Das True-Crime-Genre sucht nach einer Perspektive jenseits der fehlbaren Institutionen.
Eine der frühesten Reflexionen zum Thema True Crime stammt von dem deutschen Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg. Er kannte weder den Begriff noch das Genre, doch er wusste schon von dem Interesse, das dem Genre zugrundeliegt. In einem seiner Sudelbücher schrieb er am Ende des 18. Jahrhunderts: „Wenn du die Geschichte eines großen Verbrechers liesest, so danke immer, ehe du ihn verdammst, dem gütigen Himmel, der dich mit deinem ehrlichen Gesicht nicht an den Anfang einer solchen Reihe von Umständen gestellt hat.“ Lichtenberg machte sich also Gedanken über Interesse und Identifikation, auch über das moralische Urteil, das Menschen fällen, die nicht im Namen des Staates sprechen. Er machte sich aber auch Gedanken über die Natur des Verbrechens selbst, das er nicht einfach als einen Akt für sich begreifen wollte, sondern als etwas, dem eine „Reihe von Umständen“ vorausgehen. Natürlich bestehen auch verbrecherische Handlungen selbst sehr oft aus einer häufig komplexen „Reihe von Umständen“. Anreiz zu einer Rekonstruktion ist in jedem Fall gegeben.
Der Epoche, zu deren bedeutendsten Vertretern Lichtenberg wurde, ging es um die Verbesserung des, wie es damals oft mit einigem Pathos hieß: Menschengeschlechts. Verbrechen waren deswegen von Interesse, weil sie an diesem Geschlecht, an der Gattung, etwas deutlich machten, was zur Klärung einer grundsätzlichen Frage beitragen konnte: Ist der Mensch von Natur aus gut oder schlecht? Wird er zum Verbrecher oder zum Genie oder zum anonymen Gesicht in der Menge durch Erfahrung oder durch Geburt? Geklärt sind diese Fragen bis heute nicht. Und True Crime macht deutlich, warum das so ist: Die Geschichte eines großen Verbrechers oder eines großen Verbrechens führt nicht nur zum Kern einer Handlung, die durch Gesetze als Delikt ausgewiesen ist, sondern auch zu dem ganzen Aufwand, den die Menschen treiben, um mit diesen Handlungen (Mord, Betrug, Entführung, …) umzugehen, um sie nicht nur aufzuklären, sondern sie auch zu verstehen und angemessen zu sanktionieren.
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Zur aufgeklärten Tat gehört im Normalfall ein Urteil im Namen des Volkes und im Namen der Wahrheit – ein hoher Anspruch, der häufig vieles offen lässt, denn beide Aspekte sind komplex: Die „Wahrheit“ bei einem Verbrechen besteht aus Tathergang, Motivation und Rezeption. Die „gerechte“ Strafe besteht aus einer Abwägung zwischen juristischer Verallgemeinerung und konkretem Fall. Das Genre True Crime konfrontiert das Publikum genau mit den Ausnahmen von einer gelungenen Regulierung der Gesellschaft durch Gesetze. Der Normalfall gibt erzählerisch nicht viel her, erst bei Delikten erwacht das Interesse.
In fast allen True-Crime-Geschichten laufen das Interesse der Medien und das Interesse von Polizei und Gericht parallel. Einer der berühmtesten Fälle lässt das deutlich werden: Der Film In Cold Blood von Richard Brooks beruht auf einer Reportage von Truman Capote, die mit den Weihen der Literatur ausgestattet war, und zwar gerade deswegen, weil die Rekonstruktion der langen Vorgeschichte der Ermordung einer vierköpfigen Farmerfamilie in Kansas unweigerlich Aspekte eines Romans bekam. Die „Reihe von Umständen“ erstreckt sich im Buch über mehr als zehn Jahre und bezieht den Strafvollzug mit ein: Das Gefängnis wird hier zum Ort, an dem die schockierende Straftat „erfunden“ wird. Capote stand für einen Realismus, der Literatur und Tatsachen im Interesse einer stärkeren Wahrheit über das Menschenmögliche zusammenführte.
Dieser essenziell aufklärerische Gestus verband sich danach häufig mit Innovationen in der praktischen Verarbeitung von Verbrechen. Die Forensik als ein neues Fachgebiet für die Lösung von Fällen erwies sich auch für Filme und Serien als höchst attraktiv, weil es sich dabei ja um eine stark mediale Disziplin handelt. Ihr Sinnbild ist die Bildwand oder das Wandbild, die man häufig zu sehen bekommt: eine Collage aus relevanten Details, Fotografien, Zitaten, Aspekten, gern durch diagrammatische Linien (Handlungsvektoren) verbunden. Lange kann dabei das entscheidene Indiz in diesem Wimmelbild schon offen zu sehen sein und doch übersehen werden. David Fincher ist der amerikanische Regisseur, der geradezu eine Epoche der Forensik beschrieben hat, zuerst mit dem Spielfilm Zodiac (2007), später mit der Serie Mindhunter (2017–2019). Die Figur des Serientäters wird dabei pointiert mit der Autorenfunktion in Romanen verglichen, während das „Fiktionale“ in den häufig von Wahnsystemen bestimmten Tätern auf eine zunehmend verwissenschaftlichte Psychologie trifft.
Zugleich geht von Fällen oft eine Art paradigmatischer Attraktivität aus, die sich in wiederholten Adaptionen zeigt: Der Fall des deutschen Serienmörders Fritz Haarmann wurde schon zeitgenössisch von dem Philosophen Theodor Lessing in einem True-Crime-Buch mit dem irreführend reißerischen Titel Geschichte eines Werwolfs behandelt, ging dann motivisch in Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder ein und wurde 1995 von Romuald Karmakar mit einem ausdrücklich dokumentenhistorischen Setting auf Grundlage gerichtspsychiatrischer Akten mit Der Totmacher neu aufgerollt.
Ein österreichischer Fall enthält nahezu alle Aspekte der zum Teil sehr berühmten amerikanischen Serienmörder-Geschichten. Jack Unterweger wurde nicht zuletzt von den „Zeitungen“ bereits ausführlich behandelt, und bis zu einem gewissen Grad mitproduziert. Johann Unterweger, genannt Jack, war ein Besatzungskind. Mit diesem Wort verbindet sich in Österreich unwillkürlich eine Vorstellung von Differenz: Manche Besatzungskinder hatten dunkle Hautfarbe (zum Beispiel der Fußballer Helmut Köglberger). Jack Unterweger war auf eine andere Weise ein Außenseiter: Er wurde 1976 wegen eines Mords an einer jungen Frau zu lebenslanger Haft verurteilt und verbüßte seine Strafe in der Justizanstalt Stein. In der Haft begann Unterweger zu schreiben, und nicht zuletzt aufgrund des Engagements zahlreicher Vertreter des österreichische Kultur- und Medienbetriebs wurde er nach 16 Jahren vorzeitig entlassen.
„Sie haben viel aus sich gemacht“, sagt ein Filmproduzent in einer Szene in dem Film Jack (2015) von Elisabeth Scharang. Es geht um einen Moment, in dem Jack auf eine Verfilmung seiner Geschichte hofft, allerdings brutal enttäuscht wird. Scharang erzählt von dem Hype um Unterweger auf eine Weise, die um Verständnis für seine charismatische und glamouröse Wirkung bemüht ist. Unterweger war als Schriftsteller zugleich ein Model, und als Sexualverbrecher war er auch ein Echo der Medien-Umgebungen, die ihn als Autor nur akzeptierten, wenn er weiterhin die Gefahr von Delinquenz suggerierte. Der Fall Unterweger steht auch für eine Weiterentwicklung von Forensik, die dem Faktor Zeit neue Geltung verschafft. Mit der Entzifferung genetischer Spuren werden Verbrechen neu zugänglich, die mit anderen Mitteln ungelöst geblieben wären.
Das True-Crime-Genre hatte seine unmittelbarste Ausprägung ja zuerst in einer deutschen Fernsehsendung gefunden, die ihrerseits als Verbindung von Realität und Fiktion erscheinen konnte: In Aktenzeichen XY – Ungelöst wurden ab 1967 Verbrechen in einer dramatisierten Form so gezeigt, dass sie ausdrücklich als Einbruch des Aufzuklärenden in einen ansonsten unproblematischen Alltag deutlich wurden. Zugleich wurde damals das ganze Eurovisions-Publikum in eine potenzielle Augenzeugenschaft gerufen. Für eine „aufklärerische“ Aufklärung im Sinne Lichtenbergs war dabei keine Zeit. Es ging bei der „Reihe von Umständen“, die die kleinen Reenactment-Einspielungen darlegten, häufig um eine Unterbrechung von Routinen: Verbrechen bricht in den Alltag ein und lässt diesen fragwürdig werden. Ein Mädchen legt jeden Tag den gleichen Weg von der Schule nach Hause zurück, eines Tages kommt es aber daheim nicht an: Das ist geradezu ein Grundmodul entsprechender Erzählungen, bei denen True Crime dann nach den Lücken in der Erzählung suchen muss – zum Beispiel in Marie Wilkes Mehrteiler Höllental (2021), in dem ein Fall rekonstruiert wird, den Dominik Graf zuvor schon in seinem Spielfilm Das unsichtbare Mädchen (2011) fiktionalisiert hatte.
True-Crime-Stories sind letztlich sehr oft auch Geschichten über das Versagen von Institutionen. Denn die Polizei arbeitet nicht selten fehlerhaft, die Justiz ist keineswegs über Befangenheit erhaben, die Medien stiften oft mehr Verwirrung als Klarheit. Von True Crime im engeren Sinn wäre deswegen erst zu sprechen, wenn eine Darstellung alle diese Aspekte bereits einbeziehen kann, wenn also eine Meta-Perspektive möglich ist. Dazu muss ein Fall nicht unbedingt abgeschlossen und restlos aufgeklärt sein. Es kann schon reichen, ein Rätsel mit allen seinen Aspekten zu schildern. Häufig geht von solchen Fällen sogar die größere Wirkung aus. Das Genre boomt wohl nicht zufällig vor allem seit der Digitalisierung, die es ermöglicht, unterschiedlichste Faktoren von Fällen in medienarchäologische Schichtungen zu überführen und Verbrechen mit einer neuen Form von Archivkunde beizukommen. Das führt unter Umständen zu Formen, in denen sich True-Crime-Aspekte mit Geschichtsschreibung verbindet. Die US-Historikerin Wendy Lower geht in ihrem aktuellen Buch „The Ravine: A Family, a Photograph, a Holocaust Massacre Revealed“ von einem einzelnen konkreten Foto von einer Erschießung im Jahr 1941 in der heutigen Ukraine aus und schafft es im Prozess einer unerhörten Rekonstruktion, so viel über die Umstände des einen Moments herauszufinden, dass sich darin das ganze Menschheitsverbrechen der Shoah spiegelt.
Das ist weit mehr als das, was als True-Crime-Genre im engeren Sinn bekannt ist, lässt aber einmal mehr die Verbindungen deutlich werden, die zu den Kerninteressen der Aufklärung bestehen: Auskunft zu bekommen über Menschen in aller ihrer moralischen Vieldimensionalität zwischen Gut und Böse, Täter und Opfer, Pathologie und Alltag. Der „gütige Himmel“ zeigt sich dabei nicht mehr durch Vorsehung, sondern durch Übersicht: Ein synoptischer (zusammenschauender) Blick findet das Wahre an tatsächlichen Fällen und hebt das allgemeine Interesse daran durch Betonung des Besonderen hervor.