Ein bildstarkes Nachtstück über ein (mittlerweile: ehemaliges) Immigrantenviertel Lissabons
Pedro Costa spricht ein wenig Kreolisch. Die kapverdische Diaspora ist für den portugiesischen Regisseur seit Jahrzehnten Hauptstoff. Die Wirtschaftsgeschichte der karg-idyllischen Inseln ist nicht ohne: Lange Zeit wichtig als Etappe für Schiffe auf dem Weg nach Südamerika, waren sie irgendwann egal, und die Bevölkerung – zur Hälfte Ex-Sklaven – mussten zähneknirschend als Gastarbeiter nach Portugal fliehen, wo viele Leute selbst so arm waren, dass sie Gastarbeiter sein mussten. Costas Erzählungen sind primär solche über Gestrandete.
Kernstrategie von Costa ist das Arbeiten mit Notturnos, und bei Vitalina Varela sind die bedächtig geschnittenen Nachtaufnahmen mit Hilfe von Kameramann Leonardo Simões und diversen Spiegeltricks spezifisch durchgearbeitet, eine Symphonie aus dunkelbraunen Tönen, nur punktuell durchbrochen. Notturnos wirken besonders eindrucksvoll in Kinosälen, und das ist wohl einer der Gründe, warum der Film des langjährigen Viennale-Stammgastes 2019 den Goldenen Leoparden von Locarno erhielt.
Ein weiterer ist jene Traditionspflege, für die Hollywood den Begriff Spin-Off parat hat: Die Titelheldin Vitalina Varela war 2014 in einer Nebenrolle von Costas Cavalo Dinheiro beeindruckend und erhielt nun ihr Vehikel, das sich ziemlich nahe an ihrer Lebensgeschichte und an das Thema des Strandens hält: Ihr Ehemann hatte sich dereinst verzupft, und als sie ihm nach Jahrzehnten des Schweigens nachreist, trifft sie erst nach seiner Beerdigung ein. Unauslotbar ist, wie sehr Varela tatsächlich am Drehbuch mitgeschrieben hat. Der Hauptdarsteller von 2014, Ventura, assistiert nun als verstörter Priester, beider Laienschauspiel ist eingespielt plastisch.
Einen massiven Einwand gilt es anzubringen: Es geht um ein Exilantenviertel, aber von Musik ist so gar nichts zu bemerken – insofern bizarr, als die Kapverden berühmt sind für hybride Musiktraditionen. Es geht letztlich um existenzielle Geworfenheit, kurzum: um einen extrem weißen Blick auf das Schwarze. Menschen, die viel Zeit bei Festivals verbracht haben, mögen das rechtfertigen als Verbeugung vor den moralisierenden Weirdos Bresson und Straub, bekanntlich beide nicht gerade als Bänkelsänger bekannt. Aber was soll’s, hier regiert das Gesetz des Theaters: Nicht die Dargestellten sind interessant, es sind die Darsteller.
Vitalina Varela hat alle Anzeichen eines Höhepunkts und Abschlusswerks einer Künstlerlaufbahn – das allerdings sehr brillant. Sollte Costa nochmals auf die Idee kommen, einen Film zu machen: Warum nicht mal über sein eigenes Milieu?