Europäische Umbrüche und US-amerikanische Innenansichten: eine Auswahl aus dem reichhaltigen Dokumentarfilmprogramm der Viennale.
Im November des vergangenen Jahres begann sich auf dem Maidan-Platz von Kiew eine Protestbewegung gegen die damalige Regierung der Ukraine zu formieren, nachdem diese völlig überraschend ein lange ausverhandeltes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union nicht unterzeichnet hatte. Regisseur Sergei Loznitsa war von Anfang an bei den Kundgebungen mit der Kamera dabei und dokumentierte mit Maidan in bester Direct-Cinema-Tradition einen entscheidenden historischen Abschnitt. Sein Film ist keine umfassende Chronik der Ereignisse, sondern erfasst durch Momentaufnahmen – manchmal auch abseits der Geschehnisse auf der zentralen Bühne des Platzes – den Umbruch in der Ukraine, der mit der Amtsenthebung des Präsidenten Wiktor Janukowitsch endete. Ohne jeden intervenierenden Kommentar – es sind vor allem Reden und Ansprachen, die zumeist aus dem Hintergrund des Geschehens hörbar werden – macht Maidan mit seinen Mosaiksteinen deutlich, dass die Teilnehmer an den Protesten sich aus allen Bevölkerungsschichten rekrutierten und die Bewegung über eine breite Basis verfügte. In den ersten Wochen weitgehend friedlich ablaufend, begann die Lage auch durch den immer aggressiveren Einsatz seitens der Sicherheitskräfte zusehends zu eskalieren – Loznitsas Filmteam ist da zeitweilig bedrohlich dicht am Geschehen – und drohte außer Kontrolle zu geraten. Am Ende zählte man an die hundert Todesopfer.
Maidan erscheint wie ein Menetekel jener Ereignisse, die in den folgenden Monaten die Ukraine an den Rand eines Bürgerkriegs bringen sollten und die bis heute immer noch täglich Menschenleben fordern.
Spannungen politischer, sozialer und ökonomischer Natur, denen Europa derzeit ausgesetzt ist, finden auch in weiteren dokumentarischen Arbeiten ihren Niederschlag. Eszter Hajdú etwa reflektiert die nationalistisch-chauvinistischen Tendenzen, die sich in jüngerer Vergangenheit innerhalb der ungarischen Gesellschaft breit gemacht haben. Judgement in Hungary fokussiert kammerspielartig auf einen Prozess, in dem vier Männer rassistisch motivierter Morde an sechs Roma angeklagt wurden und der sich über beinahe drei Jahre erstreckten sollte. Einen ebenso ungewöhnlichen wie originellen Rückblick auf die Zeitgeschichte wirft Corneliu Porumboiu mit Al doilea joc (The Second Game). Rohmaterial ist die Aufzeichnung eines Fußballspiels, des Bukarester Stadtderbys zwischen Dinamo und Steaua aus dem Jahr 1988, also ein Jahr bevor die Revolution der Herrschaft Nicolae Ceauçescus ein Ende setzte. Als Schiedsrichter fungierte der Vater des Regisseurs – eine durchaus prekäre Aufgabe, nicht nur weil der Conducator als großer Fan von Steaua galt. Vater und Sohn Porumboiu kommentieren das Spiel, das bei heftigem Schneetreiben stattfand, aus dem Off. Dabei wird immer wieder angesprochen, wie das Spiel anders hätte verlaufen können, hätte Porumboiu Senior doch einen Elfmeter gepfiffen, anstatt Vorteil gelten zu lassen. Das Fußballspiel als Metapher für die Faszination, die von im Rückblick alternativ angedachten Szenarien der (Welt)-Geschichte ausgeht.
Mehr auf Innenansichten konzentriert sich dagegen das US-amerikanische Kino. Debra Granik, die sich mit ihren Spielfilmen wie Down to the Bone und Winter’s Bone als eine der zentralen Figuren des „Real America“ etabliert hat, rückt einen schillernden Charakter in den Mittelpunkt von Stray Dog. Ron Hall hat sich auch mit seinen mehr als sechzig Jahren die Energie eines Harley fahrenden Bikers mit Freiheitsdrang und Individualität bewahrt, doch mit den Jahren fand er einen Weg, parallel dazu seinem – im besten Sinn – geradezu rührenden Familienleben mit seiner Frau und vier kleinen Hunden Platz einzuräumen. Doch neben ganz gewöhnlichen Problemen des Alltags wie der Sorge um die berufliche Zukunft der Enkeltochter oder den Kosten für eine aufwändige Zahnbehandlung quält Ron immer wieder die Erinnerung an seinen Einsatz im Vietnamkrieg – ein amerikanisches Trauma, das offenbar auch nach Jahrzehnten stärker durchschlägt, als man vermuten würde.
Jonas Mekas, einer der Großen der US-amerikanischen Avantgarde, gewährt mit Outtakes From the Life of a Happy Man noch einmal Einblicke in seine filmischen Tagebücher. Verwendet hat der 92-jährige Mekas für den Abschluss seines cineastischen Schaffens Material, das sich im Verlauf jahrzehntelanger Filmarbeit angesammelt hat, aber bislang aus unterschiedlichen Gründen keine Verwendung fand. Frederick Wiseman, ebenfalls eine legendäre Größe im amerikanischen Dokumentarfilm, widmet sich in National Gallery mit gewohnter Präzision dem titelgebenden Londoner Museum. Abseits aktueller politischer und sozialer Umbrüche hält sich auch die französische Regisseurin Tessa Louise-Salomé, die in Mr. Leos caraX versucht, sich dem geheimnisvollen Solitär des europäischen Kinos anzunähern.