Er hat nur acht Spielfilme gedreht. Trotzdem gilt er als einer der großen Regisseure Japans: Teshigahara Hiroshi, dem das Filmfestival von San Sebastian eine vollständige Retrospektive (inklusive zahlreicher Dokumentarfilme) widmet. Und das, obwohl seine große Leidenschaft etwas anderem galt: dem Blumenarrangieren, auch Ikebana genannt.
In einer extremen Nahaufnahme, einem Mikroskop gleich, zeigt die Kamera unförmige Gebilde, die wie Zuckerstücke aussehen. Bis sie immer weiter zurückfährt und die Gebilde sich als Sandkörner entpuppen. Dann gibt sie den Blick auf die Umgebung frei: eine riesige Sanddüne. Ein Mann erklimmt sie, um Insekten zu sammeln und zu fotografieren, er hinterlässt Spuren im Sand, während gleichzeitig eine verstörende Musik mit dissonanten Streicherklängen zu hören ist. Versehentlich hat er den letzten Bus nach Hause verpasst. Da macht ihn ein Dorfbewohner darauf aufmerksam, dass er in einem nahegelegenen Haus übernachten könne. Es steht mitten in einer tiefen Sandgrube und ist nur über eine lange Strickleiter zu erreichen. Eine Frau empfängt ihn freundlich und bereitet ein leckeres Abendessen zu. Irritierend nur, dass sie den ganzen Abend über Sand in viereckige Eimer schaufelt, die von den anderen Dorfbewohnern hochgezogen und weggebracht werden. Als der Mann am nächsten Morgen aufwacht, ist die Leiter weg. Der Mann ist in der Sandgrube gefangen, ohne Aussicht auf Hilfe.
So beginnt Die Frau in den Dünen (Suna no onna), jener Kultfilm, den Teshigahara Hiroshi 1964 nach einer Vorlage des Schriftstellers Abe Kōbō (1924–1993) für gerade einmal 100.000 Dollar unabhängig inszenierte. Was für ein Meisterwerk – surreal, beklemmend, faszinierend. Im Folgenden wird es darum gehen, wie der Mann sich gegen sein Schicksal wehrt, wie er die Frau von ihren Pflichten abhält, wie er zu fliehen versucht. Doch allmählich fügt er sich in die Rolle des Helfers, die die Dorfbewohner ihm auferlegt haben: Sand schippen, Abend für Abend, einem Sisyphos gleich, um nicht nur das Haus, sondern auch das Dorf vor Schaden zu bewahren. Später entdeckt er sogar, wie man aus dem Sand Wasser gewinnen kann. Die Frau ist schwanger und muss in ein Krankenhaus gebracht werden. Jetzt wäre die Flucht möglich. Doch der Mann will sie auf den nächsten Tag verschieben. Am Schluss informiert uns ein offizielles Dokument, dass er Jumpei Nicki heißt und seit sieben Jahren vermisst wird. Teshigahara verhandelt hier gleich mehrere Themen: die Vergeblichkeit menschlichen Tuns, die Mühen des Alltags, die Abhängigkeit von den Dorfbewohnern, die schwierige Annäherung von Mann und Frau. Der Sand wird dabei zu einer ständigen Bedrohung, wie Wasser scheint er zu fließen, Überblendungen von Sand und Wasser betonen diese Verwandtschaft noch. Der Sand ist überall: auf der Haut, in den Augen, in den Haaren, in der Kleidung. Durch die extremen Nahaufnahmen und das kontrastreiche Schwarzweiß wird er sogar zum dritten Darsteller des Films.
Teshigahara Hiroshi wird am 28. Januar 1927 als Sohn eines Ikebana-Künstlers in Tokio geboren. Dort studiert er an der Kunsthochschule Malerei, bevor er 1953 den Kurzfilm Hokusai über den gleichnamigen Holzschnittmeister inszeniert. Mehrere Dokumentarfilme schließen sich an. Er dreht zwei Filme über den puerto-ricanischen Boxer José Torres, einen über den Schweizer Maler Jean Tinguely und einen über Tokio im Jahr 1958. Er gründet, beeinflusst durch den italienischen Neorealismus, zusammen mit Kollegen den Filmclub Cinema 57, in dem vor allem Dokumentarfilme gezeigt und diskutiert werden, und dreht auch kurze Experimentalfilme. In dieser Zeit inszenieren auch Regisseure wie Ōshima Nagisa, Suzuki Seijun, Imamura Shohei, Hani Susumu, Yoshida Yoshishige und Shinoda Masahiro ihre ersten Filme und bilden so die japanische New Wave, eine Bewegung, die das japanische Kino grundlegend verändert. Die Gesellschaft ist politischer geworden, und darum auch das Kino. Auch Teshigahara gehörte der New Wave an, wenn auch nur am Rande. Dafür ist er doch zu eigenständig, zu eigenwillig, zu visionär in seiner Bildgestaltung. Um nicht von den großen Filmfirmen abhängig zu sein, gründet er mit geliehenem Geld seines Vaters eine eigene Produktionsgesellschaft. Sein erster Spielfilm ist 1962 Die Falle (Otoshiana), basierend auf einem Bühnenstück von Abe Kōbō, der auch das Drehbuch schrieb. Der Film erzählt die Geschichte einer Serie von unerklärlichen Morden, die in einem Bergarbeiterviertel im Norden der Insel Kyuˉshuˉ begangen wurden – von einem Mann, der einen weißen Anzug mit Schlips trägt, dazu weiße Handschuhe und einen weißen Hut. Während des Films tauchen die Opfer unversehrt, Geistern gleich, wieder auf und beobachten die Handlung wie ein griechischer Chor: „Warum wurde ich getötet? Was war der Sinn meines Lebens?“ Doch eine Antwort erhalten sie nicht. Die unerklärliche, fantastische Erzählprämisse von Die Falle macht den Film zu einer irritierenden Seherfahrung, deren Faszination man sich gleichwohl nicht entziehen kann. Eine Geistergeschichte, die sich den Genrekonventionen verweigert und stattdessen symbolisch und satirisch die japanische Wirtschaftswunder-Gesellschaft der sechziger Jahre aufs Korn nimmt.
Gesicht des Fremden (Tanin no kao) von 1966, wieder nach einer Vorlage von Abe Kōbō, beginnt mit einer ungewöhnlichen Szene: Ein Mann spricht in die Kamera, während sein Kopf geröntgt wird. So ist nur zu sehen, wie sich sein Unterkieferknochen auf und ab bewegt. Sein Gesicht ist bei einem Arbeitsunfall, an dem er sich selbst die Schuld gibt, verbrannt. In der nächsten Szene ist sein Kopf vollständig einbandagiert, nur die Augen, die Nasenlöcher und die Unterlippe lugen hervor. Wie eine Mumie sieht er aus, angetan mit Mantel und Hut ein geradezu beängstigender Anblick, vor allem, wenn er im Dunkeln eine Zigarette raucht. „Das Gesicht ist die Tür zum Verstand“, sagt er aus dem Off, und man ahnt, dass sich hier eine veritable Identitätskrise Bahn bricht: Er ist der Mann ohne Gesicht. Da kommt ein ehrgeiziger Arzt und Psychiater auf die Idee, ihm die lebensähnlichen Gesichtszüge eines anderen anzupassen. Die Wirkung der Maske ist perfekt – der Mann führt fortan ein Doppelleben. Aber: Er hat auch das Gefühl, dass jemand anderer Gewalt über ihn bekommt, ihn quasi „übernommen“ hat. Mit der Maske kann er sich ohne Scham in einem deutschen Bierzelt betrinken, der Arzt hingegen träumt von einer befreiten Gesellschaft, in der sich jeder unter der Maske ausleben kann. Zweites Aber: Die Maske zerstört die Moral, wie es einmal heißt, und die Ehefrau weigert sich, sie als real anzuerkennen. Eine anspruchsvolle Allegorie ist so entstanden, die sich mit der Wahrnehmung von sich selbst beschäftigt, aber auch mit den Anforderungen einer restriktiven Gesellschaft, in der man ein anderes Gesicht zeigen muss, um zu überleben. Entfremdung, Zurückweisung und Unterwürfigkeit – das sind die Themen, die sich durch Teshigaharas Werk ziehen. Der Film überzeugt stilistisch durch seine stimmungsvolle Schwarzweiß-Fotografie, die einige Kritiker an John Frankenheimers Seconds erinnerte. In der Praxis des Arztes filmt die Kamera durch bemalte Glaswände oder bauchige Flaschen, die Figuren stehen häufig im rechten Winkel zueinander, so dass ihre Gesichter nur halb oder im Profil zu sehen sind. Irritierend hingegen, wie eine Japanerin in besagtem Bierzelt ein deutsches Lied singt und ohne Zusammenhang plötzlich eine Rede Hitlers zu hören ist.
Abe Kōbō schrieb wieder die Vorlage zu Die verbrannte Karte (Moetsukita chizu, 1968). Ein Detektiv sucht vergeblich nach einem Mann, der plötzlich verschwunden ist. Bis er langsam seine Identität annimmt. Er heiratet sogar dessen Frau und kann so ein anderes Leben beginnen. Da ist es wieder, das Thema der Identität, das so typisch ist für Teshigahara. 1970 erleidet der Regisseur einen schweren Autounfall, nach seiner Genesung zwei Jahre später inszeniert er mit Sommersoldaten (Summer Soldiers) seinen vielleicht kontroversesten Film. Es ist die Geschichte amerikanischer GIs, die vor dem Krieg in Vietnam nach Japan desertieren und dort ein karges Leben führen. Der Film zeigt vor allem die soziale und kulturelle Kluft zwischen Amerikanern und Japanern, die den GIs eigentlich bloß helfen wollen, sich in ihrem Land zurechtzufinden. Auch hier geht es um Entfremdung und Identität: Die Soldaten haben ihr eigenes Land hinter sich gelassen, ihre eigene Kultur, sich selbst. In Japan zu sein hat für sie keinen Sinn.
Teshigahara zieht sich kurz darauf in ein Dorf am Meer zurück und arbeitet als Keramiker. Erst 1984 entsteht sein wohl bekanntester Dokumentarfilm Antonio Gaudi, eine herausragende Annäherung an die Person und die Arbeit des katalanischen Architekten. 1989, nach 17 Jahren, kehrt er mit Rikyu, der Teemeister (Rikyū) zum Erzähl-Kino zurück. Der Film beschreibt den Konflikt zwischen dem Zen-Mönch Sen no Rikyū und dem Kriegsherrn Hideyoshi. Angesiedelt im Jahr 1582, geht es hier vor allem um kulturelle Gegensätze: Während Hideyoshi die Teezeremonie in goldenen Teeräumen servieren lässt, beharrt Rikyu auf schlichten Tassen und Kannen, die Blumen sind einfach arrangiert (etwas, was Teshigahara sehr am Herzen lag), der Raum ist nur karg eingerichtet. Ein Konflikt, der sich nur gewaltsam lösen lässt. Rikyuˉ ist Teshigaharas größter internationaler Erfolg seit Die Frau in den Dünen. Er etabliert ihn noch einmal als Regisseur von Weltrang, obwohl er nur noch einen Film drehen wird: Seide und Schwert (Gohime, 1992), eine Fortsetzung von Rikyuˉ. Nach dem Tod des Teemeisters wird einer seiner Schüler zum Nachfolger ernannt. Doch auch er fällt unter Hideyoshi in Ungnade, vor der ihn nur eine rebellische Prinzessin retten kann. Beide Filme sind spektakulär anzusehen, mit Kostümen und Sets, deren Farbkomposition einige Kritiker an Das Höllentor (Jigoku-Mon, 1953) von Kinugasa Teinosuke erinnerten.
In den letzten zehn Jahren seines Lebens dreht Teshigahara keine Filme mehr. Er widmet sich anderen Dingen. Er inszeniert Opern in Europa und organisiert zahllose Ausstellungen von Künstlern. Er kreiert Bambus-Installationen in Hallen und Galerien, eine ist sogar in den Schlussminuten von Seide und Schwert zu sehen. Wie sein Vater arbeitet der Regisseur als Blumenarrangeur. Von 1980 bis zu seinem Tod im April 2001 führt er die Ikebana Sogetsu Schule, die von seinem Vater gegründet wurde, und schreibt 1997 sogar ein Buch: „The Art of Ikebana“. Die meditative Kunst des Blumenarrangierens gerät ihm zur Berufung, fast erscheint sie als Gegensatz zu seiner Arbeit als Filmemacher, wie Dan Harper in einem wichtigen Essay erkannte: „Und doch – wie kann eine aufgesteckte und sterbende Blüte weniger vergänglich wirken als das Schattenspiel auf der Leinwand?“