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Vom Öffnen und Verschließen der Augen

| Barbara Wurm |

Gedanken zu aktuellen politischen Dokumentarfilmen – zwischen kommerzieller Verwertbarkeit und Marginalisierung – anlässlich des Festivals Dok Leipzig

Es ist Usus geworden, dass Filmfestivals (neben den ohnehin wie von magischer Hand von Jahr zu Jahr steigenden Besucherzahlen) vor allem danach beurteilt werden, wie viele Premieren sie vorweisen, welche und ob. Festivalmacherinnen und -macher können davon ein Lied singen: Die Allianzen, die sie eigentlich schließen wollen, lösen sich oft im Vorfeld schon in sinnloser Konkurrenz auf. Die Produzentinnen und Produzenten tragen es mit Fassung und verhandeln, was das Zeug hält, und sie werden als Figuren im Festivalzirkus immer wichtiger. Dass ein Film in einen Wettbewerb nur noch dann gelangt, wenn er vorher noch nirgends lief, hat sich mittlerweile sogar bis zu den vorletzten in der Kette, für die diese Tatsache von Relevanz sein dürfte, herumgesprochen – den Filmschaffenden. Nur wer jahre- oder gar jahrzehntelang an einem Projekt arbeitet – und im Dokumentarfilmbereich hat diese Hingabe viel mit maximaler Sachpräzision, unendlicher Recherche und persönlicher Selbstaufgabe zu tun –, weiß, welch atemberaubender Irrsinn sich hinter jener kapitalen (und kapitalistischen) Gewalt verbirgt, die sich wie eine permanente Lawine über den „Filmmarkt“ ergießt. Aus psychischer Sicht ist es kränkend, aus ökologischer Perspektive ein unfassbarer Verstoß gegen die Nachhaltigkeit, wieviel wirklich Neues (und insbesondere Anderes) dabei weggeschwemmt wird, ohne je eine Chance bekommen zu haben, sich zu etablieren – das heißt, sich zu zeigen, ohne sich zu exponieren; diskutiert zu werden, ohne sich dauer-verkaufen-zu-müssen. Den allerletzten in der Verbraucherkette, den Endabnehmern des medialen Produktes (aka Publikum), mag diese kurzsichtige Form der Ökonomisierung von Kulturgütern allererster Ordnung weitgehend verborgen bleiben, fatal ist sie trotzdem. Denn in einer Welt, die angesichts der Komplexität ihrer sozialen, kulturellen und politischen Konflikte in keinem der traditionellen gesellschaftlichen Sektoren (Politik, Medien, Religion, usw.) mehr in der Lage ist, Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeiten herzustellen, wäre es an der Zeit zu erkennen, welches Potenzial der Dokumentarfilm eigentlich bereit stellt.

Angestrengte Augen

Das Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm in Leipzig hat all diese Entwicklungen der letzten Jahre in ihrer Widersprüchlichkeit sozusagen verinnerlicht. Es hat sich einen Fixplatz im festivalüberfluteten Circuit erarbeitet, hält locker mit Nyon und Sheffield, Paris und Marseille, Lissabon und Kopenhagen mit, ist mittlerweile vielleicht sogar eine Art „Hot Docs“ für Europa, und bereitet den zeitnahen nationalen und internationalen Konkurrenten (Duisburg, Amsterdam) wohl zunehmend mehr Kopfschmerzen als diese ihm. Zudem ist es das einzige Festival der Welt (Stichwort: Alleinstellungsmerkmal), das nicht nur auch Animationsfilme zeigt, sondern durch Cross-Over-Programme auf das aktuell ausnehmend produktive Verhältnis verweist, das Dokumentarfilme (seit es sie gibt) mit animierten Formen und Techniken verbindet. Die Preisverleihung gleicht einer Leistungsschau an Sponsoreneintreibung. Die Filmszene ist präsent – und wirbt sogar der parallel stattfindenden Viennale Protagonisten ab. Minutenlang erhält der (nach elf Aktivjahren) scheidende Festivaldirektor Claas Danielsen für die Erfolgsstory Beifall. Vom Münchner wurde er zum Leipziger, das Festival mit ihm ein Aushängeschild Post-Wende-Deutschlands. Die Finnin Leena Pasanen, seine Nachfolgerin, soll nun für noch stärkere Internationalisierung sorgen –Dok Leipzig goes global, das ist der unübersehbare Trend einer Kulturpolitik, die entdifferenziert, wo es geht, nur um angeblich möglichst viele „Schnittstellen“ und „Synergieeffekte“ zu schaffen. Dabei ist Dok Leipzig jetzt schon ein Überbegriff für einen Groß- bzw. Mischkonzern der Eventindustrie, neudeutsch eine Branchenplattform. Unzählige Labels gehören dazu (DokDokDok klopft es an): Neben „Dok Industry“, „Dok Market“, „Doc Alliance“, „Dok Incubator“, „Dok Talk“, „Dok Lounge“, „Dok Spotters“ und so weiter und so fort, nimmt sich das, was einmal das (gute alte) „Dok Festival“ (selbst) war, für manche nur noch als Randerscheinung aus.

Stimmt aber nicht – wie nicht zuletzt der ungebrochene Ansturm auf die insgesamt elf Spielstätten durch überwiegend junges Publikum aus Leipzig und Umgebung zeigt. Obgleich immer unwahrnehmbarer, spiegelt das Programm die aktuelle Bandbreite des Mediums ziemlich gut wider und reicht vom ganz Großen zum Marginalen, vom längst Vergessenen zu den big names der Jetztzeit. Wiederholt ausverkaufte 800-Plätze-Kinos belegen, dass man sich auch im Zusammenhang mit Nicht-Fiktionalem an die Vorstellung von Popularität wagen darf. Erfreulich etwa, wie gut man in Sachsen auf austriakische Idiome und Gepflogenheiten reagiert: Ulrich Seidls Im Keller reüssierte durch Einblicke in die Residuen von (selbst im germanischen Kontext als schräg empfundenem) Hitler-Kult und derb-depperter Xenophobie, während die exponiert diskutierte Sexualität dann doch oft für ein ungläubiges Abwenden zwischen angeekelter Befremdung und erleichternd grellem Auflachen sorgte. Dass es aber eigentlich auch darum gehen könnte, sich da selbst im Spiegel der Leinwand zu erkennen – und mitunter eben genau deshalb nicht mehr hinschauen und hinhören zu können –, erahnt, wer auch den „Begleitfilm“, Constantin Wulffs Ulrich Seidl und die bösen Buben sah. Nicht wenige Festivals werden in den nächsten Monaten davon Gebrauch machen, dieses wohlwollend-aufklärerische Porträt der „Methode Seidl“ als Komplement für die oft provozierende Explikationslosigkeit der Seidl-Filme zu bringen. Besonders überzeugt der Film als aufmerksames Making-of (von Im Keller und der Theaterinszenierung „Böse Buben/Fiese Männer“), das nicht nur Momente des Räsonierens festhält – wenn etwa Seidl mit Veronika Franz, seiner langjährigen Drehbuch-Ko-Autorin, in einer regionalen Gaststätte das bourgeoise Selbstverständnis seines Publikums reflektiert –, sondern auch kleine Gesten des Schweigens und Staunens beim Dreh. So schließt Seidl, nachdem er der opulenten Dame, die sich in einen Käfig zwängen soll („nackt – im Käfig haben wir nichts an“), mehrmals höflich erklärt hat, wie sie sich im Verhältnis zur Kamera positionieren möge, irgendwann selbst die angestrengten Augen, erschöpft und gleichzeitig erfüllt von jener Strenge, die er seiner Kadrierung – und damit seinen Protagonistinnen und Protagonisten, uns und sich selbst – auferlegt hat.

Schatten der Vergangenheit

Vom Öffnen der Augen handelt ein anderer Film. Es war die Sensation des Festivals – gar die Tagesschau auf ARD wusste davon zu berichten –, dass Laura Poitras  Citizenfour ausgerechnet in Leipzig Deutschland-Premiere feierte. Regie sucht Held, das war einmal. Der hero suchte hier ein adäquates mediales Sprachrohr, und weil er die Regisseurin im selben politischen Lager wähnte, nahm er verschlüsselt und pseudonym Kontakt mit Poitras auf. Bürger Nr. Vier, das ist Edward Snowden. Gemeinsam (mit dem Journalisten Glenn Greenwald) verbringt man die kurzen ersten Tage nach dem Untertauchen im Hongkonger Hotelzimmer. Unter Hochdruck und mit allen Wassern viraler Medien-Technik gewaschen, wird hier das Coming Out des whistleblower-hero sorgsam geplant. Amerikanische Turbo-Denker und Strategen sind diese drei, wissend, dass sie einen coup d’état des digitalen Zeitalters vorbereiten. Faszinierend ist dabei, wie klug dieser veritable Agenten-Thriller den amerikanischen Mythos schlechthin erzählt (Einer gegen den Staat), dabei aber Snowdens Kalkül respektiert, nicht alle Aufmerksamkeit auf seine Person zu richten. Denn die Dimension des Skandals darf nicht überdeckt werden, und sie liegt – das machen der Film und sein smarter Held deutlich – nicht nur in der Tatsache der Überwachung per se, sondern vielmehr darin, dass aus dem demokratischen Verhältnis von Gewählten und Wählern eines wurde, das von Unterdrückern und Unterdrückten handelt.

In die Festival-Annalen wird freilich eher Snowdens per Skype übermittelte schmeichelnde Video-Botschaft eingehen, in der der nunmehr Alternativ-Nobelpreis-Gekürte an die „Ereignisse in Leipzig“ erinnerte: „Ganz gewöhnliche Menschen mit ganz gewöhnlichen Kräften sind jeden Montag aufgestanden und haben gegen das Regime und seine Geheimdienste demonstriert. Ein Volk, das gegen seine Überwacher aufsteht, kann von keinem Geheimdienst gestoppt werden.“ Wie aber hat man sich den „Aufstand“ gegen die damalige Überwachung konkret vorzustellen im Deutschland von heute, das anlässlich von Mauerfalljubiläum und allererstem „linken“ Ministerpräsidenten seine p.c.-Ambitionen reflexartig auf das eine Wort „Unrechtstaat“ reduziert, sich daran festbeißt, der BRD implizit-retrospektiv-selbstzufrieden auf die Schulter klopft und dabei die vielen alternativen wie vertrackten Geschichten der DDR ausblendet, ja wegbügelt?

Nach Thomas Heise (Mein Bruder. We’ll Meet Again) oder Annekatrin Hendel (Vaterlandsverräter) ist es nun Gerd Kroske gelungen, mit Striche ziehen jenen Zwischentönen und Widersprüchen zu lauschen, die viel aufschlussreicher sind für die Geschichtsrekonstruktion als Pauschalverurteilungen, Selbstreinwaschungen oder simples Gras-drüber-wachsen-lassen. Aus den Punks des Weimarer Underground, die 1986 die Mauer (von der Westseite aus) in einer Kunstaktion mit einem weißen Strich umrunden wollten und dabei aufflogen, sind heute Gras rauchende und andere gemütliche Menschen geworden. Erst 2010 stellte sich heraus, dass einer von ihnen von der Stasi als IM angeworben worden war und sich, entgegen eigener Hoffnungen, nicht so leicht herausmogeln konnte. Er denunziert den eigenen Freundeskreis, sein Bruder wandert in den Bautzener Knast. Wie schon im (mit Andreas Voigt realisierten) Wendedokument Leipzig im Herbst – Snowden sollte den sehen! –, zeichnet Kroske eine vielseitige DDR (hier: Subkultur) und setzt auf das Dialogische. Er führt mit allen damals Beteiligten Gespräche und arbeitet sich freundschaftlich, aber hart und insistent auch an seinen Anti-Helden heran. Am Ende treffen einander die Brüder vor der Kamera, und der Regisseur vermittelt. Film als Alternative zu Therapie und Gericht: Aus Opfern und Tätern werden mit einem Mal Menschen. Und doch bricht die Aussprache ab – zu schwierig ist es, einen Schlussstrich zu ziehen.

Dass sich gerade mit Blick auf die aktuelle Welt weniger Konfliktlösungen als immer engere Handlungsspielräume abzeichnen, belegte etwa der französische Gewinner der Goldenen Taube, Claudine Bories und Patrice Chagnards Les règles du jeu (Rules of the Game), das Porträt dreier auf dem Arbeitsmarkt „schwer vermittelbarer“ Zwanzigjähriger, oder Fernand Melgars Nachtasylstudie The Shelter, in dem nicht nur unfassbare Migrantenschicksale, sondern auch jene Sackgassen und Systemmühlen gezeigt werden, denen die „Hilfsbereiten“, allen voran Sozialarbeiter, ausgesetzt sind. Im Kurzfilm-Wettbewerb schockte Escort von Guido Hendrikx, der ebenfalls den Umgang mit Asylbewerbern beleuchtete, allerdings von polizeilicher Seite. Mit jedem neuen, in der Spezialausbildung erlernten Handgriff, mit jener weiteren Arretierungstechnik verschwindet der Gedanke des Humanen von der Erdoberfläche. Ob die nur elfminütige Beichte eines jungen syrischen Kämpfers, der sich zum Mord an einem Verhörten treiben lässt (Of Gods and Dogs) oder der gleich mehrfach ausgezeichnete Film von Ioanis Nuguet, Spartacus & Cassandra, in dem sich zwei Roma-Kinder in Saint-Denis zwischen Zukunft und Elternhaus entscheiden müssen: Sein Wirklichkeitsbezug macht den Dokumentarfilm zum Index einer weltweiten Gesellschaft im Dilemma.

Wie eng Biografien des Einzelnen – auch da, wo der Rückzug ins Private als einzige verbleibende Alternative gesehen und gelebt wird – von weltpolitischen Konstellationen beeinflusst sind, macht Domino Effekt von Elwira Niewiera und Piotr Rosołowski sichtbar. Der verdiente Gewinner des Deutschen Wettbewerbs zeigt den (letztlich scheiternden) Versuch einer interkulturellen Liebe in der russischen Enklave Abchasien, einer Region, die vom (vergangenen) Krieg, von Korruption und hoffnungslosem Stillstand geprägt ist. Parallel dazu könnte man Engelbecken, die in Du-Form gehaltene, essayistische Indie-Doku von Gamma Bak und Steffen Reck sehen – eine Ost-West-Liebe im Berlin des Jahres 1987 (also im Schatten von Mauer und Stasi-Akten), die in privaten Super-8-Materialien die Psychose als Normalität des damaligen Zusammenlebens dokumentiert.

Reflexion

Vom „Festhalten auf Film“ war viel die Rede beim Festival, insbesondere in Bezug auf die bewegten letzten Monate in der Ukraine. Wie viele Kameras auf dem Kiewer „Majdan“ waren, lässt sich wohl ebenso schwer eruieren, wie die Frage, wer die tödlichen Schüsse abfeuerte, durch die zahlreiche der Protest-Teilnehmer zu Märtyrern wurden. Sergei Loznitsas schon in Cannes gezeigte Chronik des revolutionären Erwachens (Maidan), die auf der auditiven Ebene subtil montiert ist (mehr als hundert Stunden Zusatz-Audiomaterial wurden dabei verwendet), während sie visuell von fast gemäldeähnlichen, präzise gerahmten und das Geschehen auf Distanz haltenden Bildausschnitten geprägt ist, stützte sich auf drei Kameras. Wer solche Formate meistern kann, braucht – so das Kalkül – auch keine Angst vor dem Pathos der Formeln „Aufstand des Volkes“ oder „Geburt einer Nation“ zu haben. Im Gegenteil, mindestens Eisensteins Streik, so Loznitsa selbst, stand für Maidan Pate. Die Jury (mit Andreas Dresen und dem in einer Hommage geehrten Dänen Jon Bang Carlsen) sprach eine Lobende Erwähnung aus, der MDR-Preis für einen „herausragenden osteuropäischen Film“ ging jedoch an den zweiten Maidan-Film, All Things Ablaze des jungen Regie&Kamera-Teams Oleksandr Techynskyi, Aleksey Solodunov und Dmitry Stoykov. Auch hier folgen drei Filmaugen dem unübersichtlichen Geschehen, aber hier ganz nah und in einer Szene sogar aus der Perspektive der Berkut-Leute, unter die sich einer der drei unauffällig gemischt hatte. Hautnah erlebt man den Maidan als Schlachtfeld, auf dem die Gewalt-Energie der Masse über Hand nimmt und der spürbare Kontrollverlust zu Verunsicherung führt. Ein Zustand, der sich durch die kluge Montage dieses Infernos bei aller Katharsis in radikaler Weise auf den Zuschauer überträgt.

Vielleicht ist das letztlich ein guter Befund. Neben technischer Raffinesse, heldenhaftem Mut, persönlicher Entschlossenheit und all den anderen Kriterien, die in immer extremerer Form zum sine qua non des (verkauf- und verwertbaren) Dokumentarfilms gehören, bleibt ein Qualitätsmerkmal der Gattung konstant: die Reflexion. Sie ist in der Lage, das voranzutreiben, was in Zeiten von medialen und anderen Kriegen auf der Strecke bleibt und letztlich auf dem Spiel steht – die Befähigung zum mündigen Staatsbürger. Heute müssen nicht Wahrheiten zementiert werden, es genügt, Wahrheitsfindungsprozesse so zu hinterfragen, dass sich nicht nur Meinungen, sondern auch Haltungen wieder einstellen können. Das tun viele Dokus bei Dok Leipzig auf die spielerischste ebenso wie auf die realistischste Weise. Was dem Betrieb insgesamt fehlt – mal sehen, ob dieses und andere Festivals in Zukunft darauf noch Einfluss haben werden –, ist die Anerkennung und Verinnerlichung einer ihrer unumstößlichsten  Wahrheiten: Wer Dokumentarfilme sieht, kann sich der daraus resultierenden zivilbürgerlichen und sozialen Verantwortung nicht mehr entziehen.