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Voyage ofTime: The IMAX Experience

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Voyage of Time: The IMAX Experience

| Marc Hairapetian |
Der Anfang und das Ende der Zeit: Terrence Malicks meisterhafte Doku über Geburt und Tod des Weltalls als digitale Premiere.

Bei Terrence Malick geht es immer um die ganz großen Fragen, die freilich jeder für sich selbst beantworten muss: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was macht den Menschen erst wirklich zum Menschen? Was ist Liebe? Um es mit Pathos auszudrücken: Terrence Malick ist Stanley Kubricks Stellvertreter auf Erden. In der Tat haben beide US-Meisterregisseure viel gemeinsam. Vor allem eine unverkennbare visuelle Handschrift, die das akustische Design ihrer Filme nicht ausklammert. Wie der 1999 kurz nach der Fertigstellung seines finalen Epos Eyes Wide Shut verstorbene Kubrick hat der am 30. November 1943 in Ottawa, Illinois, geborene Malick nur relativ wenige Filme gedreht, aber dafür in den unterschiedlichsten Genres Maßstäbe gesetzt. Beide sind Perfektionisten – und auch Moralisten.

Man kann sie getrost als sowohl künstlerisch wie auch kommerziell immens erfolgreiche Außenseiter im ansonsten wenig innovativen Hollywood-Kino bezeichnen. Sie sind bzw. waren äußerst öffentlichkeitsscheu, geben/gaben (fast nie) Interviews. Dafür schwärmen all ihre Mitarbeiter, vor allem die Schauspieler, von ihnen. Und beide arbeite(te)n im Herbst ihres Lebens immer schneller an ihren zahlreichen Projekten. Kubrick wollte direkt nach Eyes Wide Shut noch A. I. – Künstliche Intelligenz (vollendet 2001 von seinem Freund Steven Spielberg) auf die Leinwand bringen. Nachdem Malick von 1969 bis 1978 lediglich drei Filme realisiert hatte (Lanton Mills, Badlands, Days of Heaven), folgte eine rekordverdächtige 20-jährige Regiepause. Doch unerwartet stieg er zum Ende des Jahrtausends wie Phoenix aus der Asche!

Mit The Thin Red Line (1998) gelang ihm der vielleicht erste esoterische Antikriegsfilm, der sich lieber der Betrachtung und Zerstörung der Natur widmete als den üblichen Kampfhandlungen. Nachdem Malick eine Zeit lang nur als Produzent fungiert hatte, zog er sich 2005 vom Biopic Che (Steven Soderbergh übernahm später) zurück. Mit neuer Kraft schuf er mit The New World (2006) einen der besten Filme des neuen Jahrtausends. In der wahren Liebesgeschichte der indianischen Prinzessin Pocahontas (verkörpert von der damals 14-jährigen Q’orianka Kilcher), die sich in den britischen Entdecker John Smith (Colin Farrell) verliebt, drehte er wie einst Kubrick bei Barry Lyndon (1973-75) mit hoch empfindlichen (NASA-)Linsen, ohne Verwendung künstlichen Lichts in den Morgen- und Abendstunden. 2011 folgte mit dem bereits 2008 gedrehten The Tree of Life ein höchst ungewöhnliches Familiendrama: Von der Geschichte eines strengen Vaters (Brad Pitt), der seine sensiblen Söhne widerstandsfähiger machen möchte, ging der Film in atemberaubenden Bildern, die wie Kubricks 2001: A Space Odyssey weitgehend auf chemischen Experimenten sowie exakter Fotografie (und eben nicht digitalen Effekten) basierten, zurück zur Entstehung des Universums und von da bis in die Zukunft. Zu Recht gab es dafür die Goldene Palme von Cannes.

Während seine letzten vier Spielfilme – To the Wonder (2012), Knight of Cups (2015), Song to Song (2017) und A Hidden Life (2019) mit August Diehl als österreichischer Widerstandskämpfer Franz Jägerstätter – hierzulande allesamt einen regulären Kinostart hatten, wurde seine erste Doku bisher nur sehr selten in Sondervorführungen gezeigt. Voyage of Time: Life´s Journey (so der Originaltitel) entstand in zwei Fassungen, einer 45-minütigen IMAX-Version mit Brad Pitt als Sprecher und einer längeren mit Cate Blanchett als Erzählerin. Während das essayistische Monumental-Epos ohne Dialoge und Schlachten nach der Uraufführung bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig am 7. September 2016 rund um die Welt gezeigt wurde und die IMAX Experience-Variante sogar einen Monat später einen regulären US-Start hatte, gab es in Deutschland am 23. Februar 2018 nur einen DVD-Release. Nicht nachvollziehbar, hat man doch betörendere Bilder des Universums seit Kubricks Geniestreich 2001: A Space Odyssey nicht mehr gesehen.

Nun hat der 2007 gegründete, abonnementbasierte Streamingdienst Mubi, der sich auf Filmkunst und Klassiker spezialisiert hat, Malicks audiovisuelles Ereignis für das digitale Home Cinema herausgebracht. Und zwar die kürzere IMAX-Version, die aufgrund ihrer extrem feinkörnigen 65-mm-Film-Optik an Plastizität kaum zu übertreffen ist. Es ist sozusagen in 4K ein 3D-Look entstanden – ohne 3D-Technik. Bei aller technischen Innovation steht bei Voyage of Time am Anfang auch das Wort. Eine Texttafel mit weißer Schrift läuft vor schwarzem Hintergrund ab: „Dear Child, I remember, when I was young – how, at night, I´d go out on the lower road. Look upon the stars and wonder – where we came from, and how things get set up, anyway – and where it all goes.“ Erst danach setzt Brad Pitts sparsamer, aber poetischer Off-Kommentar ein, der die Bilder von spielenden Kindern, einem überdimensionalen Lebensbaum (The Tree of Life?) und vorüberziehenden Wolken assoziationsreich begleitet. Und dann wird der Bildschirm wieder sekundenlang pechschwarz, bis in der Mitte ein winziger orangeroter Punkt aufglüht, der rasch immer größer wird. Es ist der „Urknall“, der in der Kosmologie vor etwas 13,8 Milliarden Jahren den Beginn des Universums, also den Anfangspunkt der Entstehung von Materie, Raum und Zeit, bezeichnet. Allein für diesen filmisch „nachgestellten“ Moment des explodierenden „Stecknadelkopfs“ lohnt sich schon das Ansehen der gesamten Dokumentation.

Etwas zu schnell wechselt Malick dann zu ersten physikalischen Strukturen im All: bläuliche Spiralnebel, alles überstrahlende Sonnen in den unterschiedlichen Galaxien, erste Planeten und das Entstehen von Leben auf einer Insel im schier grenzenlos weiten All namens Erde. Zu Beginn, vor 4,5 Milliarden Jahren, war diese noch völlig unbewohnbar. Die Erde kühlte sich aber weiter ab, so dass sich auf der Kruste flüssiges Wasser sammeln konnte: Meere entstanden. Und dort begann vor etwa 3,8 Milliarden Jahren das Leben – zunächst aber nur in Form einfachster Bakterien. In extremer Vergrößerung sehen diese und andere Mikroorganismen aus wie längliche, blaue Würstchen, manche ohne Haut, aber dafür mit Haaren. Doch auch diese sind in Schwärmen bei Malick so schön gefilmt wie ein gigantisches Unterwasserballett.

Die Reise durch Zeit und Raum führt vom „Big Bang“ über die Dinosaurier bis zur Gegenwart und sogar darüber hinaus – dem Tod des gesamten Universums. Dieser könnte in einem Big Rip (englisch etwa für „Das große Zerreißen“), dem Big Crunch („Das große Zusammenkrachen“) oder dem Big Freeze („Das große Einfrieren“ nach einer schier ewig andauernden Expansion von mindestens 10 hoch 100 Jahren) enden. In dieser für uns so unvorstellbaren Zeitspanne ist dann ein immer weiter in sich zerfallendes Teilchen vom anderen im All so weit entfernt, dass die an Materie gebundene Zeit sozusagen „gefriert“. Denn wie wir wissen: Bei null Kelvin (minus 273 Grad Celsius) kommen die Teilchen zum Stillstand und alle „Unordnung“ verschwindet. Der Zustand der Ewigkeit wäre erreicht. Das Universum kann aber vielleicht dem Wärmetod durch Quantenfluktuationen doch noch entgehen, die einen neuen Urknall in etwa 10 hoch 10 hoch 56 Jahren verursachen könnten. Über eine quasi unendliche Zeit wäre nach dem Wiederkehrsatz eine spontane Reduktion von Entropie vorstellbar, hervorgerufen durch Fluktuationen. Damit wäre eine Wiedergeburt des Alls möglich. Tröstlich, auch wenn wir es nicht erleben werden …

So detailliert wird Malick, der Philosoph unter den Filmemachern, der diese wissenschaftliche Disziplin einst an der Universität Oxford studierte, seine Doktorarbeit über Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein nach Meinungsverschiedenheiten mit seinem Dissertationsbetreuer aber abbrach, nicht. Sein „Star Child“ ist der in einer Fruchtblase steckende Fötus, der mit weit geöffneten Augen in 2001 auf unseren blauen Planeten blickt, sondern das kleine Mädchen, das schon zu Beginn der Doku über eine Wiese wandelt.

Bei Malick erklingt auch nicht „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss, „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss (Sohn), „Lux Aeterna“ von György Ligeti oder das armenische Wiegenlied aus dem Ballett „Gayaneh“ von Aram Chatschaturjan, sondern die 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven sowie diverse, fast sakral anmutende Stücke von Filmkomponist Simon Franglen, „Cosmic Beam Experience“-Schöpfer Francesco Lupica oder Arvo Pärt, dem estnisch-österreichischen Vertreter der „Neuen Einfachheit“. Terrence Malick unterlegt deren mal sphärische, mal hymnische Klänge mit seinem Mix aus tatsächliche Aufnahmen des Weltalls, die mit Hilfe des Hubble-Teleskops und NASA-Raumsonden zustande kamen, und durch praktische Effekte erstellte künstliche Bilder des BAFTA-nominierten VFX-Meisters Dan Glass. Dessen Berater war kein Geringer als Douglas Trumbull. Einer der ausführenden Produzenten ist Jacques Perrin: Das einstige französische Teenie-Idol hat längst als Regisseur und Produzent von Tier-Filmen eine zweite Karriere gestartet. Bei den Visual Effects Society Awards 2017 erhielten bei der jetzt zu bewundernden The IMAX Experience-Version mit Dan Glass, Brett Harding, Tom Debenham, Brian Delmonico und Matt Pulliam gleich fünf Mitarbeiter Malicks eine Nominierung für „Outstanding Visual Effects in a Special Venue Project“.

Malick selbst sagt über Voyage of Time, es sei sein größter Traum gewesen, das zwölf Millionen US-Dollar teure, u.a. im Südwesten der Vereinigten Staaten und in Papua-Neuguinea sowie auf Hawaii und Island gedrehte Projekt zu realisieren, an dem er insgesamt über vierzig Jahre gearbeitet hatte. In dem in Venedig mit dem „Green Drop Award“ und dem „Future Film Festival Digital Award“ („Special Mention“) ausgezeichneten Loblied auf die Natur, das Leben und die Wissenschaft, ist ihm das Unmögliche gelungen: Die Darstellung des Anfangs, der Mitte und des möglichen Endes der Zeit. Was kann danach überhaupt noch (filmisch) kommen?