Mit der Preisverleihung ging ein durchwachsener Cannes-Wettbewerb 2015 zu Ende. Das Flüchtlingsdrama „Dheepan“ von Jacques Audiard wurde überraschend mit der Goldenen Palme ausgezeichnet.
Nach zwölf so aufregenden wie ermüdenden Festivaltagen, 19 mehr oder weniger überzeugenden Wettbewerbsfilmen und unzähligen Stars und Sternchen, die wie üblich zu den Gala-Premieren über den Roten Teppich spazierten, steht eines fest: Die diesjährigen Internationalen Filmfestspiele von Cannes standen nicht nur im Zeichen der Frauen, wie man unter anderem mit dem ungewöhnlich sperrigen Aufmacher La Tête haute unter der Regie von Emmanuelle Bercot zu verstehen geben wollte, sondern vielmehr im Zeichen des französischen Films überhaupt. Dagegen wurden nur relativ wenige hochkarätige Favoriten der internationalen Kritik ausgezeichnet, die, wenn man nach einem thematischen roten Faden sucht, in diesem Jahr vordergründig von der Gegenwart des Todes sowie dem Umgang mit Trauer und den Wert des Lebens handelten. Nun muss das an sich nichts Schlechtes bedeuten, allerdings zählten ausgerechnet die fünf Wettbewerbsbeiträge aus Frankreich im Allgemeinen zu den mittelmäßigsten Arbeiten, die in diesem 68. Jahrgang des Festivals an der Côte d’Azur präsentiert wurden.
Etwas behäbig
Doch nachdem bei der feierlichen Preisverleihung am Sonntagabend im Grand Theatre Lumière die ersten Auszeichnungen vergeben waren, stand leider zu befürchten, dass der Hauptpreis des renommiertesten Filmfestivals der Welt heuer nicht an den besten, sondern eher an den „korrektesten“, den vielleicht „menschlichsten“ Film des Wettbewerbs vergeben werden würde. Denn die Palme d’Or, die in diesem Jahr an das Flüchtlingsdrama Dheepan des französischen Regisseurs Jacques Audiard ging, galt offensichtlich weniger dem routinierten Drehbuch und der etwas behäbigen Dramaturgie, sondern einzig dem eindringlichen Schauspiel des Hauptdarstellers Antonythasan Jesuthasan. Der Film erzählt vom Schicksal eines tamilischen Kriegers, der den Kampf in Sri Lanka aufgibt und sich, getarnt mit einer falschen Ehefrau und Tochter, aufmacht, um das Land zu verlassen und an einem sichereren Ort auf der Welt neu Fuß zu fassen. In einem heruntergekommenen Pariser Vorort angekommen, setzt Dheepan nun alles daran, für sich und seine neue Zwangskleinfamilie ein richtiges Leben im falschen aufzubauen, was bei Audiard schließlich in einem Bandenkrieg eskaliert, bei dem sein Held unvermeidlich zwischen die Fronten gerät.
Mit dem Hauptpreis für Dheepan folgt Cannes einer Tendenz, die sich ähnlich wie der Schwerpunkt auf Filme von Frauen bereits auf der diesjährigen 65. Berlinale abzeichnete, nämlich Regisseure letztlich nicht für ihre bisher besten Filme auszuzeichnen, sondern eher für ihr Gesamtwerk bis dato, zumal Audiard den Wettstreit um die Goldene Palme vor drei Jahren mit De rouille et d’os (Ein Geschmack von Rost und Knochen) gegen Hanekes Amour verloren hatte und 2009 für sein großartiges Gefängnisdrama Un prophète (Ein Prophet) lediglich mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet worden war.
Tatsächlich ist es nach La vie d’Adéle (Blau ist eine warme Farbe, 2013) von Abdellatif Kechiche und Laurent Cantet’s Dokudrama Entre les murs (Die Klasse, 2008) die dritte Goldene Palme für einen französischen Film innerhalb von acht Jahren, was wenig erstaunlich wäre, wenn in diesem Jahrgang der außergewöhnlich starken schauspielerischen Leistungen nicht auch beide Darstellerpreise an einen Landsmann beziehungsweise eine Landsfrau vergeben worden wären. So ging der Preis für den Besten Schauspieler überraschend an Vincent Lindon für seine Rolle als Langzeitarbeitsloser in Stéphane Brizés Le loi du marché (The Measure of a Man). Die internationalen Kritiker hingegen hatten allesamt auf Tim Roth getippt, welcher in dem leise berührenden Drama Chronic des mexikanischen Autors und Regisseurs Michel Franco einen Krankenpfleger spielt, der im Stillen mit seinen eigenen Lastern und Problemen kämpft, während er sich rund um die Uhr fast überfürsorglich um seine Patienten kümmert. Franco selbst wurde zwar mit dem Preis für das Beste Drehbuch belohnt, aber wirklich nachvollziehen konnte weder die eine noch die andere Entscheidung der Jury, die in diesem Jahr unter dem Vorsitz der Coen-Brüder stand, so recht niemand.
Magie der Bilder
Mindestens ebenso verblüffend fiel die Wahl in der Kategorie Beste Schauspielerin neben Rooney Mara für ihre Rolle in Todd Haynes‘ makelloser Patricia-Highsmith-Verfilmung Carol ex aequo auf Emmanuelle Bercot für ihre Darstellung einer von der Liebe und den Missetaten ihres chronisch untreuen Ehemanns (Vincent Cassel) gebeutelten Anwältin in Maïwenns Beziehungsdrama Mon Roi, als ginge es darum, sich auf diese Weise bei Bercot für ihren lobenswerten Doppeleinsatz als Schauspielerin in Mon Roi sowie als Regisseurin des Eröffnungsfilms zu revanchieren. Nicht nur sinnvoller, sondern auch gerechter wäre es gewesen, den Preis an beide Hauptdarstellerinnen von Carol zu vergeben, denn Cate Blanchets exzellente Darstellung der kühlen, schönen Upper-Class-Blondine mit dem verführerischen Blick steht der von Mara als ihrer unschuldigen Geliebten in dieser atemberaubend inszenierten lesbischen Romanze durchaus in nichts nach.
Überhaupt zählte Carol aus Sicht der Kritiker zu den großen Lieblingen in Cannes, obwohl die meisten Kollegen auf die Goldene Palme für den ungarischen Beitrag Son of Saul (Der Sohn von Saul) des Newcomers László Nemes getippt hatten, der am Ende den Großen Preis der Jury erhielt. In seinem voyeuristischen Holocaust-Drama folgt der Regisseur einem Sonderkommando in Auschwitz. Ein zugänglicher Film ist Son of Saul gewiss nicht, der mit seiner formal gewagten Struktur mitsamt der ebenso auf- wie eindringlichen Tonspur streckenweise selbst für geübte Cineasten zu einer harten Belastungsprobe wird.
Ganz anders überzeugte dagegen der enthaltsame Martial Arts-Kriegsfilm The Assassin von Hou Hsiao Hsien, der für die Beste Regie ausgezeichnet wurde. Denn fast niemand kommt in dieser unheimlich schön gefilmten, besinnlich erzählten Geschichte um eine geheimnisvolle Schwertkämpferin in der Tang-Dynastie im China des 9. Jahrhunderts ums Leben. Seine leise Wucht gewinnt das in feudaler Vergangenheit angesiedelte Kostüm-Abenteuer einzig aus der Magie der Bilder, der Farben und Stoffe, die sich wie ein Schleier über die Leinwand legen und damit zugleich über etwaige Schwächen der komplexen Handlung hinweghelfen müssen. Jia Zhang-ke, der mit seinem ambitionierten, wenn auch allzu staatstreuen futuristisch angehauchten Drama Mountains May Depart durchaus ähnlich gute Chancen auf einen Preis gehabt hätte, ging indessen leer aus, sowie auch der Japaner Kore-eda Hirokazu, der in seinem modernen Märchen Our Little Sister auf eindringliche Weise von Geschwisterliebe und der Kraft des Zusammenseins erzählt. Von der Jury (zu der neben den Coen-Brüdern auch Guillermo del Toro, Jake Gyllenhaal, Sienna Miller, Sophie Marceau und Xavier Dolan gehörten) ebenfalls gänzlich ignoriert wurden die drei Italiener, darunter Nanni Morettis autobiografisch geprägtes Sterbedrama Mia Madre und Matteo Garrones originelle Märchen-Adaption Tale of Tales, wobei zumindest Paolo Sorrentinos Youth, eine zuweilen herrlich ironisch-melancholischen Farce über das Altern, zu den potenziellen Gewinnern hätte gehören können.
Leer ausgegangen
Einziger Lichtblick im Dickicht der mitunter fragwürdigen Juryentscheidungen: Der (drittwichtigste) Preis der Jury für The Lobster, das englischsprachige Debüt des Griechen Yorgos Lanthimos (Dogtooth, Alps). Ein wunderbares Ensemble an Darstellern um Colin Farrell und Rachel Weisz führt darin in eine nicht allzu ferne Zukunftswelt, in der Singles, die als letzte Rettung in ein sonderbares Hotel einchecken, weil sie im normalen Alltag auf Teufel komm raus keinen Partner finden, am Ende ihrer radikalen 45-tägigen Mission bei Erfolglosigkeit in ein Tier ihrer Wahl verwandelt werden.
Allein über die größten Verlierer, die bittersten Enttäuschungen waren sich Kritiker und Jury scheinbar einig: Gus Van Sants The Sea of Trees, in dem Matthew MacConaughey und Naomi Watts die Hauptrollen spielen, wurde am Ende der Pressevorführung rigoros ausgebuht, und auch Marguerite & Julien von Valérie Donzelli und Maïwenns Mon Roi blieb dieses Schicksal nicht erspart. Bleibt zu fragen, warum bei so viel Mittelmaß durchaus wettbewerbstaugliche Filme wie beispielsweise Gaspar Noés Love und Asif Kapadias intimes Doku-Portrait Amy in die undankbare Mitternachtsschiene abgeschoben wurden. Zudem zeigte sich der Thailänder und 2010-Palme d’Or-Gewinner Apichatpong Weerasethakul im Interview zurecht entrüstet darüber, dass sein neuer und bisher persönlichster Film Rak Ti Khon Kaen (Cemetery of Splendour) lediglich für die Sektion Un Certain Regard ausgewählt wurde, ebenso wie Kishibe no tabi (Journey to the Shore) des japanischen Meisters Kurosawa Kiyoshi, der schließlich mit dem Regiepreis der Sektion ausgezeichnet wurde.
Ein schwacher Trost für einen relativ soliden Jahrgang, der von weniger Patriotismus im Wettbewerb profitiert hätte, dafür jedoch bisweilen in den Nebensektionen brillierte. Und so unergründlich wie das Kino, so unberechenbar sind die Entscheidungen auf den großen Festivals. Schließlich birgt das Ganze dennoch Hoffnung für das heimische Kinoprogramm der kommenden Monate: Ein Großteil der diesjährigen Wettbewerbstitel hat bereits jetzt einen österreichischen Verleih gefunden. Man darf also gespannt sein und bleiben.