Zum Tod der Filmregisseurin und Autorin Helma Sanders-Brahms (20. November 1940 – 27. Mai 2014)
Für eine Interviewreihe mit italienischen Regisseuren fährt Helma Sanders-Brahms als junge Fernseh-Mitarbeiterin 1969 an die Drehorte, einmal noch vor Morgengrauen nach Ostia, wo Pier Paolo Pasolini Teile seines Medea-Films inszeniert. Ein Moment der Andacht, eine Initiation: „Es war immer noch dunkel, als ich ankam und ausstieg auf einer Düne über dem Strand. Unten lagen Schienen, ein Kamerawagen darauf, viele Menschen darum versammelt, alle mit irgendetwas beschäftigt. Ich stieg von der Düne herunter auf die Schiene zu. Am Ende der Schiene, da, wo das Meer anfing, standen vier Pferde mit nackten Männern darauf, die hatten Muschelhörner in den Haaren. Und dann fielen die magischen Worte »Motore!« und »Azione!«, und gerade in dem Augenblick, als die Kamera zu fahren anfing, trat zwischen Himmel und Meer ein Spalt Licht heraus und übergoss das Wasser mit einem breiten Weg aus Geglitzer und Gischt, in das die vier Pferde mit den Männern darauf hineinritten. Und ich dachte: ‚Das ist das Schönste, was ein Mensch auf diesem Planeten machen kann.‘ Und als ich das noch dachte, stand neben mir eine Mann mit glühenden schwarzen Augen und sagte, auf italienisch: ‚Du wirst Kino machen, du auch.‘“ Es war Pasolini. Neben ihm lernte sie in Rom auch Sergio Corbucci kennen, den Italowestern-Regisseur („er hatte mich adoptiert und stellte mich überall als ‚mia filia adottiva‘ vor“), die Schauspielerin Laura Betti, Bernardo Bertolucci und Marco Bellocchio, Alberto Moravia sowie Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. „Ich habe dort erlebt, was Kino ist.“
Helma Sanders-Brahms, die nach dem Studium in Köln und einem anschließendem Jahr als Lehramtsanwärterin als Schauspielerin und Fotomodell arbeitete (u.a. für Charles Wilp – „Vor Wilps bedampfter Glasscheibe mit Gewächshauspalmen hatten wir Vietcong gespielt – »Alle sind im Afri-Cola-Rausch«“), dann beim Rundfunk und als TV-Ansagerin (Westdeutscher Rundfunk [WDR], Köln), sie lernte gewissermaßen subversiv beim Fernsehen – „Dass ich das Westdeutsche Fernsehen ansagte in Köln, wo ich damals meine Wohnung hatte, das verschwieg ich auf den Matratzenlagern in Berlin. Dabei war das Fernsehstudio meine Filmschule. Ich saß da mit toupiertem Kopf erst vor der Kamera und lächelte, als könnte ich kein Wässerchen trüben, und dann, sobald die Filmreihen losgingen, hockte ich auf dem Boden vor den Monitoren im Studio und schrieb auf, was mir auffiel. Kamerapositionen und Kamerabewegungen. Wo das Licht herkam und wie viele Lichtquellen dazu ungefähr eingesetzt worden waren. Wie die Schauspieler geführt waren, besonders die weiblichen. Es war die Zeit, in der die Filme von Josef von Sternberg zum ersten Mal im deutschen Fernsehen im Zusammenhang und mit Einführungen gezeigt wurden.(…)“ („1968, davor und danach“, 2008)
Helma Sanders-Brahms begann als eine der wenigen Regisseurinnen in einer Männerdomäne, eine Frau im „Jungen deutschen Film“, eine der ersten Frauen in der deutschen Filmregie. Doch anders als die Helden des Autorenkinos konnte sie ihre Erfolge eher in Paris, London, New York und Tokio verzeichnen als in Deutschland. In seinen Anfängen war der Topos „Frauenfilm“ schwer kategorisierbar, gleichsam jenseits der Genres, ein aufklärerischer Feminismus, der an der Befreiung von traditionellem Rollenverständnis arbeitete, zu selbstbestimmtem Leben aufrief und eine weibliche Gegengeschichtsschreibung in den Blick nahm, lag ihm zugrunde. Sanders-Brahms begann 1969 mit Dokumentationen über den Arbeitsalltag von Frauen in der BRD, ihr selbst finanziertes Debüt, Angelika Urban, Verkäuferin, verlobt, vom WDR abgelehnt, wurde 1970 auf den „Westdeutschen Kurzfilmtagen“ in Oberhausen ausgezeichnet, Die industrielle Reservearmee (1971) über die Lage von Arbeitsmigranten und Die Maschine (1973) über die Arbeit an einer Rotationsmaschine folgten. Unter dem Titel Unter dem Pflaster ist der Strand (dem mittlerweile zeitgeschichtlich sprichwörtlichen Slogan zur Aufbruchsatmosphäre rund um die 68er-Bewegung in europäischen und amerikanischen Universitätsstädten, entdeckt als Wandaufschrift in Paris, später, ab 1976 zum Label des Frankfurter Stadtmagazins der Sponti-Szene „Pflasterstrand“ benutzt) wechselte sie 1974 mit einer Beziehungsutopie, einer Liebesgeschichte im damaligen revolutionären 68er-Paris, in der Grischa Huber und Heinrich Giskes von der Berliner Schaubühne das Paar in dieser autobiografischen Geschichte spielten, die neben der Auflösung politischer Identitäten in private Befindlichkeiten auch den umkämpften Paragraphen 218 thematisierte, in den Spielfilm. Erdbeben in Chili (1974) inszenierte sie nach der gleichnamigen Kleist-Novelle für das ZDF. Mit Shirins Hochzeit (1975) über eine junge Türkin, die nach Deutschland kommt, um den Mann zu suchen, dem sie versprochen ist und die in ihrem Versuch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, scheitern muss, drehte sie im Anschluss einen heute noch aktuellen Film. „Alles ist politisch. Ja, das ist es. Ich denke es heute noch. Es ist mir so eingebrannt von damals her. Eigentlich ging es immer um den Vietnamkrieg. Ja, und darum, dass wir alle Sehnsucht nach einer Gesellschaft hatten, in der das Pflaster, das über dem Strand liegt, uns nicht alle umbrächte. Das Pflaster, der Beton, die Hochhäuser, die Gier nach Geld, die Unfähigkeit abzugeben, die Vernichtung des Lebendigen, der Fantasie, der Freude zugunsten des bloßen Funktionierens in einem System, das nach und nach den Menschen aus den Augen verliert.“ (Sanders-Brahms 2008)
«O Deutschland, bleiche Mutter! / Wie sitzest du besudelt / Unter den Völkern!», Brechts 1933 entstandenes Gedicht „Deutschland“, gab dem erfolgreichsten und wohl bedeutendsten Film von Helma Sanders-Brahms, Deutschland, bleiche Mutter (1979/80), den Titel, einem Werk, das Nazismus und Nachkriegszeit aus Kinderaugen betrachtet und im Ausland bald zum festen Repertoire des Neuen deutschen Films zählte, während es von der heimischen Kritik aufgrund seiner bewusst subjektiven Sichtweise auf deutsche Geschichte, der Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Mütter und seiner stark autobiografischen Anteile durchaus kontrovers rezipiert wurde. Der Film über die Geschichte ihrer Eltern, vom Vorabend des Zweiten Weltkriegs bis in die bundesrepublikanischen fünfziger Jahre unter Adenauer, ist vor allem an den Entwicklungen ihrer eigenen Mutter interessiert, deren während des Kriegs mobilisierte Überlebensstrategien zu einer Autonomie führt, die nach der Rückkehr des Mannes aus Kriegsgefangenschaft verebbt, wofür die Lähmung ihres Gesichts als äußeres Zeichen bleibt. Das Kind holt seine Mutter schließlich ins Leben zurück. Helma Sanders-Brahms eigene Tochter Anna ist hier von ihr als das Kind – also sie selbst – besetzt worden.
„Ich will eine andere Geschichte Deutschlands erzählen. Ich will nicht die Geschichte derjenigen erzählen, die Sieger oder Besiegte waren, sondern die Geschichte derjenigen, die den Faschismus erlitten haben“, so Sanders-Brahms. Für sie war der Faschismus eine Männergeschichte. Die Frauen aber, für die wenigen Jahre des Krieges auf sich allein gestellt, seien zum „Bewusstsein ihrer Kraft“ gelangt. „‘Nach Kriegsende‘, schreibt Sanders-Brahms, ‚war diese Kraft in vielen Fällen plötzlich nichts mehr wert. Aber wir, Kinder der Generation, die noch im Krieg geboren wurden, haben sie mitbekommen.‘ Für die ‚Trümmerkinder‘ sei Emanzipation die erste Erfahrung ihrer Kindheit gewesen,…, Die Erinnerung an ihre Mutter als ‚Trümmerfrau‘ gibt ihr Mut, die schon in den ersten Nachkriegsjahren abgebrochene Tradition der weiblichen Selbstverwirklichung in den achtziger Jahren fortzusetzen. In ihrer Suche nach den Ursprüngen ist sie auf die Zukunft gestoßen.“ (Anton Kaes: „Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film“. 1987) Während die deutsche Filmkritik den Film nach seiner Berlinale-Uraufführung zerlegte, worauf die Kinoverleiher ihn zurückzogen und für die Auswertung um ca. 30 Minuten kürzten, lief Deutschland, bleiche Mutter in Paris 72 Wochen hintereinander, in London 16, in Tokio 18, in Stockholm und New York zwölf Wochen. Zuletzt zeigte die Berlinale-Retrospektive 2014 in der Programmreihe „Berlinale Classics“ die Weltpremiere der von der Deutschen Kinemathek und dem Bundesarchiv-Filmarchiv wieder hergestellten Originalfassung des Films in der ursprünglichen Länge von 151 Minuten.
Ihr Film Die Berührte (1981) bot das hochemotionale Porträt eines schizophrenen Mädchens, das sich gegen Familie und religiöse Autoritäten zur Wehr setzt. Anlässlich ihrer Inszenierung eines Mutter-Tochter-Konflikts in Flügel und Fesseln/L’Avenir d‘Emilie (1984) holte sie die von ihr bewunderte Hildegard Knef vor die Kamera. In Frankreich schätzte man Sanders-Brahms, die ganz in Autorenfilm-Manier ihre eigenen Drehbücher verfasste, an Stellen selbst vor die Kamera trat, auch eigene Off-Kommentare einsprach, insbesondere für ihr Heinrich von Kleist-Porträt Heinrich (1977), Laputa (1985) über die Liaison zwischen einem Franzosen und einer Polin in West-Berlin, und den Nachwende-DDR-Rückblicksfilm Apfelbäume (1992).
Ihre Texte zum Kino gehören in die obere Schublade der deutschsprachigen Filmpublizistik der letzten Jahrzehnte, zum Beispiel der Nachruf auf den von ihr verehrten Wolfgang Staudte (1984) und diverse Essay-Beiträge zu Berlinale-Retrospektive-Publikationen der Deutschen Kinemathek, etwa in „Das Jahr 1945“ (1990), „Cinemascope. Zur Geschichte der Breitwandfilme“ (1993) oder „Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films“ (2003). Manchmal ganz unakademisch schwärmerisch, wie in ihrem Text zu Murnaus Faust (1925/26), unter dem Titel „So deutsch, so schön“; durchweg in Erinnerungsassoziationen bewegt – subjektiv, autobiografisch, mitunter allegorisch. So die frühkindlichen Eindrücke von Bombenangriff und Luftschutzbunker in „Kino 1945“: „Kommt in solchen Zeiten jemand ins Kino? In meiner Heimatstadt [d.i. Emden] nicht. Sie hatte einen kriegswichtigen Hafen, Umschlag für Erz aus Schweden und Norwegen, das ging ins Ruhrgebiet, Umschlag für Kohle zum Heizen der Lokomotiven, das kam aus dem Ruhrgebiet. Die Bombardierungen begannen schon 1940 und dauerten bis zum Kriegsschluß, unaufhörlich. Es war kein Stein mehr auf dem anderen, nur die Bunker standen noch, häßlich, grau. Aber Kinos gab es nicht. Manchmal Vorführungen in der Turnhalle eines Gymnasiums weit draußen. Das war, wenn der Krieg Atem holte, selten, fast nie. Hin ging es über Straßen, die nicht geräumt waren und voll mit Schutt lagen, Schutt der eingestürzten Häuser, oft auch noch mit verkohlten Leichen. (…) Haben wir einen Film gesehen, in dem es endlich mal wieder was zum Lachen gab? Ich schlief sowieso dabei, aber es war angenehm, wenn meine Mutter lachte, während sie mich auf dem Schoß hielt und ich schlief. Ich fühlte ihr Lachen im Schlaf. (…) Und was für Filme spielten sie im Mörderhaus? Filme, in denen die Mörder sanft und gut sind und die Frauen sie dafür verständnisvoll in die Arme nehmen. Filme, in denen die Frauen Mord planen und liebende Männer vollführen ihn für sie. Filme, in denen die Frauen Karrieren ihrer Männer planen – als Schriftsteller oder Bürgermeister – und somit mitverantwortlich sind. Lauf, Lenchen [d.i. ihre Mutter], lauf. Das war das Kino, das ich zuerst sah, hinter geschlossenen Augen.“ (1989)
Nur durch jahrelange Beharrlichkeit ließ sich die karge Finanzierung zu jenen Künstler-Paarbeziehungsfilmen zusammenbringen, denen sie sich zuletzt widmete – mit Mein Herz – niemandem! (1997) über die Liebe zwischen Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn (im selben Jahr erschien von ihr dazu ein Band im Rowohlt-Verlag) und ihrem Herzensprojekt Geliebte Clara (2008) über das Musiker-Ehepaar Clara und Robert Schumann und deren Verführung durch den jungen Johannes Brahms, damit auch über die deutsche Romantik – ihre Sehnsucht, ihre Düsternis, ihre Schönheit des Gefühls, selbst in seinen Wechselfällen. Der Komponist ist ihr Urururgroßonkel; nach der Geburt ihrer Tochter Anna 1977 führte sie den Namen ihres berühmten Ahnen hinter dem Bindestrich.