Absturz oder Gipfelsturm. Es ist eine schwierige Entscheidung für ein Filmfestival, was man als Eröffnungsfilm zeigt. Schon in den ersten Stunden kann sich das Wohl und Wehe einer monatelang vorbereiteten Großveranstaltung entscheiden. Stars sind extrem wichtig, die durch ihre Präsenz auf dem Roten Teppich und damit in den Medien die Relevanz der Veranstaltung verkörpern. Und nicht zuletzt gut unterhalten soll der Openingfilm die geladenen Ehrengäste und Sponsoren. Die Mostra in Venedig, die 1932 gegründete Filmschau, hat in den letzten Jahren dabei ein erstaunlich glückliches Händchen bewiesen. Ob das 3D-Raumfahrt-Epos Gravity vor zwei Jahren oder Birdman 2014, hier liefen die späteren Oscar-Preisträger lange bevor sie in den Vereinigten Staaten zu sehen waren.
Pioniergeist beweist das Festival auf dem Lido auch dieses Jahr. Am heutigen Mittwoch eröffnet ausgerechnet das Bergsteigerdrama Everest das älteste Filmfest der Welt und setzt damit ein klares Zeichen: Das Vorhaben ist eine fast unmögliche Sisyphusarbeit und grenzt an Wahnsinn, aber wir lassen uns trotzdem nicht abbringen – Gut so! In atemberaubenden, dreidimensionalen Bildern sieht man stechend klare Aufnahmen von Gletschern und folgt in mehr als zwei Stunden einer Gruppe Männer und Frauen, die für die Besteigung des Mount Everest ihr Leben riskieren.
Zu den Bergsteigern gehören Hollywoodstars wie Jake Gyllenhaal und Josh Brolin, Keira Knightley wartet als schwangere Ehefrau zuhause auf die Rückkehr ihres Mannes. Aber der eigentliche Star des Films ist der Berg. So majestätisch, in strahlendem Weiß und zugleich so unbezwingbar hat man Gebirge noch nie auf der Leinwand gesehen. Weit weniger romantisch, aber auch sehr viel ungefährlicher dürfte heute Abend der Gang über den Roten Teppich sein. Nach Auskunft des Festivals kommen bis auf Keira Knightley alle Stars des Films. Und Venedig beweist damit erneut, dass es sich hinter Berlin und Cannes keineswegs verstecken muss.
Es ist nicht der einzige US-Beitrag in einem Jahrgang mit erstaunlich starker amerikanischer Präsenz. In den kommenden zehn Tagen werden sich eine ganze Reihe von Stars die Klinke in die Hand drücken: Johnny Depp und Benedict Cumberbatch reisen für das Gangsterepos Black Mass an, der frisch oscarprämierte Birdman-Star Michael Keaton kehrt mit dem Missbrauchsdrama Spotlight zurück, Kristen Stewart stellt das Sci-Fi-Drama Equals vor, Charlie Kaufman seinen ersten Animationsfilm Anomalisa, Robert Pattinson kommt für The Childhood of a Leader und Anthony Hopkins für Go With Me.
Es ist eine klare Absage an Vorgänger Marco Müller, der bis vor vier Jahren seinen Schwerpunkt auf asiatisches Kino legte. Seit seiner Absenz entwickelt sich die Biennale unter dem neuen Leiter Alberto Barbera zu einem europäischen Schaufenster für das Oscarrennen 2016. Eines der Highlights ist dabei sicher auch Tom Hoopers „The Danish Girl, das Drama um einen der weltweit ersten Transsexuellen, gespielt von Eddie Redmayne.
Ist Venedig als Festival ein Zeichen neuer Ernsthaftigkeit? In der Jury, die bis zur Preisverleihung am übernächsten Samstag über die 21 Wettbewerbsbeiträge entscheidet, finden sich in diesem Jahr zumindest erstaunlich viele hochrangige Regisseure, von Oscar-Preisträger Alfonso Cuarón (Gravity), EFA-Gewinner Pawel Pawlikowski (Ida) bis zum Goldene Palme-Preisträger Nuri Bilge Ceylan (Winter Sleep). Und im Programm finden sich so unterschiedliche Filme wie Cary Fukunagas Beasts of No Nation über afrikanische Kindersoldaten mit Idris Elba als Warlord, Luca Guadagninos Psychodrama A Bigger Splash mit Tilda Swinton, Matthias Schoenaert, Ralph Fiennes und Dakota Johnson, der postapokalyptische Kriegsthriller Man Down mit Shia LaBeouf, Amos Gitais Rabin über die Ermordung des israelischen Premierministers Yitzhak Rabin oder Laurie Andersons Essayfilm Heart of a Dog. Erstaunlich stark ist in diesem Jahr der Dokumentarfilm vertreten. Allein im Wettbewerb finden sich unter den 21 Beiträgen drei nichtfiktionale Arbeiten. Der russische Regisseur Aleksandr Sokurov, der hier vor vier Jahren eine fulminante Faust-Adaption präsentierte und dafür mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, widmet sich in Francofonia dem Louvre in Paris, dem Museum von Weltrang, das im Zweiten Weltkrieg unter der deutschen Besatzung zu leiden hatte. Zhao Liang zeigt in Behemoth die Kohleminen in der chinesischen Steppe und Evgeny Afineevsky rekapituliert in Winter On Fire die Massendemonstrationen in der Ukraine im vergangenen Jahr. In anderen Sektionen beleuchtet der Ukrainer Sergei Losnitza in The Event den gescheiterten Putsch im August 1991 in Moskau und Regielegende Frederick Wiseman begibt sich mit In Jackson Heights in das multikulturelle Viertel in Queens. Amy Berg porträtiert in Janis die früh verstorbene Sängerin Janis Joplin, Noah Baumbach in De Palma seinen Regiekollegen.
Auf einen Film musste das Festival allerdings kurzfristig verzichten. Martin Scorsese zog den bereits angekündigten Kurzfilm The Audition wieder zurück. Begründung: Er sei wegen technischer Probleme nicht fertig geworden. Der Vorfreude auf dem Lido tut das keinen Abbruch: Die 72. Ausgabe ist für die nächsten zehn Tagen auch so gut aufgestellt.