Die Stille nach dem Schuss
Marian (Brigitte Hobmeier) schreit. Einmal. Zweimal. Dazwischen ist Stille. Es ist ein Akt der Befreiung, der Erlösung vielleicht. Marian schreit, weil sie sich Luft machen muss. Auch um zu vergessen. Der Wald, in dem sie steht, fragt nicht warum.
Erst beim dritten Schrei, der ein paar Filmminuten später erschallt, klingen schließlich auch die ganze Angst und die Verzweiflung in Marians Stimme mit. Die Investigativjournalistin ist in das verlassene Haus ihrer verstorbenen Großeltern zurückgekehrt, weil sie sich in der Stadt plötzlich nicht mehr sicher fühlt. In der altenHeimat hofft sie, Zuflucht und Distanz zu finden. Sie will allein sein, auch ohne ihren Mann, der sie in Wien vermisst. Aber im Dorf ist sie nicht mehr gern gesehen, seit sie vor über 20 Jahren einfach weggegangen ist. Selbst der Hof, auf dem sie ihre Kindheit verbracht hat, scheint ihr zunächst feindlich gegenüberzustehen.
Elisabeth Scharang erzählt in Wald die Geschichte einer Frau, die ihren Halt verloren hat. In bruchstückhaften Rückblenden und Dialogen erfährt man, dass sie einen Terroranschlag miterleben musste. Dass sie sich schuldig fühlt und verunsichert ist. Und man erfährt, dass sie früher eine enge Freundschaft mit Gerti (Gerti Drassl) und Franz (Johannes Krisch) verband, die beide im Ort geblieben sind, weil es sich so gehört. Oder wie Franz es einmal formuliert, „weil man zur Familie steht.“
Langsam tastet sich das Drama an den kühlen, grauen Schauplatz heran. Eigent-lich wollte Marian nur ein paar Tage bleiben. Aber bald wird klar, dass es in ihrem Leben mehrere Baustellen gibt. Sie braucht Zeit, um die eigenen Wunden zu heilen – alte und neue. Es geht um Trauer, Verantwortung und Loyalität. Als Gerti ihre entfremdete Jugendfreundin irgendwann verfroren und krank im Bett findet, weil Marian sich zu lange ohne Heizung, Auto und Vorräte durch den strengen Winter gequält hat, ist es fast zu spät.
In dem gleichnamigen Roman von Doris Knecht, dem Scharangs Film seinen Titel verdankt, beschreibt die Autorin die Abstiegsgeschichte einer Mode-Designerin nach der Finanzkrise. Die Regisseurin selbst geriet nach dem Terroranschlag in Wien im November 2020 und dem anschließenden Lockdown ins Wanken. Das Drehbuch diente ihr als Vehikel, um persönlichen Ängsten Raum zu geben. In der Charakterzeichnung ihrer Hauptfigur bleibt sie dafür relativ unscharf, und man fragt sich gelegentlich, ob nicht eigentlich Gerti die wahre Heldin in diesem Selbstfindungsszenario ist. Drassl spielt sie toll, stur und sanft zugleich, wie ein Moos, das unter dem dicken Schnee in dieser rauen, kargen Landschaft einfach festgewachsen ist. Für den Film, dem es manchmal ähnlich wie Marian an Orientierung fehlt, ist sie ein großes Glück.