Die Retrospektive "Animals - Eine kleine Zoologie des Kinos" konfrontiert uns mit unseren Mitgeschöpfen - und mit uns selbst.
„Worin bestand das Geheimnis der Gleichheit und Ungleichheit des Tieres mit dem Menschen? Das Geheimnis, dessen Existenz der Mensch sofort erkannte, als er den Blick eines Tieres auffing.“ (John Berger)
Als Schlussnummer des Programms des Variétés ‚Wintergarten‘ ab dem 1. November 1895 wurde angekündigt: „Das Bioskop. Die interessanteste Erfindung der Neuzeit.“ Das 15-minütige Programm umfasste neben viel Artistik auch „Mr. Delaware mit seinem boxenden Känguruh“ – (laut Erich Skladanowsky, einem der beiden Erfinder des Apparates und Photograph dieser Szene vor dem Zirkus Busch gedreht): Erste kommerzielle Projektion ‚Lebender Photographie‘ als Pionier-Attraktionskino in der Varété-Nummernfolge – damals als gleichermaßen „amüsant und lehrreich“ apostrophiert. Mit der „Chronophotographie“, der Zeit-Licht-Schreibung von Étienne-Jules Marey (Hauptwerk: „La Machine animale“, 1874), gab es bereits die Möglichkeit, eine Serie sukzessiver Bilder zu vereinen, und seit „Animal locomotion“ – von Edward Muybridge wissen wir aus der Anschauung, wie das Pferd im Galopp die Beine setzt, doch das erbeutete Bild hatte auch etwas von einer ‚biometrischen Erfassung‘ der Arten an sich – zu denken an Alphonse Bertillons polizeiliche Bildkataloge zu jener Zeit, nur das diese die individuellen Merkmale einer Person zu erfassen gedacht waren, während Tiere im Zoo zur Schau gestellt und abgebildet wurden nicht nur als Schausteller des Lebendigen schlechthin und Botschafter der Wildtiere, sondern vor allem als Vertreter einer Art, als welcher jeder einzelne Mensch/homo sapiens auch dem Tier erscheint. Der zoologisch domestizierende Blick der Kamera galt einer Sphäre abseits des Menschlichen, war Bestandteil einer Expedition ins ‚Tierreich‘.
„Alle Geheimnisse handeln davon, daß Tiere Vermittler zwischen dem Menschen und seinem Ursprung sind.(…) Tiere vermittelten zwischen dem Menschen und seinem Ursprung, weil sie dem Menschen ebenso gleich wie ungleich waren.“ (John Berger: Warum sehen wir Tiere an, 1989)
Schon in seinen Vorstadien zeigte sich der Film als Illusionsmaschine mit Erkenntnisgewinn. Das Sujet ‚Tiere im Film’ berührt das Fremde, so vertraut es auch scheinen mag, und offenbart gleichermaßen Vertrautes im Fremden. Immer geht es um Aura, Nähe- Ferne-Dialektik angesichts des schlichtweg Anderen. Je mehr das Wissen über diesen animalischen Gegenpart zur Zivilisation anwächst, umso mehr vermag jene Seite Ängste zu wecken, aber auch triebhaft besetzt zu werden, gleichermaßen Projektionsfläche und Spiegelbild. Das Programm der Retrospektive zeigt kein gesondertes Interesse an heutiger Kamera-Hochtechnologie, die kein ‚Geheimnis der Schöpfung‘, keine biotopischen Grenzen mehr gelten lässt. Vielmehr eröffnen ihre Beispiele einen kontemplativen Denkraum zu Fragen, wie man Tierarten aufgenommen hat, welche Mensch-Tier-Metamorphosen-Fantasien flottieren, was biologische Verwandtschaft ist, wie weit jeder Blick auf ein Tier eine Spiegelung unseres Selbst ist, Fragen auch zum Widerspruch domestizierter Wildnis im Gehege der Zivilisation,
Das Mikroskopische kommt auf die Kinoleinwand, als 1903 in Cheese Mites aus der Serie Unseen World (Charles Urban) ein Professor beim Blick durchs Vergrößerungsglas schockiert entdeckt, welch mikrobiotisches Leben sich auf seinem Käsebrot tummelt. Mit The Unclean World, Percy Stow) wurde im selben Jahr die Parodie nachgereicht. Als Beispiele früher Handkolorierungen mit Schablonen sind Filme im Programm, in denen die Metamorphose des Schmetterlings bzw. dessen Jagd vor Dschungel-Bühnenkulissen in Farbvariationen getanzt wird (Gaston Velle), und auch solche Aufnahmen, in denen Vögel in langen, festen Einstellungen in ihrem natürlichen Habitat gezeigt werden (Glimpses of Bird Life, 1910, Oliver Pike)
L’Hippocampe, ou ‚cheval marin‘ (1935, Jean Painlevé):der Pionier des wissenschaftlichen Kinos, Biologe und Surrealist, schafft ein Traumbild schwerelos-schweifender Fortbewegung leuchtender Seepferdchen, ein zoologisches Bildpoem mit Musik von Darius Milhaud. „Warum betreibt Painlevé seine Filmerei bevorzugt unter Wasser und durch Glas? Um auf die Linsen hinzuweisen, die alles menschliche Sehen veränderten und erweiterten (…).‘Das Kino ist, seit der Erfindung des zusammengesetzten Mikroskops, das heißt, seit mehr als zweihundert Jahren, erstmals wieder ein Instrument zu allgemeiner Forschung.‘ (Painlevé) (…) Den Tieren werden nicht menschliche Eigenschaften und Reaktionen zugeschrieben und unterstellt. Zu seiner eigenen Überraschung stellt er menschlich nahe Verwandtschaften mit niederen Klassen des Tierreichs fest und Intelligenz. Bei einem Oktopus, einem Tintenfisch – dessen grammatikalisches Geschlecht im Französischen weiblich ist [Les amours de la pieuvre, 1965 / Das Liebesleben des Tintenfisches], entdeckt er Lider über den Augen wie sonst nur bei höheren Säugetieren.“ (Frieda Grafe, 1997)
In der Frühe, am Pariser Stadtrand, vor Mietshäusern, Schornsteinen und Bahnverkehr beginnt ein kunstvoll fotografierter Kultur-Dokumentarfilm, der sich scheinbar arglos den Schlachthöfen in Vaugirard an der Villette nähert. „Le Sang des bêtes (1948, Georges Franju) wendet sich Vorgängen zu, die zu sehen der Blick der Zivilisation scheut: dem Schnitt durch die Schafskehle, Stich in die Rinderbrust, dem Sprudeln und Dampfen des Blutes, Aufspalten des noch zitternden Kadavers, Ausweiden, Abziehen der Haut, Abtrennen des Kopfs, Zersägen, Zerhacken und Zerschneiden des Fleisches. Le Sang des bêtes entführt in eine Wahrheit, die schmerzt.“ (Harry Tomicek, 2010) Jean Painlevé schrieb den Kommentar zu Franjus Schlachthof-Film, der im Detail verfolgt, wie die einzelnen Tierarten verschieden getötet, zerteilt und zerlegt werden. „Franjus Film kommt daher wie ein Nachzögling des Surrealismus. Seine Düsternis beschwört die Jahre der Verdunklung, eine blutige Nachlese zu Okkupation und Kollaboration.“ (Frieda Grafe, 1997)
Der weiße Jäger in Afrika auf Großwildjagd – im Safarifilm Hollywoods zeigen sich die dominierenden Tiere der Wildnis im Hinblick auf Sexualität und Gruppenverhalten von ganz unterschiedlicher Repräsentanz: „Die Gleichsetzung des Elefanten mit der legitimen heterosexuellen Beziehung und dem dazugehörigen Komplex von sozialer Verantwortung findet ihre Bestätigung auch in den Figuren luxusgewohnter Städterinnen in Mogambo [John Ford, 1953] und Howard Hawks Hatari! von 1961. Ava Gardner wie Elsa Martinelli werden vom weißen Jäger – Clark Gable respektive John Wayne – zunächst für dschungeluntauglich befunden und barsch zurückgewiesen. In der Folge entwickeln die Frauen ein mütterliches Pflegeverhältnis zu kleinen Elefantenwaisen, die im Camp des weißen Jägers gehalten werden. Als wär’s ein Test ihrer Ehetauglichkeit, wird sich ihr Verhältnis zum weißen Jäger von da an nur noch verbessern und schließlich in eine Eheschließung münden. / Sigmund Freud .. erklärt in seinem Aufsatz „Zur Einführung des Narzißmus“ den „Reiz gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie die Katzen und großen Raubtiere“, dadurch, daß wir sie um „die Erhaltung eines seligen psychischen Zustandes, einer unangreifbaren Libidoposition, die wir selbst seither aufgegeben haben“, beneiden. Wo die Raubkatze für die Psychoanalyse eine mitunter pathologisch narzißtische Überbesetzung verkörpert, da symbolisiert sie im Safarifilm sowohl den Reiz wie die Gefahr eines sexuellen Begehrens, das sich aus der Einbindung in gesellschaftliche Verpflichtungen löst und eigensinnig, ohne sich um die anderen zu kümmern, nach Erfüllung strebt. Dagegen erscheint am Horizont der tropischen Landschaft, in der das exotische Melodrama die legitimen Organisationsformen der Sexualität klimatischer Erosion aussetzt, der Elefant als tiergewordenes Bewußtsein gesellschaftlicher Verantwortung.“ (Vincenz Hedinger: Großwildjagd, 1997)
Tarzan und das wilde Kind: der ‚Herr des Dschungels‘, der nach Schiffbruch in afrikanischer Wildnis geborene junge Lord Greystoke, der in einem Affenrudel aufwächst und zu deren Führer aufgestiegen, wieder auf Menschen trifft. Angesichts seiner Artgenossen erkennt er seine Herkunft. Tarzan (Tarzan the Ape Man, 1932), unter Tieren aufgewachsen, wird sich seiner selbst bewusst, an ihm vollzieht sich im Zeitraffer die Menschwerdung (vgl. auch L’enfant sauvage, 1970, François Truffaut), in ähnlicher Narration wie Robert Louis Stevensons Robinson-Crusoe die Zivilisationsgeschichte – das Tier, das innerhalb der Erzählung wie in einem Modellversuch zum Menschen gemacht wird über den Erwerb von Sprache, dem Differenzkriterium, wird befreit und sozialisiert, ohne dass seine Fremdheit oder Andersheit je angenommen worden wäre.
Stadien eines Lebewesens, Akte, in denen Werden und Vergehen gefasst ist, die Zeit eines einzelnen Tierlebens als Passionsgeschichte der unschuldigen Kreatur: Balthasar (Au hazard Balthazar, F 1965, Robert Bresson) ist ein namenloses Tier, bevor Kinder es taufen, doch das Glück der Kindheit endet mit dem ersten Peitschenhieb – von da an wird es von seinen wechselnden Besitzern gequält und ausgebeutet. „Der Blick des Tieres ist von samtener Schwermut, dabei nicht ohne eine gewisse düstere Intensität“, so hat es Peter Nau in den wiederkehrenden Großaufnahmen von Balthazars unergründlichen Augen, deren ungerührtem und doch so berührtem Blick – eines stummen Zeugen – sich keinerlei Polarität zwischen menschlichem und animalischem Ausdruck fassen lässt, beobachtet – „Im Zirkus zieht Balthasar den Heuwagen. Vor den Käfigen der Zirkustiere wird jedesmal kurz angehalten. Löwe, Affe, Eisbär und Elefant blicken den Esel an. Nichts so ausdrucksvoll wie die Augen von Tieren, die zu trauern scheinen.“ (Peter Nau) Eine „geheimnisvolle Ambivalenz des Tieres zwischen opaker Alterität und vorsprachlicher Kommunikativität“ (Sulgie Lie: „Kreatürliches Kino. Zur ästhetischen Egalität in Robert Bressons Tierbildern“, 2009). „Dieser spektakulären Präsentation des Tieres in Early-cinema-Manier geht .. ein Blickwechsel unter Tieren voraus, aus dem die Menschen ausgeschlossen sind.“
Eustaches „Kino des Körpers und der Verhaltensweisen“ (Gilles Deleuze), mit dem Blick auf ‚“zyklische Feste, in denen sich kollektive Verhaltensweisen bündeln und einen sozialen Gestus entstehen lassen“, ist mit Le cochon (1970) vertreten, einer Geschichte, die „im Einklang mit der Lehre des cinéma-vérité“ nicht erzählt, vielmehr seine Geschichte entdeckt. „Der Untertitel L’Âme (Die Seele) ist mir eingefallen, als ich das Schwein mit abgetrenntem Kopf und Gliedmaßen gesehen habe. Aber er hatte nichts Symbolisches. Ich weiß nicht, was man genau unter dem Wort zu verstehen hat. Mich hatte einfach die Beziehung irritiert, die einer der Schlachtergehilfen zu dem Schwein hatte: der freundliche Klaps, den er dem noch lebenden Schwein gab, und auf dieselbe Weise einem Viertel toten Schweins.“ (Jean Eustache, 1975) Zu sehen ist ein 50-minütiges Dokument voller Respekt gegenüber dem bäuerlichen Ritual, einer ländlichen Tätigkeit, der noch Reste einer dionysische Zeremonie innewohnen.
Tiergesichter erscheinen als Oberflächen, auf die sich unsere Fantasien projizieren lassen: Grizzly Man (2005): Zwar können wir Ausdrucksgesten als Ausdrücke verstehen, ohne aber die dahinterliegenden Absichten zu erkennen. Angesichts einer Einstellung aus dem Filmmaterial, das Timothy Treadwell, jener psychisch gestörte Bärenfanatiker, der seiner unheimlichen Leidenschaft zum Opfer fiel, hinterlassen hat, schaut einem ein Bär direkt ins Auge, und der Off-Kommentar des Regisseurs an dieser Stelle lautet: „In allen Gesichtern von allen Bären, die Treadwell filmte, vermag ich kein Gefühl von Verwandtschaft zu entdecken, kein Verstehen, keine Gnade. […] Ich sehen nur die überwältigende Gleichgültigkeit der Natur […], und dieser leere Blick spricht nur von einem halb gelangweilten Interesse an Nahrung.“ (Werner Herzog, übers. In: Brad Prager: Mit den Augen des Tieres – Werner Herzogs Primaten, 2011)
La Belle et la bête (1945, Jean Cocteau) variiert das klassische Märchenmotiv, nach dem sich die Schöne dem Untier mitfühlend nähert und dieses zum Prinzen mutieren lässt. Aus den Wänden ragen lebende Arme, die Kandelaber halten und Statuen bewegen die Augen. Die Maske der Bestie bittet um Liebe, die sie erlösen würde. „Wie die jungen Mädchen des Jahres 1946, die meinen Film sahen und mir schrieben, so zieht auch die Schöne das Untier dem Prinzen vor“, so Cocteau 1946. „»Sie sind glücklich?« fragt er sie. Und sie antwortet: »Ich muß mich daran gewöhnen.« / Aber diese Heirat ist möglich, weil Avenant, das Untier und der Prinz eine Figur sind. Andernfalls würde die Schöne angesichts des unbekannten Schönen die Flucht ergreifen. Ein großes Geheimnis verbindet die drei Menschen, die sich ihr nähern. Ohne es wäre der Film nur eine Vorspiegelung.“ – „It was Beauty killed the Beast“ heißt es nach dem Sturz Kongs von der Spitze des Empire State Building. „It wasn’t the airplanes“ – diese Deutung des Filmproduzenten im Film ist ebenso die der Regisseure Schoedsack und Cooper. Das Mythos-Motiv von der Schönen und dem Tier ist in King Kong (1933) verändert: das Ungeheuer kann nicht durch Liebe oder indem es sich opfert, erlöst werden; es geht zugrunde. Zugleich handelt King Kong von der Konfrontation zweier Kulturen, die hier auf beiden Seiten, auf ferner Insel der Eingeborenen wie im Zentrum Manhattans, zur Katastrophe führt. Der Film umgibt Kongs Tod mit Würde und Trauer, hält das Gefühl des Betrachters in der Erinnerung lebendig.
Bill Violas „Epic Journey“ I Do Not Know What It Is I Am Like (1986) ist gerahmt von den großen Übergängen, Verwandlungen lebloser Organismen in Materie, Verwesungsstadien – einer Kuh, eines Fisches. Das leer und ausdruckslos erscheinende Auge eines Büffels leitet an anderer Stelle eine Sequenz von Tiergesichtern, bisweilen unbestimmten Kopflandschaften und Augenmotiven ein, und Auge in Auge mit einem Eulentier, das magisch unverwandt das Objektiv fixiert, dringt der Zoom immer weiter vor, bis im Dunkel der Pupille des Vogelauges schemenhaft die aufnehmenden Menschen beiderseits des Kamerastativs sich spiegeln. Das Objektiv führt in einen fremd werdenden Orbit, scheint ein uns unbekanntes Universum zu entern und den Betrachter darin wiederzufinden. Etwas wird sichtbar.