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Viennale – Termiten-Kunst

| Jörg Becker |

Mit seinem kritischen und präzisen Auge für Details galt Manny Farber (1917–2008) als einer der führenden Filmkritiker weltweit. Die Viennale widmet dem kürzlich verstorbenen US-amerikanischen Maler und Autor eine Hommage.

Als den „bei weitem größten aller amerikanischen Filmkritiker“ hat ihn Jonathan Rosenbaum beschrieben. Steven Kaplan galt er als erfinderisch subversiver „elder statesman of the counter culture, … the quintessential Jewish hipster“. Und für Susan Sontag war er der „lebendigste, klügste, originellste Filmkritiker, den die Vereinigten Staaten je hervorgebracht haben“. Manny Farber konnte den Blick auf den Gegenstand verändern und damit die Art seiner Leser/Zuhörer, zu sehen. Die Intelligenz des Aspektwechsels, die Kreativität des Blicks auf die filmische Ikonografie schien seine methodische Voraussetzung; auch deshalb wohl war er ein Kritiker für Cinephile: Weil seine Texte unter die Oberfläche der Story-Plots, Charakterkonstellationen und Themen tauchten und stattdessen das Augenmerk auf Formdetails, Mise-en-scène und die unerwarteten Momente der Darstellung richteten. Kaum wird man einführende Überblicke noch beschließende Zusammenfassungen von ihm lesen, dagegen so ausdrucksstarke Verbalisierungen von Nomen wie „Hawks landscapes action“, die jede Übersetzung cineastisch herausfordert. Seine besten Texte, zunehmend Sammelkritiken, die aus zahlreichen umgeschriebenen Fassungen hervorgingen, scheinen aus der Tiefe der Filme selbst zu kommen, mit dem Blick eines Kollegen auf Augenhöhe des Regisseurs, und in unmittelbarem Verständnis der Tableaus und Szenen.

Geboren und aufgewachsen war Manny Farber, Sohn russischer Immigranten, in Douglas, Arizona, nahe der mexikanischen Grenze, in einem bildungsorientierten Haushalt mit zwei Brüdern, die beide Psychoanalytiker wurden. Nach Lehre und Praxis als Zimmermann wandte er sich den bildenden Künsten zu, zog 1942 nach New York, um als Maler zu arbeiten und folgte bereits im selben Jahr dem Filmkritiker Otis Ferguson, der als Freiwilliger an der Weltkriegs-Front gefallen war, als Autor in The New Republic nach. Farber begann als abstrakter Maler, wechselte später zum Figurativen, malte Stillleben, Objekte wie aus der Vogelperspektive, inspiriert von Szenen und Zeichen aus dem Oeuvre seiner Lieblingsfilmer wie Howard Hawks (1995 drehte Paul Schrader für die BBC den Kurzfilm Untitled: New Blue über ein Bild von Farber in seinem Besitz). Ende der Vierziger Jahre hatte Manny Farber die Nachfolge von James Agee (Autor des Standardwerks On Film) in The Nation angetreten und schrieb später für so maßgebliche Periodika wie Commentary und Artforum, Film Culture und Film Comment. Farber sah sich immer – in dieser Reihenfolge – als „Maler und Kritiker“ und war ein zwischen den frühen Vierzigern und den späten Siebzigern aktiver, einflussreicher Autor von charismatischer Wirkung, die sich über seine Lehrtätigkeit als Professor für Film an der University of California in San Diego bis 1987 verbreitete. Seine ehemaligen Studenten berichteten von unorthodoxen Lehrmethoden: Dass er während seiner Rede kurze Filmsequenzen – zum Teil ohne Ton, zum Teil rückwärts laufend – projizieren ließ. Sie erinnern sich an die Spannbreite von Referenzen, die er zu anderen Künsten herstellte (etwa die Nähe von Fra Angelico zu Fassbinders Händler der vier Jahreszeiten, 1971), an die einfallsreiche, unterhaltsame Diktion Farbers, die kurzen, leidenschaftlich lebhaften Stakkato-Sätze als Ausdruck seiner Gedanken, deren Duktus sich unverwechselbar und auf ähnliche Weise präsentierte, wie Charlie Parker seine Notensätze hinsprühte.

Für das selbstgewisse Streben nach Kontinuität und Harmonie, vertieft in eine Konstruktion aus technischer Überausstattung entstandener „Meisterwerke“, hatte der Autor ein untrügliches Gespür, begleitet von gelinder Verachtung und ätzend konkretem Spott. Im Inneren, tief in solchen Werken, machte er die kleinen Inseln, auf denen die Handschrift des Künstlers sichtbar wurde, aus; doch auch die drohten in bloße Manierismen verwandelt zu werden durch das Verlangen des Betriebs, sie mit den ästhetischen Elementen der traditionellen großen Kunst zu kombinieren. Gegen die Exzesse des guten Geschmacks als Ausdruck der kreativen Prätentionen des Hollywood-Studiosystems war Farber allergisch, er galt als klarsichtiger Bilderstürmer der Kritik, der B-Filmer feierte, lange bevor sie von den Cineasten entdeckt wurden, und Momente einer subversiven Schauspielkunst aus Filmen herausklaubte. Seine Bekenntnisse zum Genrekino und zur begrenzten Produktionsökonomie, sein Vergnügen an Pulp und Underground-Ästhetik sind legendär. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit standen nicht die heiligen Kühe eines kunstinfizierten, bedeutungsgeladenen Films von Orson Welles, die „Wasserbüffel der Filmkunst“ wie Huston oder Antonioni (dessen Abbau am Beispiel von La Notte und dem Spiel von Jeanne „Morose“ Moreau erschütternd, weil stichhaltig erscheint), sondern jene Regisseure, die in ihrer Arbeit an Crime, Western und Horror deren Genrekonventionen in private Laufwege zur Wahrheit verwandelten: Hawks, Wellman, Walsh, Fuller, Lewton und Siegel (etwa im Essay „Underground Films“ von 1957).

Einen Louvre filmischer Meisterwerke, geschaffen von genia-len Einzelnen, wird es, laut Farber, aufgrund der subversiven Natur des Mediums nicht geben. Dies ist es auch, was Farbers Begriff der „Termitenkunst“, die der „Kunst der weißen Elefanten“ entgegenstehe, umreißen will: „Die drei Sünden der White Elephant Art: 1. Rahme die Handlung mit einem alles übergreifenden Schema. 2. Etabliere jedes Ereignis, jede Figur, jede Situation in einem Fries von Kontinuitäten. Und 3. Behandle jeden Zoll der Leinwand und des Films als potenziellen Bereich preiswürdiger Kreativität.“ (1962) Dagegen tendiert „Termite Art“ in einer Art ästhetisch-kreativem Biologismus stetig vorwärts, frisst sich unentwegt durch die eigenen Grenzen hindurch und lässt nichts anderes auf ihrem Weg zurück als Spuren der Begierde von hart erarbeiteter, ungezähmter Aktivität. Es ist alles das, was Farber am Kino liebte, doch nirgendwo beschrieben fand.

Mit Ausnahme des „Termitenkunst“-Aufsatzes, der in einer Ausgabe der längst eingestellten Zeitschrift Meteor auf Deutsch vorliegt, ist die einzige Farber-Monografie, Negative Space (herausgegeben 1971 und 1998), die eine Auswahl maßgeblicher Essays von 1942 bis 1977 versammelt, bislang unübersetzt.