Das Filmarchiv Austria würdigt im Rahmen seiner alljährlichen Viennale-Reihe den großen Fritz Kortner als Filmkünstler.
„Während beim Theater die Phantasie des Darstellers sich bloß am sprachlich fix Gegebenen entzündet und auch der Körperausdruck sich immer vom Sprachlichen ableitet, hat der Filmdarsteller die Möglichkeit, ja die Nötigung, sich, bloß geleitet durch das knappe Handlungsgerüst des Filmmanuskripts (das sofort den Körperausdruck auslöst), selbständig, frei, schöpferisch auszuleben, in einer der Produktion des Stehgreifkomödianten alter Zeiten erstaunlich nahen Art. Daß somit Theater und Film in ihren Urformen sich so sehr einander verwandt erweisen, ist offensichtlich kein Zufall.“ (Fritz Kortner, „Neue Freie Presse“, Juni 1924) Hintertreppe (Leopold Jessner, 1921): Ein Dienstmädchen (Henny Porten) in einer „Berliner Fremdenpension“ ist mit einem Handwerker (Wilhelm Dieterle) verlobt, der eines Tages nicht von der Arbeit nach Hause kommt. Wochen vergehen, und ein etwas verwachsener Postbote (Kortner), heimlich in sie verliebt, schreibt ihr in dessen Namen Telegramme, um sie zu trösten. Das Dienstmädchen entdeckt dies und fasst Zuneigung, doch dann kehrt ihr Verlobter, nach einem Unfall lange im Krankenhaus, zurück. In einem Jähzornsanfall erschlägt der Postbote den Heimkehrer. Carl Mayers „Kammerspiel“ ist ohne Zwischentitel verfasst. „Postbote ist Herr Kortner. (…) Ganz langsam in der Bewegung, und seine Langsamkeit zwinkert: Paß mal auf, was ich tue, ist bedeutend. Aber er ist eine Figur, er hat die Überzeugungskraft der Realität, er ist ein geniales Faktum.“ („Das Tagebuch“, 17.12.1921) – „Die Kammer des Briefträgers, aus der Kortner so ungeschickt wie sorgfältig (…) den Staub wegfegt, rund um den Herd mit den anbrennenden Gerichten oder die Berliner Hinterhausfronten, von armselig kleinen Fenstern erleuchtet, signalisieren die Kehrseite der „Goldenen Zwanziger“ in Berlin.(…) Das ist Kino der Frühzeit, aus dem Theater entstanden, um dessen Einfälle uns einmal die ganze Kunstwelt beneidete.“ (Brigitte Jeremias, „FAZ“, 7.3.1986)
In Schatten. Eine nächtliche Halluzination (Arthur Robison, 1923) spielt Kortner den eifersüchtig seine leichtlebige Frau verfolgenden Ehemann. Auf einer Abendgesellschaft führt ein Gaukler einer zuvor hypnotisierten Gesellschaft ein Silhouettenspiel vor, in dem jeder Besucher sich und seine Begierden erkennt, und hinterlässt so, indem er die in Trance versetzte Gesellschaft ihren eigenen Schatten ins Unterbewusste folgen lässt, beschämte Kavaliere ebenso wie ein beschämtes Ehepaar, das von seiner Eifersucht wie von ihrer Koketterie geheilt ist. Kortner „gibt dieser Figur stärkste dramatische Akzente, verzerrt sie ins Groteske und gibt sie mit einem fürchterlichen Grauen, aber nur bis zu jener Grenze, die zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen liegt. Rein menschlich wohl das Beste, was Kortner für den Film gab.“ („Der Kinematograph“, 29.7.1923) – „Seit unseren damaligen Arbeits-Tagen und –Nächten weiß ich, daß Kortner eine seltene Einheit verkörpert. Eine geistige und nervöse Differenziertheit, mit zartesten Verästelungen zwischen Bewußtem und Unterbewußtem, die plötzlich und höchst unerwartet in streitbarste Männlichkeit übergehen kann. Sensibilität von psychosomatischem Nuancenreichtum, die sich zwangsläufig nicht nur in Zuckungen, sondern auch einmal in einem – knock out abreagieren kann …!“ (Arthur Robison,1928). In Der Andere (Robert Wiene, 1930), dem Remake des gleichnamigen „Autorenfilms“ von Max Mack (1913; mit Albert Bassermann in der Hauptrolle), spielt Kortner den Staatsanwalt Haller, der an Bewusstseinsspaltung leidet. Tags ein pflichtbewusster Diener des Gesetzes, verkehrt er nachts in der Unterwelt. Er lernt ein Mädchen kennen, das ihn, nicht wissend, wen sie vor sich hat, dazu anstiftet, den Staatsanwalt, seine Tagesexistenz, umzubringen. Seine Schizophrenie fliegt auf, doch trotz schlechter Prognose wird er am Schluss als geheilt entlassen. „Kortner treibt praktische Charakteranalyse, bei der man eiskalt bleibt“, schreibt Siegfried Kracauer.
Wien – Berlin – London – Hollywood
Fritz Nathan Kohn, geboren 1892 in Wien, spielt bereits 1911 unter Max Reinhardt am Deutschen Theater in Berlin, 1914 an der Wiener Volksbühne. Auf der Leinwand ist er zuerst in Harry Piels, des „Dynamit-Regisseurs“, halsbrecherischen Sensations-Detektivfilmen zu sehen („obskure Pioniertätigkeit“, so Kortner später), nach dem Weltkrieg entwickelt der Theaterschauspieler unter der Regie von Leopold Jessner oder Karl Heinz Martin eine expressionistische Darstellungsweise, die ihn für die phantastischen Rollen eines Pharao in F.W. Murnaus Satanas oder eines indischen Dieners in Das Auge des Buddha (beide 1919) prädestiniert; sein Stil entspricht der unheimlichen, verzerrten Atelier-Architektur des Nosferatu-Designers Albin Grau oder Robert Neppachs in Das Haus zum Mond (1920). Wie viele Stars der Berliner Theaterszene, die je nach Regiekonzept mal naturalistisch, mal stilisiert zu spielen vermochten, reiht Fritz Kortner im Lauf der Weimarer Republik Filmauftritt nach Filmauftritt; fast siebzig Filme in fünfzehn Jahren allein der Stummfilmzeit, und bis zur Mitte der zwanziger Jahre findet sich nur jeder vierte, danach etwa die Hälfte überliefert. Sein Filmrollenspektrum umfasst die reiferen, älteren Männerfiguren: so zum Beispiel den Vater Karamasoff (Die Brüder Karamasoff, 1921), einen Patriarchen (Peter der Große, 1923), einen Anarchistenführer (Weltbrand, 1920), gleich zweimal Beethoven (Der Märtyrer seines Herzens, 1918, sowie Beethoven, 1927), einen Geheimdienstchef (Mata-Hari, 1927), einen Erpresser (Orlacs Hände, 1924) oder einen brutalen Kapitän (Das Schiff der verlorenen Menschen, 1929). Bald scheint er auf die Rolle des „Schurken im Frack“ mit Monokel abonniert (etwa als eifersüchtiger Begleiter Marlene Dietrichs in Die Frau, nach der man sich sehnt, Kurt Bernhardt, 1929; nach Max Brod), mal weltmännisch, mal kaltschnäuzig, auch jovial. Kortners Auftritt als Dr. Schön in G.W. Pabsts Die Büchse der Pandora (1929), „Variationen auf das Thema Wedekinds“, dem Schauspieler von der Bühne her bestens vertraut, bildet wohl den Gipfel seiner Stummfilmkarriere. Unfähig, dem „Mädchen aus der Gosse“ zu widerstehen, zerbricht er an der Ehe mit ihr, die einem gesellschaftlichen Suizid gleichkommt.
In E.A. Duponts Atlantic (1929) gibt Kortner sein Debüt im Tonfilm, im Zentrum eines konversationsreichen Kammerstücks, als an den Rollstuhl gefesselter Dichter, der seine Rolle unterkühlt, intellektuell enthoben, mit Lebensabstand interpretiert. Dem fulminanten Filmregie-Debüt mit Der brave Sünder (1931), einer Komödie, die Ines Steiner in ihrer außergewöhnlich plastischen Beschreibung als „filmhistorischen Kairos“ bezeichnet hat, als „bedeutendste Hinterlassenschaft Kortners als Regisseur“, folgt So ein Mädel vergißt man nicht (1932), ehe Kortner 1933 mit seiner Frau Johanna Hofer nach London emigriert, wo er in akzentbehaftetem, aber flüssigem Englisch unter anderem orientalische Despoten verkörpert. Nach 1938 schreibt Kortner in den USA Drehbücher, übernimmt Rollen in Anti-Nazi-Movies, bedient genretypische Ausdrücke einer vertraut gewordenen Filmsprache des Film noir. Er gehört zu Brechts Freundeskreis. Zurück im zerstörten Deutschland, spielt Kortner in dem von ihm geschriebenen Film Der Ruf (1949) die Rolle des Professors Mautner, der sich nach 15-jährigem Exil zurück in Deutschland gegen Antisemitismus und reaktionäre Ideologie der HJ-Generation zur Wehr setzen muss. Das kurz nach seiner Rückkehr aus den USA entstandene Melodram ist Kortners Filmvermächtnis.
Filmvorführungen während der Viennale täglich im Metro Kinokulturhaus. Zur Retrospektive erscheint eine umfangreiche Monografie, die sich erstmals mit Fritz Kortner als Filmkünstler beschäftigt: Armin Loacker / Georg Tscholl (Hg.): „Das Gedächtnis des Films. Kortner und das Kino“, Verlag Filmarchiv Austria.