Faszinierendes Porträt eines blinden Extrembergsteigers
Bis zur Führerscheinprüfung war alles ein großer Bluff gewesen: Für seine Freunde hatte er einfach nur schlecht gesehen. Die Schulzeit war ein Klacks gewesen, selbst das erste Rendezvous hatte er bravourös hinbekommen. Aber als er sich mit 18 das erste Mal ins Auto setzen sollte, war Schluss mit täuschen und tarnen. Denn Andy Holzer ist von Geburt an blind. Na und, würde er sagen. Blindenschleife und Gehstock sind nämlich nichts für den selbstbewussten Tiroler. Andy hat sich an das Leben der Sehenden angepasst, um „barrierefrei“ leben zu können – im Sinne von: das gleiche zu tun wie alle anderen, ohne sofort im Mitleids-Fokus zu stehen.
Als Betrachter von Unter Blinden gerät man aber ohnedies nicht in die Verlegenheit, Mitgefühl zu zeigen: Überraschung und ehrfürchtiges Staunen wechseln einander ab, wenn man Andy dabei beobachtet, wie er sich Meter um Meter eine Bergwand hinaufhantelt. Er, der die höchsten Gipfel der Welt erklommen hat, macht sogar auf der Skipiste oder als Hobbyfunker gute Figur. In waghalsigen Einstellungen vermittelt uns die Kamera die Welt einer Ausnahmeerscheinung, stets knapp vor oder hinter dem Protagonisten; versucht durch Wechsel zwischen Schärfe und Unschärfe eine Ahnung von dem zu suggerieren, was für Andy „normal“ ist. Denn Bilder, so sagt er seinem sehenden Gegenüber, sind für ihn nicht nur Eindruck eines Sinnesorgans, sondern Gesamtheit verschiedener Sinnes-Mosaiksteinchen, in die er genauso Farben und Räume projizieren kann wie der Rest seiner Mitmenschen.
Regisseurin Eva Spreitzhofer folgt dem 46-jährigen in ihrem Debütfilm vom Gipfelkreuz bis zum Torwandschießen im TV-Studio. Sie legt in Interviews mit Wegbegleitern den Pfad vom eingeschüchterten Kind hin zum gefeierten Autor frei. Andy hat sich dabei immer an seinen Vorzügen orientiert, und sei es nur an der Erkenntnis, dass Stärke nicht zuletzt aus Teamwork entsteht: Gattin Sabine unterstützt den ehemaligen Heilmasseur als Assistentin bei Vortragsreisen; der ebenfalls gehandicapte Hans begleitet ihn seit Jahren auf seinen Gebirgstouren.
Unter Blinden ist ohne Zweifel mehr als ein klassisches Biopic. Es besticht mit akzentuiertem Einsatz von Musik, sorgfältigem Timing und einer raffinierten Dramaturgie.
Szenen wie das als Showdown eingebrachte Streitgespräch zwischen Andy und dem ebenfalls blinden Bluessänger George Nussbaumer zeigen indes vor allem eines: dass Blindheit kein lexikalisch definierter Zustand ist, sondern in der „Sicht“-Weise des Betroffenen liegt. Oder, wie schon André Heller sagte: „Die wahren Abenteuer sind im Kopf.“