hila Peleg: Wir haben beide schon immer inter- und transdisziplinär gearbeitet, ich bin als als Kuratorin im Film- und Kunstbereich unter anderem am King’s College in London tätig, und Erika ist Wissenschaftlerin, Forscherin, Kuratorin und Autorin. Allein unser Verhältnis ist also schon eine Form des interdisziplinären Dialogs. Und wir arbeiten schon lange zusammen, zum Beispiel für das Berlin Documentary Forum im HKW. In der jetzigen Ausstellung „No Master Territories“ gibt es deswegen keine klare Trennung in Werke, die allein entweder für das Kino oder den Galerieraum entstanden sind. Zumal wir auch Bewegtbild zeigen, das für das Fernsehen oder zum Einsatz im Bildungssektor konzipiert wurde. Die Ausstellung ermöglicht es uns also, alle diese unterschiedlichen Ausdrucksformen zusammenzubringen und sie gleichberechtigt zu präsentieren.
Erika Balsom: Vielleicht haben Sie Recht, wenn Sie sagen, dass da oft eine Kluft zwischen Film und bildender Kunst existiert. Aber in den letzten Jahren gab es sehr viele spannende forschungsbasierte oder kuratorische, künstlerische Projekte, deren Anspruch es war, diese Bereiche miteinander zu verbinden. In diesem Kontext verorte ich auch unsere Ausstellung. Das Besondere ist, das wir eben nicht nur ein Ausstellungsprogramm haben, sondern auch ein Filmprogramm. Wir machen es also nicht so, dass wir einfach filmische Werke in den Galerieraum hineinholen – das geschieht nur, wenn das jeweilige Werk dort seine Wirkung entfalten kann. Wir bestehen auf dem Kino als eigenständige Präsentationsform, und es wird ein umfangreiches Filmprogramm geben. Wir befinden uns also mit „No Master Terrritories“ gewissermaßen in einem Zwischenraum, aber lassen nicht alle formalen Grenzen dabei außer acht.
Und wie kommt es dazu, dass Sie diese besondere Form der Ausstellung dem feministischen Bewegtbild widmen?
EB: Ursprünglich war Hila daran interessiert, ein Projekt über die Arbeit der Filmemacherin Trinh Minh-ha zu realisieren. Der Titel der Ausstellung ist tatsächlich eine Überschrift aus ihrem Buch „When the Moon Waxes Red. Representation, Gender and Cultural Politics“ – und ja, natürlich zeigen wir auch Arbeiten von ihr. Aber schlussendlich war die Beschäftigung mit Trinh Minh-has Ideen ein Ausgangspunkt, um uns mit weiteren Bereichen des feministischen Dokumentarfilms, des Experimentalfilms, der Ethnografie, der Gegen-Ethnografie und der Auto-Ethnografie von Frauen zu beschäftigen. Ursprünglich dachten wir, dass die Ausstellung eine Kombination aus neu in Auftrag gegebenen Werken und älteren Arbeiten präsentieren könnte. Bei unseren Recherchen in den Archiven sind wir aber dann auf so viele bemerkenswerte Werke gestoßen, die vielleicht nicht so bekannt sind, wie sie es sein sollten, dass wir beschlossen haben, eine historisch ausgerichtete Ausstellung zu kuratieren.
Da möchte man natürlich gleich wissen, was Sie recherchiert haben. Gibt es aus ihrer Sicht bestimmte Werke, die völlig unbeachtet geblieben sind und die Ihre Ausstellung vielleicht erstmals zu Sichtbarkeit verhilft?
EB: Ich stehe der Idee der „vergessenen“ Filme sehr kritisch gegenüber. Denn im Grunde muss man dann schon immer dazu fragen: Von wem wurden die Werke denn vergessen? Denn schon allein, dass wir in der Lage sind, all diese Werke zu zeigen, ist der Tatsache geschuldet, dass Institutionen, Menschen, Verleiher und Archive existieren, die sich dieser Werke angenommen haben. In gewisser Weise bauen wir also sehr viel auf der Arbeit auf, die vor uns geleistet wurde. Es geht also nicht darum, dass wir „vergessene“ Werke „entdecken“. Gleichzeitig denke ich, dass es eine Geschichte der Marginalisierung und der Ausgrenzung von bestimmten Menschen gibt. Und mit diesem Bewusstsein haben wir auch recherchiert. Zum Beispiel sind wir im Archiv des Arsenals über den Film Wir haben lange geschwiegen gestolpert (Frauenfilmgruppe München, 1974). Und als wir darum baten, diesen Film im Arsenal sichten zu dürfen, hieß es, der Film sei seit zig Jahren nicht mehr angefordert worden. Dieser Film wird nun in unserem Kinoprogramm erstmals in einer neuen digitalen Aufbereitung mit englischen Untertiteln präsentiert. Und es gibt einige Arbeiten in der Ausstellung, mit denen es uns ähnlich ging.
HP: Wir könnten auf jeden Fall einige Arbeiten hervorheben, viele haben einen wichtigen Stellenwert für uns. Aber im Grunde – und das ist wichtig für den Gesamtkontext – ist der Forschungsprozess, den wir da begonnen haben, nicht abgeschlossen. Wir mussten nur irgendwann innehalten, um zu überlegen, was wir im Rahmen der Ausstellung und der Filmvorführungen präsentieren können. Weil das Archiv natürlich endlos ist.
Wie sind Sie beim Kuratieren vorgegangen, wie haben Sie unterschiedliche Gruppen von Menschen, Stichwort: Communities, aktiv angesprochen? Ich frage das auch vor dem Hintergrund aktueller Diskurse, in denen es viel darum geht, Menschen einzubinden, die bestimmte Erfahrungswerte zu Themen konkret mitbringen.
HP: Wir haben mit Mitarbeiterinnen in Archiven, Wissenschaftlerinnen und Filmkuratorinnen zum Beispiel in Südkorea, in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, Mittelamerikas und auch im Nahen Osten zusammengearbeitet, die über spezifisches lokales Fachwissen verfügen. In einigen Fällen haben wir die Leute gebeten, in bestimmten Archiven und an anderen Orten zu recherchieren. In anderen Fällen handelte es sich um eine Art fortlaufendes, sehr produktives Brainstorming, das manchmal als Essay in unsere Anthologie einfloss, die parallel und ausstellungsbegleitend über zwei Jahre entstanden ist. Unser Fokus lag dabei auf Werken, die in dem Kontext, in dem sie entstanden sind, eine sehr wichtige Rolle spielen, aber in Europa nicht so populär sind oder wenig gezeigt worden. Dank dieser Interaktionen und Dialoge mit Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Welt konnten wir viele Arbeiten für die Ausstellung gewinnen. Zum Beispiel der Film von Sara Gomez, der in den siebziger Jahren auf Kuba gedreht wurde.
EB: Der Film heißt Mia Forte – My Contribution, und er nimmt einen wichtigen Platz in ihrem Werk ein. Wir konnten ihn überhaupt nur kennenlernen, weil gerade ein großer Digitalisierungsprozess von Gomez’ Arbeiten in Kanada im Gange ist. Mia Forte – My Contribution behandelt den Beitrag von Frauen zum Aufbau des postrevolutionären Kuba. Gomez, selbst Afrokubanerin, geht dabei auf innergesellschaftliche Spannungen ein und zeigt auch, dass gerade der Alltag der Frauen oft hinter den Versprechen der Revolution zurückblieb. Zu dieser Arbeit hätten wir ohne dieses Forschungsprojekt in Kanada niemals Zugang gehabt, insbesondere in Zeiten der Pandemie, in der wir ja die Ausstellung konzipiert haben, weil wir ja auch nicht so viel reisen konnten. Der Fluch war also auch ein Segen, weil er eben auch zu diesem kollaborativen Prozess führte.
Noch einmal zurück zu den vermeintlich „vergessenen“ Filmen oder Filmschaffenden. Ich finde die Unterscheidung und Differenzierung gut, dass man Werke von potenziell marginalisierten Gruppen mehr in den Vordergrund stellt, ohne den Anspruch der „Entdeckung“. Ich meinte mit meiner Frage aber natürlich auch so etwas wie die Kategorie „Kanon“ und die Frage, wie Sie mit so einem Begriff umgehen.
EB: Der Kanon ist in der Tat ein wichtiges Thema für uns. In der Ausstellung gibt es über hundert Beiträge von über 80 Künstlerinnen, Filmemacherinnen und Kollektiven. Und dieser Gedanke der Fülle, der Überforderung war für uns sehr wichtig, als wir uns mit diesen Debatten um die Kanonisierung und die Überarbeitung des bestehenden Kanons befasst haben. Ich glaube nämlich, dass es heute eine Tendenz gibt, eine Handvoll überragender Frauen zu identifizieren und sie in den Kanon aufzunehmen, ohne wirklich zu hinterfragen, welche Mechanismen des Ein- und Ausschlusses der Idee und Entstehung eines Kanons überhaupt zu Grunde liegen. Mit der Ausstellung wollen wir zum Ausdruck bringen, dass es unglaublich viele Frauen an vielen Orten der Welt gibt, die über einen langen Zeitraum hinweg sehr unterschiedliche Formen der Praxis des bewegten Bildes hervorgebracht haben. Und wir haben uns gefragt, wie es wäre, wenn wir wirklich einen großen Überblick über sie erstellen würden, der natürlich nicht vollständig, sondern sehr heterogen ist. Dieser Überblick lässt sich auch nicht auf einen einzigen ästhetischen Stil, einen einzigen ideologischen Schwerpunkt oder eine einzige Vorstellung davon, was Feminismus ist oder sein könnte, reduzieren. Im Gegenteil: Wir sind sehr daran interessiert, Widersprüche und Unterschiede in den Vordergrund zu stellen, anstatt zu versuchen, eine Vorstellung davon zu homogenisieren, was gutes oder was feministisches Kino ist.
Feminismen statt Feminismus. Die Gedanken der Teilhabe und Fülle finde ich sehr spannend, aber, wie Sie selbst schon sagen: An irgendeinem Punkt muss man bei der Konzeption einer Ausstellung ja doch etwas weglassen. Anders gefragt: Gibt es vielleicht Feminismen oder feministische Kunst, auf die sich die Ausstellung nicht konzentriert?
EB: Der fiktionale Langspielfilm steht zum Beispiel nicht im Fokus von „No Master Territories“. Wir haben uns stattdessen auf nicht-fiktionale Praktiken konzentriert, die wir aber sehr breit fassen. Aber was die verschiedenen Formen des Feminismus anbelangt, so haben wir dieses Projekt sehr stark als Beschäftigung mit der Gegenwart in Form einer Reise in die Vergangenheit konzipiert. Und man könnte auch sagen, dass diese Ausstellung indirekt auch den neoliberalen Feminismus kritisch beleuchtet, der sehr stark auf Vorstellungen von individueller Ermächtigung und dem beruflichen Erfolg von Frauen basiert. Der zum Beispiel von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, and Nancy Fraser, den Verfasserinnen des „Feminismus für die 99%“-Manifests, in Frage gestellt wird, weil er die Herrschaft der „Chancengleichheit“ proklamiert: „einer Herrschaft, die gewöhnliche Menschen im Namen des Feminismus aufruft, sich dankbar zu zeigen dafür, dass eine Frau und kein Mann ihre Gewerkschaft zerschlägt, einer Drohne den Befehl erteilt, die Mutter oder den Vater zu töten, oder das Kind an der Grenze in einen Käfig sperrt”. Und wir müssen uns fragen, ob das wirklich der Feminismus ist, den wir wollen. Wir möchten mit der Ausstellung die Grenzen dieser zeitgenössischen Form des Feminismus ausloten, der meiner Meinung nach heute sehr präsent ist. Gleichzeitig waren wir uns bewusst, dass sich die feministische Filmgeschichtsschreibung und auch die Geschichte des Feminismus insgesamt sehr auf die USA und Westeuropa konzentriert haben. Wir haben zwar auch Filme aus den USA und Westeuropa im Programm, aber wir wollten wirklich sicherstellen, dass sie nicht das imperiale Zentrum des Ausstellungsprojektes sind. Wir wollten auch über andere Orte und andere Zeitlichkeiten nachdenken.
Es gibt ein wochentäglich wechselndes Filmprogramm und Sondervorstellungen mit Q&As, aber auch den angesprochenen Ausstellungsteil. Wie präsentieren Sie die angesprochene Fülle an Werken räumlich?
EB: Der Titel der Ausstellung, „No Master Territories“ ist ja schon eine Art räumliche Kartographie, eine geografische Metapher. Und im Grunde bedeutet die Verneinung eines „Herrschaftsgebietes“ auch, dass es eine einfache, begreifbare Einordnung und Kartografie des feministischen Bewegtbildes nicht gibt. Und so ist das auch mit dem Ausstellungsdesign: Es gibt keine einheitliche Wegeleitung oder Laufrichtung, der die Betrachtenden folgen könnten. Und es gibt so viele Arbeiten in der Ausstellung, dass wahrscheinlich niemand alles sehen wird. Die Ausstellung ist so angelegt, dass sie die Fähigkeit des Publikums, alles zu verstehen, übersteigt. Ich denke, dass diese Idee der Überforderung als zentrales Moment der Ausstellung auf vielfältige Weise artikuliert wird. Sie zeigt sich in unserem Forschungsprozess, und sie zeigt sich in der Auswahl der Werke und in der Art der Präsentation.