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mermaids don’t cry

Mermaids Don’t Cry

Unterhaltung auf Augenhöhe

| Jakob Dibold |
Eine erfrischende Tragikomödie voller gewitzter Ideen und knalliger Farben: Regisseurin Franziska Pflaum im Gespräch über ihr hervorragend besetztes Langfilmdebüt „Mermaids Don’t Cry“.

 

Die Faszination für Meerjungfrauen reißt auch im Kino nicht ab. Abseits von Arielle-Remakes, Pirates of the Caribbean oder Aquaman, finden sich die Fabelwesen und ihre nächsten Verwandten ebenso in Gewässern anderen künstlerischen Anspruchs. Sie sind dabei zumeist entweder nur (The Lighthouse; R: Robert Eggers) oder auch (Undine; R: Christian Petzold) Objekt männlichen Begehrens, oder Coming-of-Age-Metapher (Blue My Mind; R: Lisa Brühlmann; teils The Lure; R: Agnieszka Smoczyńska). Gleich mit der gesamten kulturgeschichtlichen Tradition von mysteriös-anziehenden, tragischen weiblichen Wasserwesen setzt sich die Choreografin Florentina Holzinger in ihrem aktuellen Stück „Ophelia’s Got Talent“ kritisch auseinander. Und darin wirkt mit Inga Busch auch eine der Darstellerinnen eines erstaunlichen Debütfilms mit – dessen Regisseurin Franziska Pflaum interessiert im Unterschied zu den genannten Filmpositionen viel mehr die eingangs genannte Faszination selbst. In Mermaids Don’t Cry erzählt sie ausgehend von der Sehnsucht einer jungen Frau, sich wie eine Meerjungfrau mit Flosse im Wasser zu bewegen, eine Geschichte der Selbstermächtigung, in der alle Figuren auf ihre ganz eigene Weise heroische Subjekte sind. Subjekte, die nicht an Wohlstand teilhaben, und somit kreativ handeln müssen, um sich gute Lebensumstände zu schaffen. Im Zentrum der ungewöhnlich visualisierten, schlauen Gesellschaftskomödie stehen die von Stefanie Reinsperger gespielte Annika, die eine teure Meerjungfrauenflosse begehrt, und die verschiedenartig komplizierten Beziehungen zu ihren Mitmenschen: Während ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Karo (Julia Franz Richter) sie mitunter zur Dauer-Babysitterin ihrer beiden Kinder erklärt, und beider schräge Chefin Mrs. Biber (Busch) den Job nicht einfacher macht, nistet sich auch noch Annikas Vater (Karl Fischer), der sich mit vorgetäuschter Immobilität die gewünschte Pflegestufe ergaunern will, in ihrer kleinen Wohnung ein. Und die neue amouröse Bekanntschaft Marc (Nico Ehrenteit) stellt sich als ebenso wenig problemlos heraus. Wohl durchdacht, poppig und doch subtil füllt Mermaids Don’t Cry sogleich eine Lücke, die viele vielleicht noch gar nie bemerkt haben. Franziska Pflaum im Interview über all das und mehr.

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Anders als in den allermeisten Filmen, in denen Meerjungfrauen eine Rolle spielen, steht bei Ihnen die Praxis des Mermaidings im Vordergrund: das Verkleiden, aber auch Schwimmen mit Meerjungfrau-Flosse, das mittlerweile professionalisiert ist. Wie haben Sie die Aspekte des Fabelwesens und des Erlöst-Werdens zu der Frage nach zeitgenössischer Selbstinszenierung in Bezug gesetzt? Für die Hauptfigur Annika stellt ein Meerjungfrau-Kostüm ein Sehnsuchtsobjekt dar, das ist auch ziemlich eskapistisch.
Franziska Pflaum:
Als ich Mermaiding das erste Mal durch Zufall in einem Schwimmbad entdeckt habe, war ich sofort fasziniert. Woher rührt der Wunsch erwachsener Menschen, sich als Meereswesen zu verkleiden und abzutauchen? Der Vorgang, sich in eine Flosse zu zwängen und vorzugeben ein Fabelwesen zu sein, ist einerseits skurril, aber andererseits auch voller Sehnsucht. Die Mischung aus diesen zwei gegensätzlichen Polen hat mich dazu bewogen, an einem Drehbuch zu arbeiten.
Im nächsten Schritt fragte ich mich, was ich persönlich mit dem Thema Meerjungfrauen verbinde. Ich bin mit der Geschichte „Die kleine Meerjungfrau“ und mit Arielle aufgewachsen. In diesen Darstellungen muss die (Meer-)Jungfrau ein großes Opfer bringen, um Sehnsuchtsobjekt des Mannes zu werden. Sie bezahlt mit ihrer Stimme dafür, ein Mensch zu werden und muss ihre Angehörigen und ihr Zuhause für immer zurücklassen. Am Ende wird die kleine Meerjungfrau zu Schaum verwandelt, weil der Mann sie nicht begehrt. Arielle kratzt nochmal die Kurve und heiratet im letzten Moment den Traumprinzen – ihre Rettung. Mir war von Anfang klar, dass ich dieses Narrativ umdrehen möchte und es letztlich um eine Selbstbefreiung gehen soll.
Was mich an Mermaiding ebenfalls interessierte war, dass es ein Millionengeschäft ist – ein gutes Beispiel dafür, dass heutzutage jeder Trend der aufkommt, sofort kommerzialisiert wird. Einerseits gibt es also diese Sehnsucht, diesen Wunsch danach abzutauchen, andererseits den Mechanismus, dass sofort Kapital daraus geschlagen wird. Ich denke, das ist eine schöne Analogie zu der Welt, in der wir leben. Deshalb schien es mir sehr passend, dass die Hauptfigur Annika um jeden Preis diese teure Meerjungfrau-Flosse besitzen will. Ich wollte eine Geschichte erzählen, deren Protagonistin ein bestimmtes Konsumgut begehrt und in der dieses Konsumgut dann letztlich das ganze Leben dieser Person auf den Kopf stellt. Im Film stellt sich dann erst allmählich heraus, wieso ihr das Abtauchen in die Traumwelt der Meerjungfrauen so wichtig ist: Weil sie im echten Leben nicht zurechtkommt, nicht Nein sagen kann und sich von ihrem Alltag und den Menschen rund um sich eingeengt fühlt. Aus dieser Enge heraus versucht sie, sich eine andere Welt zu erschaffen. Doch mit zunehmendem Chaos im echten Leben mutiert auch ihre Traumwelt zum Alptraum. Schließlich funktioniert selbst diese Ausflucht des Untertauchens nicht mehr, Annikas ganzes System gerät ins Wanken.

Abgesehen davon, dass es sehr oft Männer sind, die Frauen ausnutzen, zeigt der Film auch mindestens eine sehr komplexe Freundinnenschaft, die von ähnlichen Mustern geprägt ist. Die Verteilung von Care-Arbeit rückt mit in den Fokus, außerdem benötigen die beiden Freundinnen ihren „perspektivlosen“ Job im Supermarkt. Wollten Sie gesellschaftliche Probleme möglichst zusammenhängend erzählen?
Franziska Pflaum: Annika kämpft mit Problemen, mit denen viele – insbesondere Frauen – zu kämpfen haben: Die Schwierigkeiten damit, sich abzugrenzen, Nein zu sagen sowie für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Klar sind dafür patriarchale Strukturen eine Ursache, aber nicht die einzige, denn der Film handelt vor allem von Armut – von Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre Miete zu zahlen, oder von solchen, die nicht einmal eine Wohnung haben. Dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht, ist Folge einer neoliberalen Politik. Das Kapital arbeitet für jene, die es haben und die anderen schauen durch die Finger. Die Charaktere des Films haben dieses System internalisiert und versuchen jetzt aus dem Wenigen, das sie haben, ebenfalls Profit zu schlagen. Karo mit ihrer Schönheit, Marc mit seinem Charme und der Vater, der weder Schönheit noch Charme besitzt, tut einfach so, als würde er im Rollstuhl sitzen, um Pflegegeld zu kassieren. Sie alle versuchen, ein Stück vom Kuchen abzubekommen und nutzen dabei das schwächste Glied in der Kette aus: Annika. Ihre Gutmütigkeit wird ihr zum Verhängnis und auch sie muss lernen, für sich einzustehen.

Ich denke, der Film ist zwar lustig und manchmal gewollt überzeichnet, aber er blickt aufrichtig auf prekäre Lebensverhältnisse, in denen immer mehr Menschen leben müssen. Mir war es auch wichtig, die Figuren nicht als hoffnungslos zu zeichnen, sondern ein Stück weit als Helden – obwohl sie sich nicht „richtig“ verhalten. Für dieses Narrativ habe ich mich bewusst entschieden. Da ist beispielsweise Karo: Im ersten Moment könnte man meinen, sie ordnet sich durch ihren Versuch, aus ihrer Schönheit Profit zu schlagen, einem patriarchalen System unter. Letztlich denke ich aber, sie steht da drüber. In der Welt, in der wir leben, wird dem äußeren Erscheinungsbild nun mal ein gewisser Wert zugeschrieben. Karo ist klug genug, das zu erkennen und versucht schlichtweg, sich und ihren Kindern mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, ein besseres Leben zu verschaffen. Das ist für mich nicht verurteilenswert, denn es entspricht der Lebensrealität Vieler, und ist im Grunde eine logische Schlussfolgerung.

Ihre Hauptdarstellerinnen haben teils viel Theatererfahrung. Welche Rolle spielte das Theater im gemeinsamen Erarbeiten des Films, besonders hinsichtlich des Stichworts Körper und Verkörperung?
Franziska Pflaum: Während der sieben Jahre, die ich in Berlin gewohnt habe, habe ich sehr gerne Vorstellungen der Volksbühne besucht. Vor allem die Inszenierungen von Frank Castorf haben mich fasziniert, weil das Spiel darin so exaltiert ist, im Kern aber trotzdem eine große Wahrhaftigkeit widerspiegelt. Im Kino geht man ja oft davon aus, dass Authentizität am besten mit sehr reduziertem Spiel, eventuell auch von Laien, erreicht werden kann. Aber es gibt eben auch andere Formen, die spannend sein können. Die Wahrhaftigkeit, die ich meine, lässt sich genau in dieser exaltierten Spielweise verkörpern. Inga Buschs Figur im Film zum Beispiel, die Supermarktchefin Mrs. Biber, hat etwas sehr Schräges, Verdrehtes an sich. Hier schwingt immer eine Portion Wahnsinn mit. Und dennoch, für mich stellt sie die Figur wahrhaftig dar, weil sie im Kern etwas trifft, das berührt. Das war eine ziemliche Herausforderung, weil die Rolle einerseits so verrückt ist, und ich aber gleichzeitig wollte, dass sie auch glaubwürdig ist – und wer weiß, vielleicht gibt es in Wien wirklich so eine durchgeknallte Supermarktleiterin. Das gibt es doch oft, dass das Leben so absurd ist, dass die Leute es völlig überzogen finden, wenn man es in ein Drehbuch schreibt. Alles muss immer so reduziert sein, das finde ich schade. Denn gerade Kino bietet doch die Möglichkeit, diese speziellen Momente oder speziellen Personen zu zeigen. Generell arbeite ich gerne mit Improvisation und verschiedenen anderen Techniken, um mit den Schauspielenden in ihre Rollen zu kommen. Wir sind zum Beispiel mit Julia, Stefanie, den Kindern und dem „Opa“ in den Prater gegangen, haben quasi einen Familienausflug gemacht; dabei habe ich ihnen auch viele Fragen zu ihrer fiktiven Familienkonstellation gestellt. Um auch für die Kinder eine Art Parallelwelt zu bauen, in die sie dann, wenn wir den Film drehen, eintauchen können. So lässt sich vielleicht meine Methode beschreiben: Ich versuche, ein anderes „Zuhause“ zu schaffen. Und dabei ist es gar nicht so relevant, ob dieses andere Zuhause komplett realistisch ist, dort können auch andere Regeln gelten als in der Realität.

Wie schwierig war es, den besonderen Humor des Films zu finden? Manches Komödiantische ist auch geschickt versteckt, Annika und ihr Vater etwa haben, wie angesprochen, beide ein gewisses Verlangen danach, ihre Beine nicht mehr nutzen – aus völlig unterschiedlichen Gründen natürlich.
Franziska Pflaum: Wir mussten den Film in relativ kurzer Zeit erarbeiten, weil er für ein Debüt doch recht teuer war. Für mich war aber klar, dass ein Prozess am Set stattfinden muss, in dem wir nach diesem Humor suchen. Es wäre also sehr gut gewesen, mehr Zeit zu haben – das ist auf jeden Fall ein Wunsch für meinen nächsten Film. So mussten wir sehr drehbuchgetreu drehen und den Rest im Schnitt machen, was alles andere als einfach ist. Wenn ich ein Drama drehe, ist das anders: Da orientiere ich mich an der Realität und die Sprache des Films ist naheliegender. Für Mermaids Don’t Cry hingegen mussten wir erst eine eigene Sprache entwickeln. In diesem kurzen Zeitraum war das hart, doch am Ende haben wir es, denke ich, gut hinbekommen.

Sie haben einmal Andrea Arnold als Vorbild genannt. Wie wichtig ist für Sie das respektvolle Darstellen von nicht reichen oder bürgerlichen Milieus?
Franziska Pflaum: Ja, das Respektvolle von Andrea Arnold gefällt mir sehr. Mir ist das auch im politischen Sinne ein Anliegen, nicht auf eine gewisse gesellschaftliche Schicht herabzuschauen. Es gibt konkrete filmtechnische Strategien, das zu machen, Strategien dafür, jemanden nicht auszustellen. Das kann zum Beispiel eine Kameraführung sein, die mit der Figur mitgeht, oder die Inszenierung von Blicken, die aus dem Bild führen, wodurch ich als Zuseherin erst später sehe, was die Figur sieht – die Figur also wissender ist als ich. Dann hat das Publikum keine Möglichkeit, einen Blick hinunter einzunehmen. Das ist etwas, das dem österreichischen Kino auf weiten Strecken fehlt, wie ich finde. Alleine wenn man sich ansieht, wie der Gemeindebau dargestellt wird: Da offenbart sich ein gewisses Menschenbild, das nicht sehr positiv ist, es wird von oben herabgeschaut. Es stellt sich die Frage, was das für eine Gesellschaft bedeutet, wenn stets von einer privilegierten Schicht – die überhaupt erst die Möglichkeit hat, Filme zu machen – auf das „Volk“ herabgeschaut wird. Und die Leute als abstoßend und einfach gestrickt dargestellt werden. Es ist an der Zeit, dieses Muster aufzubrechen und ich glaube daran, dass Film eine tolle Chance dafür sein kann, zu mehr gesellschaftlicher Solidarität zu finden. Gerade im Bereich der Komödie, der das größte Publikum hat, fände ich es wichtig, die Geschichten weniger platt zu gestalten und zu versuchen, etwas Neues zu machen. Das muss keine Sozialromantik sein, fernab davon: Was fehlt, ist ein ehrlicher, geradliniger und solidarischer Blick. Unser Film versucht, einen solchen einzunehmen.

Noch einmal zum Visuell-Ästhetischen von „Mermaids Don’t Cry“: Die Optik des Films ist ebenso erfrischend und nicht-eintönig wie seine Figuren. Gab es ein sehr genaues Konzept dafür?
Franziska Pflaum: Es gab unter anderem ein stringentes Farbkonzept, das wir in Abstimmung mit Kostüm- und Szenenbild entwickelt haben. Im Vordergrund stehen mit den Farben Rot, Lila und Gelb sehr knallige Farben, die im ersten Moment aufeinanderprallen, letztlich aber doch ein harmonisches Bild ergeben. Dahinter stand der Wunsch, die gewohnte Darstellung von Gemeinde- und Plattenbau zu durchbrechen, wo man meist sehr entsättigte Farben sieht. Weiters wurden etwa die Supermarktuniformen extra genäht und die ganze „Corporate Identity“ des Supermarkts „Prima“ wurde eigens entwickelt und gestaltet. Es gab den starken Wunsch, unsere Filmwelt in ganz eigenen Tönen zu inszenieren. Und sehr wichtig war uns dabei auch, dass die Figuren immer so gekleidet sind, dass es zwar zum Milieu passt, sie aber trotzdem richtig gut aussehen. Dies wiederum, um einen Blick nach unten zu vermeiden: Wir wollten den Figuren zugestehen, dass sie sich gut kleiden können, ohne dabei jedoch stilisiert zu wirken.

Vielleicht zum Abschluss: Der Film erzählt nie etwas Spektakuläres, ein tolles Beispiel dafür, wie viel man mit scheinbar Alltäglichem erzählen und unterhalten kann. Sind Sie immer von zufälligen alltäglichen Beobachtungen inspiriert oder planen Sie fortlaufend fixe Themen für kommende Projekte?
Franziska Pflaum: Beides ist der Fall, würde ich sagen. Ich gehe auf jeden Fall gern von Alltagsbeobachtungen aus, und ich habe einen sehr diversen Bekanntenkreis – ich kenne Leute, die ihren Lebensunterhalt mit Putzen verdienen und solche, die riesige Konzerne leiten. Meine Großeltern wohnen in Brünn in einem Plattenbau. Gleichzeitig komme ich auf der österreichischen Seite aus bürgerlichen Verhältnissen. Ich kenne also beide Seiten als normal und in beiden Welten gibt es natürlich Beobachtungen, die mich faszinieren. Oft wird über Figuren – aus welcher der beiden Welten auch immer – gesagt, sie seien ein Klischee. Aber ich frage mich: Wer ist denn kein Klischee? Es geht doch nicht darum, ob eine Figur per se ein Klischee darstellt, sondern darum, wie sie sich verhält, und ob sie das, was ich von ihr erwarte, nicht vielleicht sprengen kann.