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Viennale | Interview

Von Brücken und verlorenen Verbindungen

| Ella Raidel |
Die chinesische Filmemacherin Zhu Shengze über ihren Film „A River Runs, Turns, Erases, Replaces“, über ihre Heimatstadt Wuhan und über ihre Inspiration durch den italienischen Schriftsteller Italo Calvino.

Jänner 2020. Die Bilder, die uns aus der chinesischen Großstadt Wuhan erreichen, sind dystopisch: Menschen fallen tot auf der Straße um, manche schützen ihren Kopf mit Plastikcontainern und Regenschirmen, ein Krankenhaus wird innerhalb von 24 Stunden erbaut. Distanziert erscheinen die Aufnahmen, aufgenommen von Überwachungskameras und Mobiltelefonen. Wir verfolgen den Ausbruch einer Krankheit, die entrückt, weit entfernt scheint, irgendwo in China – und uns alle dann doch eingeholt hat. Die Filmemacherin und Medienkünstlerin Zhu Shengze stammt aus Wuhan, lebt in Chicago, und ist eine Chronistin ihrer Zeit und ihres Landes. Mit ihren Dokumentationen ist sie bereits bei mehreren prominenten Filmfestivals in Erscheinung getreten. Ihr Film Present.Perfect. (2019) gewann den Tiger Award beim Internationalen Filmfestival Rotterdam 2019 und besteht aus Aufnahmen aus Internet-Live-Streaming-Hangouts. Eine Arbeiterin am Fließband einer Textilfabrik, der Moonwalk eines Bauarbeiters und Menschen am gesellschaftlichen Rand: Sie exponieren hier ihr Leben, um damit noch ein bisschen mehr Spaß zu haben und Geld zu verdienen. Es kommt eine virtuelle Gemeinschaft von Randgruppen zusammen, die sich unter normalen Umständen nie getroffen hätte. Die Technologie bietet eine Bühne für einen performativen Ausdruck und einen Raum der Zusammengehörigkeit.

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Ihr neuer Film A River Runs, Turns, Erases, Replaces (2021), präsentiert beim Berlinale Forum 2021, beginnt mit Aufnahmen von Überwachungskameras aus Wuhan. Zu sehen ist eine menschenleere Straßenkreuzung, manchmal durchkreuzt von Reinigungsmaschinen, Polizei, Boten und selten einer Person mit Schutzanzug. Einzig das Datum am Display verrät: Jänner bis April 2020, der Ausbruch von Covid-19. Allmählich füllt sich die Straße, doch alle halten inne, als eine Sirene zum Gedenken an die Verstorbenen tönt. Damit nimmt auch der Film eine Wende und bringt uns zurück in das Wuhan vor den Ereignissen. Zhu Shengze präsentiert die Entwicklung und den Fortschritt der Stadt Wuhan entlang des Yangzi-Flusses in statischen Einstellungen, nie den Blick des Flusses außer Sicht lassend, an den Peripherien zwischen Urbanem und Hinterland. Gigantische Infrastrukturen, Monumente des Fortschritts, lassen den Menschen im Verhältnis klein und machtlos aussehen. Der Fortschritt, der vor sich geht, schneidet massiv ein in die Natur, das Leben, den Menschen, und wirkt sich nicht zuletzt global aus. Zhu Shengzes Film kommt mit minimalen, poetischen Erzählungen aus, die wie Textmessages in den Raum der Stadt getragen werden. Sie erzählen vom Verlust, von verlorenen Verbindungen, von einer Welt von gestern, von einer Heimat, die nicht wiederzuerkennen ist. Die Aufnahmen werden getragen von den Tönen, die am Flussufer zu hören sind. In den sentimentalen Melodien schwingt die Sehnsucht nach Zusammenhalt. Nur am Ende des Films dröhnt der Punk-Song „Drunken City“ und erzählt von einer jungen Generation, vom Restalkohol, von einer Stadt, die wie verkatert nach einem Blackout aufwacht. Was davor war, ist festgehalten in den Archivfotos von Menschen und Brücken. Stolz präsentieren sich Menschen in Wuhan vor dem Fluss und seinen Brücken – eine Zeit, die wie der Fluss in nur eine Richtung und nie zurückfließen kann.

 

Ihr Film bewegt sich entlang des Yangzi-Flusses in Wuhan. Der Fluss hat eine symbolische Bedeutung. Wenn er entspringt, ist er wild und voller Windungen, und bevor er ins Meer mündet, wird er breiter und langsamer. Der Fluss war immer schon eine Metapher für Leben und Tod. Der Gelbe Fluss wird sogar als Geburtsort der chinesischen Zivilisation betrachtet. Welche Assoziationen verbinden Sie mit dem Fluss?
Zhu Shengze:
Für mich war der Fluss das Grundmotiv, als ich den Film gemacht habe. Der Yangzi ist auch ein Symbol für die Stadt und spielt auch eine wichtige Rolle in unserem Alltag. Auf Chinesisch nennen die Leute Wuhan gewöhnlich jiāng chéng, das bedeutet Flussstadt. Die Regierung nützt das Flussufer, um die Entwicklung oder den sogenannten Fortschritt der Stadt zu repräsentieren. Ursprünglich, als ich anfing den Film zu machen, wollte ich mich nur auf den Fluss konzentrieren. Für mich persönlich hat dieser viele verschiedene Bedeutungen, er kann auf so viele verschiedene Arten definiert werden – man kann sagen, es ist ein mächtiger Strom. Ich bin immer so beeindruckt von seiner Vitalität. Andererseits ist er auch träge, er ist immer gleich, egal was sich sonst alles verändert – der Fluss fließt immer in eine Richtung, er kann nicht zurückfließen. Alle diese verschiedenen Gedanken haben mich inspiriert.

Der Film beginnt mit Aufnahmen einer Überwachungskamera aus Wuhan während der Pandemie, aber dann gehen Sie in der Zeit zurück– hatten Sie den Film schon länger geplant?
Ich habe im Sommer 2016 mit dem Filmen begonnen, und die letzten Aufnahmen stammen vom Herbst 2019. Ursprünglich wollte ich die Aufnahmen 2020 abschließen, aber wegen der Pandemie konnte ich nicht mehr zurück. Mir wurde klar, dass ich den Film nicht abschließen kann, und wegen der Ereignisse habe ich nicht gedreht wie geplant. Ursprünglich lag der Fokus des Films mehr auf der Entwicklung der Stadt, denn in Wuhan gibt es den offiziellen Slogan „Wuhan, jeden Tag anders!“ Es gab viel Bautätigkeit, Renovierungen und Abrisse über die Jahre. Ich habe die Stadt 2015 verlassen, und jedes Mal, wenn ich nach Hause zurückkam, fühlte ich, dass mir die Stadt mehr und mehr fremd geworden war. Die ursprüngliche Idee war, den Prozess der Stadtentwicklung zu untersuchen und wie die Bewohner mit den rapiden Veränderungen zurechtkamen. Nachdem was letztes Jahr passiert war, dachte ich, dass ich mit meinem ursprünglichen Plan nicht weitermachen sollte, denn im Film geht es ja im Wesen um die Stadt, und die Pandemie hatte einen signifikanten Einfluss auf die Stadt, auf ihre Bewohner und auf mich. Sie brachte die Leute dazu, viele Dinge in ihrem Leben zu ändern. Das Gefühl der Veränderung und des Verlustes hat sich verstärkt, und so habe ich entschieden, diesen Film vollkommen anders zu machen.

In jedem Bildausschnitt zeigen Sie den Menschen im Verhältnis zu der gigantischen neuen Infrastruktur, immer an der Grenzlinie zwischen der Peripherie und dem Urbanen. Es gibt eine Person, die sagt, die Luftverschmutzung sei so stark gewesen, dass man die andere Seite des Flusses nicht sehen konnte. China hat sich so ungeheuer und so schnell verändert, wie fühlt es sich für Sie an?
Ich habe gemischte Gefühle. Wenn ich ein sehr simples Beispiel nennen darf: In den letzten Jahren gab es eine enorme Bautätigkeit in der Stadt, weil eine U-Bahn gebaut wurde. Als sie damit begonnen haben, wurde die ganze Stadt zur Baustelle. Es gab auch viele Beschwerden, auch von mir. Die Stadt sah chaotisch aus, und all diese Projekte verursachten ein großes Chaos. Aber als die Metro dann fertig war, machte sie unser Leben einfacher. Meine Mutter musste immer mit dem Auto fahren, es blieb ihr gar nichts anderes übrig. Früher brauchte sie zwei Stunden, um auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Aber jetzt fährt sie ganz selten mit dem Auto, denn sie braucht mit der Metro nur 30 Minuten. Dieser Film soll keine Antworten oder Lösungsvorschläge geben für die ständigen Veränderungen. Für mich geht es darum, Fragen zu stellen, meine Gefühle und Erfahrungen zum Leben in der Stadt mit anderen zu teilen. Ich meine, dass man sich, auch wenn man in Wuhan lebt, oder in irgendeiner anderen Stadt in China, ständig fremd fühlen muss. Leute, die die Stadt nur besuchen, mag sich das ganz anders darstellen. Ich lebe nicht mehr da und sehe das alles aus einer gewissen Distanz.

Es gibt drei Lieder im Film. Ein traditionelles, während ein Mann im Fluss schwimmt, das zweite ist „Auld Lang Syne“, zu dem Paare am Flussufer tanzen, und am Ende kommt „Drunken City“ von der Punkband SMZB aus Wuhan. Haben diese Songs eine bestimmte Bedeutung?
Ich sehe das Flussufer als eine Art Bühne, auf der die Leute verschiedenen Aktivitäten nachgehen wie Tanzen, Schwimmen oder Arbeiten. Die ersten beiden Songs waren ein wesentlicher Bestandteil des Ortes. Sie gehörten zum Soundscape. Was den Schlusssong betrifft, so war er eine persönliche Wahl. Ich wollte einfach mit der Musik dieser Band den Film beenden. Wuhan hatte eine starke und große Underground-Musikszene und wurde “Punk City” genannt, teilweise wegen eben dieser Band. Ich mochte ihre Musik und wollte sie unbedingt am Ende des Films verwenden.

Als Erzählung haben Sie Gespräche eingefügt, die direkt aus dem Text-Messaging zu kommen scheinen. Haben Sie sie geschrieben oder sind das persönliche Geschichten, die mit Ihnen in Zusammenhang stehen?
Ich habe sie basierend auf wahren Geschichten und echten Schicksalen geschrieben. Manche sind die Geschichten meiner Freunde, manche aus der Presse, einige anonym aus dem Internet. Nach der Pandemie im vergangenen Jahr haben einige Netizens Verschiedenes im Internet gepostet und ihre Gefühle beschrieben. Es war mir ein Anliegen, die Ereignisse des letzten Jahres, in den Film einzubeziehen, aber ich hatte kein Bildmaterial, und ich wollte niemand anderen bitten zu filmen, weil es ja ihre Perspektive gewesen wäre. Also war die einzige Möglichkeit, Texte zu verwenden. Dadurch kam ich auf die Idee mit den Briefen. Ich glaube, auf eine Weise ist das ziemlich intim, und ich betrachte alle Narrative als meine eigene Botschaft an die Stadt.

Sie erwähnen die Netizens. Ihr erster Film „Present. Perfect“ ist eine Sammlung von Online-Material, das in Fabriken von sogenannten Live Streamern von ihrem Arbeitsplatz aus aufgenommen wurde. Er hat mich an „Die Arbeiter verlassen die Fabrik“ (1895) von den Gebrüdern Lumière erinnert. In diesem Film sieht man, wie Arbeiter die Fabrik verlassen oder vielmehr aus ihr stürmen, weil sie dort schon zu viel Zeit vergeudet haben. In Ihrem Film jedoch sieht man, wie Arbeiterinnen und Arbeiter von ihrem Arbeitsplatz aus Bilder machen und streamen. Das symbolisiert unsere heutige Zeit, in der jede gelebte Erfahrung in Bilder umgewandelt wird. Diese Phänomene haben sich während der Pandemie intensiviert, wir leben alle in einer virtuellen Welt. In gewisser Weise sind diese Apps sehr performativ und ermöglichen einen Raum des Ausdrucks und Austauschs – jeder tanzt und redet über Dinge und verdient damit Geld. Entsteht da aus dieser Pandemie ein neues technologisches Phänomen?
Die meisten Menschen in Present.Perfect sind nicht sehr bekannt, und sie haben auch mit dem Livestreamen aufgehört. Sie verdienen damit kein Geld und haben allmählich das Interesse daran verloren. Ich bekomme diese Informationen aus zweiter Hand, weil ich selber selten Live-Streaming-Shows anschaue. TikTok ist im Moment sehr populär, und immer mehr Leute versuchen, Dinge auf dieser Plattform zu verkaufen. E-Commerce ist augenblicklich eine große Sache für Live-Streams, und es gibt Top-Stars, die zweistellige Millionenbeträge in einer Nacht während einer Show einnehmen. Die Erträge sind unglaublich hoch, und sie machen damit große Profite, aber das ist nicht das, was mich interessiert, sondern die Kameradschaft, das virtuelle Zusammensein, in dieser virtuellen Welt.

Es gibt einen Satz in „Present. Perfect“ der heißt, „Wir sind heute alle Realisten. Wir müssen mit unserer Show Geld verdienen. Das wichtigste ist, dass es uns glücklich macht. Stranger in Strangerland.“ Fühlen Sie sich entfremdet von der Art und Weise, wie sich China entwickelt hat?
Ich persönlich habe dieses Gefühl der Entfremdung, weil ich China verlassen habe und weggezogen bin, und die Entwicklung aus der Ferne sehe. Dadurch fühle ich mich abgeschnitten von den Dingen, mit denen ich am vertrautesten bin. Ich bin mitten im Nirgendwo gelandet, weil ich in der amerikanischen Kultur ja auch nicht zu Hause bin. Dieses Gefühl des Alleinseins ist heutzutage allgegenwärtig, wahrscheinlich auch wegen des Internets und der Schnelllebigkeit. Ich versuche, diese Erfahrungen durch meine Filme zu vermitteln.

Wie geht es Ihnen mit diesen ständigen Veränderungen in Wuhan, seitdem Sie weggegangen sind? Wann immer Sie zurückkommen, gibt es eine neue Brücke oder eine neue Ansicht?
Jedes Mal, wenn ich nach Wuhan zurückkomme, gibt es neue Dinge. Wie in vielen anderen chinesischen Städten gibt es sehr viele Veränderungen, und zwar täglich. Ich sehe es so wie Italo Calvino in seinem Buch „Die unsichtbaren Städte“. In diesem Buch sagt Marco Polo, dass Venedig seine Heimatstadt sei und dass er von der Stadt nicht sprechen könne, weil er jedes Mal, wenn er beginnt von der Stadt zu sprechen, Stück für Stück etwas von ihr verliert – so geht es mir mit Wuhan.

Die Bilder, die wir am Ende des Films sehen, sind Fotografien von Brücken. Waren diese Bilder Teil einer Sammlung, oder sind sie aus Ihren Familienalben?
Ich würde sagen, dass eine Hälfte von meiner Familie oder Verwandten und Freunden kommt, und die andere Hälfte habe ich in Antikläden gekauft. Nachdem sich meine Pläne für den Film geändert hatten, wollte ich das ganze Bildmaterial in umgekehrt chronologischer Ordnung strukturieren. Ich dachte drüber nach, wo ich den Film enden lassen sollte. Ich hätte in dem Moment aufhören können, wo ich begonnen hatte zu filmen. Aber ich wollte es noch ein wenig weiterführen, also habe ich begonnen, nach Archivmaterial zu suchen. Ich dachte, dass jeder ein Foto des Flusses haben müsste, weil er eben ein Symbol der Stadt ist, und von da startete ich meine Recherchen. Schließlich wählte ich Gruppenfotos aus, weil diese wie Selbstporträts entlang des Flusses verstanden werden können. Der Fluss ist Teil unserer kollektiven Erinnerung, und alle haben ihre Geschichten mit dem Fluss, mögen sie auch verschieden sein, und das ist ähnlich wie mit der Pandemie. So habe ich versucht, am Ende des Films ein wenig Kollektivismus und Individualismus auszuloten.

Sie posieren ja nicht nur vor dem Fluss, sondern viele auch vor den Brücken. Die Brücke sieht aus wie ein Denkmal, ein Monument des Fortschritts, sie ist Teil ihres Lebens und sie sind stolz auf sie.
Ja, besonders die erste Brücke in Wuhan. Sie ist ein Wahrzeichen, und deshalb posieren alle davor.

Noch vor zwei Jahren kannte niemand die 11-Millionen-Metropole Wuhan. Jetzt ist der Name mit der Pandemie verbunden. Was sollten wir über Wuhan wissen?
Besucht Wuhan! Die Medienberichte und Geschehnisse des letzten Jahres haben die Stadt zu einem Spektakel gemacht. Die Situation ist immer noch sehr beängstigend und verwirrend. Für mich war es sehr wichtig, diesen Film zu machen, um weitermachen zu können, es ist beinahe wie eine Therapie. Ich werde oft über Wuhan befragt, aber wie ich schon vorher mit Marco Polos Worten gesagt habe, ich kann meine Stadt nicht beschreiben. Kommt und besucht sie eines Tages! Da gibt es noch ein anderes Zitat aus „Die unsichtbaren Städte“, dass ich wirklich mag: „Für jene die an der Stadt vorbeifahren und sie nie betreten, oder sie nur besuchen und dann wieder fortfahren, ist die Stadt anders als für jene, die ihr gefangen sind und sie niemals verlassen.“ Diese beiden Zitate haben mir viel Inspiration gegeben, als ich an den Film gearbeitet habe.