Vom 6. Juli bis zum 6. August 2023 findet die diesjährige Ausgabe des ImPulsTanz - Vienna International Dance Festival statt. Marina Oteros Stücke FUCK ME und LOVE ME geben dabei einen Einblick, was das heurige Programm zu bieten hat.
FUCK ME: Sex ist Körper. LOVE ME: Liebe ist nicht so sehr Körper als Zeit. „Ich möchte das erzählen, worüber man sonst nicht spricht“, sagt Marina Otero. Die argentinische Tänzerin und Choreografin weiß, wie man Tabus in Szene setzt. Sie bricht in ihren Stücken mit sich selbst, ihrer Familie und ihrer Heimat. Die Radikalität, die sich in ihren Stücken herauskristallisiert, macht einen wütend, entsetzt oder dankbar. Damit trifft Otero einen Nerv, der schon lange blank liegt. Mit FUCK ME (2019) und LOVE ME (2022) mischt Marina Otero das Impulstanz-Festival 2023 auf und bringt ihre zynische Schonungslosigkeit auch auf Wiener Bühnen.
Vor einigen Jahren zerbrach der Körper der argentinischen Performerin. Wortwörtlich: Marina Otero erlitt einen Bandscheibenvorfall. Die junge Künstlerin musste fast ein Jahr im Krankenhaus verbringen, unter andauernden Schmerzen. Nachdem Otero eben erst ihren Durchbruch feiern konnte, wurde sie plötzlich daran gehindert, sich auszudrücken. FUCK ME ist die direkte Reaktion auf dieses Zerbrechen. Sechs nackte Männer tanzen stellvertretend dafür auf der Bühne, Marina Otero sitzt am Bühnenrand und brüllt ihre Geschichte ins Publikum. Im Tanz drücken die Körper unmittelbar aus, was schwierig zu erklären ist: die Zerbrechlichkeit durch das Fortschreiten der Zeit und die Verletzlichkeit von unterworfenen Körpern. Die Message ist bissig: „Ich habe es immer gespürt, mit meinem eigenen Körper und dem Körper aller Frauen: Wir werden verdinglicht. Über unsere Körper werden ständig Meinungen geäußert. Männern wird das eher vorenthalten, und diese Rache macht mir Freude: eine Stunde lang Gerechtigkeit walten zu lassen und mir vorzustellen, dass es umgekehrt ist.“
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Tanzen bis zur Schmerzgrenze
FUCK ME ist eine kompromisslose Zerlegung des Patriarchats: „Auch wenn Nacktheit schon zigtausend Mal auf die Bühne gekommen ist – ich wollte mich persönlich rächen.“ Nicht nur für die Sexualisierung, sondern auch für die Misshandlung von Frauenkörpern, so Otero. Dabei gehen die Körper der sechs Tänzer bis zur Schmerzgrenze. Sowohl der physischen als auch der psychischen. „Das Theater war mir wichtiger als mein Leben“, so die Regisseurin in FUCK ME. Das Leben ist, wie so oft, dem Körper unter die Haut geschrieben, weshalb die Tanzperformance stark autobiografisch ist. So erzählt sie etwa die Geschichte ihres Großvaters, der während der argentinischen Militärdiktatur als Offizier im Geheimdienst tätig war. Eine Zeit, über die in ihrer Heimat gerne geschwiegen wird. Marina Otero scheut sich nicht, gerade diese bohrenden Themen zu verkörpern: Leben und Körper, so wie Körper und Theater, bleiben untrennbar miteinander verbunden.
„Vielleicht ist Liebe ein Körper, der die Zeit festhält“, sagt sie. LOVE ME tritt aufs Podest: die ungeahnte Fortsetzung von FUCK ME. Das Stück, das zusammen mit Regisseur Martín Flores Cárdenas geschrieben wurde, manövriert sich zwischen Liebe und Gewalt heraus aus einer Heimat, die Otero hinter sich gelassen hat: „Diese Arbeit ist ein Abschied“. Aber auch hier ist der Abschied von der Heimat zu kurz gefasst. Die Regisseurin trennt sich nicht nur von Argentinien, sondern auch von etwas Unheimlichem, das in ihr wütet. Sie offenbart, „dass diese Arbeit über die Dunkelheit und Gewalt spricht, die ich in mir trage.“ Aus sechs nackten Männern wird eine Frau: Marina Otero ist alleine auf der Bühne. Das Solo, die in Buenos Aires uraufgeführt wurde, markiert ihren Umzug nach Madrid. So ist der Text, den Otero in jedem Land ein bisschen abändern will, auch „Bekenntnis einer Fremden, einer Flüchtigen.“ Die Künstlerin macht dabei aus ihrem Körper eine Projektionsfläche für Themen, die uns alle betreffen: Liebe, Zeit, Vergehen, Tod und Gewalt: „Unsere Identität ist der Weg, weil das Land, das wir verlassen haben, nicht mehr existiert.“ Dabei übertönen sich Text und Körper. Der unmissverständliche Text verwebt sich auf der Bühne mit einem Körper, der fast zerbirst. „Ihre Kreativität entspringt aus diesen Schnitten, diesen Wunden“, so Co-Regisseur Cárdenas über Marina Oteros Arbeit in LOVE ME. Sie sei eine „sensible Maschine“.
Existentialistisches Theater
Schon 2012 hat Marina Otero den Grundstein für ihre exzentrische Bühnenpräsenz gelegt. In ihrem ersten Stück ANDREA ist geboren, was in FUCK ME und in LOVE ME ausgereift wird. Das Stück ist eine eklektische Ekstase. Auch hier sitzt Otero allein auf dem Podium. Sie weint, schreit und wirft sich auf den Boden: „Das Leben ist keine Show, und das ist meine Dokumentation.“ Wer das euphorisch Destruktive an dem Schaffen der argentinischen Künstlerin verstehen will, muss zuerst anerkennen, dass man nichts im Leben und der eigenen Person je gänzlich verstehen kann. Genau das zeigt Marina Otero vor: Sie sucht im Tanz, im Rausch, in der wütenden Selbstzerstörung nach ihrer eigenen Vergangenheit, doch findet sie nie wirklich. Zuletzt bleibt einem Verwirrung oder Verstörung. Die Grenzen zwischen Performance und Realität sowie dem eigenen Ich verschwimmen. „Mit großer Intelligenz und beeindruckendem technischem Hintergrund, gibt sie alles auf der Bühne“, sagt der befreundete Regisseur Pablo Rotemberg. Wenn man Otero zusähe, dann würde „alles in einem ausgelöst“.
Martina Otero ist schon als Kind zum Tanzen gekommen. Schließlich begann sie, sich auf eigene Faust bei verschiedenen Lehrenden sowie autodidaktisch weiterzubilden. Doch nachdem Argentinien 2012 eine wirtschaftliche Stagnation erfuhr und niemand ihr eine Bühne bot, kam der Impuls, selbst etwas zu schaffen. Alle vier Stücke, die bisher aus Oteros Feder gekommen sind, sind Teile des Langzeitprojekts „Recordar Para Vivir“, in dem die Künstlerin ein ewiges Stück über ihr eigenes Leben entwickeln will, das mit ihrem Tod endet: Bühnenpräsenz als Existentialismus. Die argentinische Regisseurin spiegelt mit diesem Ansatz, was in den letzten Krisenjahren durch die poröse Hülle der Gesellschaft hervor gedrungen ist: das Wüten im Moment, die Aggression, der Rausch, die Entrückung und Euphorie – alles Auswüchse eines Zeitgeists, der am Vergangenen leidet und die Zukunft nicht sieht. Es bleibt nur noch die Zersetzung im Jetzt, um das Geschehen um sich herum zu verstehen. Und diese bringt Marina Otero anhand ihres eigenen Körpers auf den Punkt.
Auch wenn die Stücke Oteros nicht zur Selbstzerstörung inspirieren sollen, so rütteln sie an der eigenen Haut: dem vermeintlichen Ich, das uns vor der Außenwelt schützen soll. Vielleicht sollte man FUCK ME und LOVE ME deswegen nicht als Lösung verstehen, sondern als Spiegel für das, was wir uns oft nicht trauen, herauszulassen. „Ja, FUCK ME und dann LOVE ME: Erst fick mich und dann reden wir über die Liebe“, schreibt Otero knapp, um die Stücke zu verschränken. Vielleicht ist das, was wir lieben, immer schon irgendwo zerstört. Marina Otero will zumindest versuchen, es herauszufinden.