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Walk the Line – Mythen in Tüten

Mythen in Tüten

| Thomas Mießgang |

Über „Last Days“, „Walk the Line“ und das verflixte Genre des (Musiker-)Biopic

Die Gattung war in ihrer hybriden Mischung aus Komödie, Melodram,Tragödie, historischem Epos und Film noir, in ihrem Gleiten zwischen denunterschiedlichen Konventionen des Genrekinos von Beginn an nichtunumstritten, gleichwohl aber nicht totzukriegen

Ein Mann mit blondem, verfilztem Haar stolpert durch pittoreske Waldlandschaften. Er zieht sich aus, badet seinen Körper in einem Fluss, uriniert ins Wasser. Dann bricht der Abend herein. Der schlaksige Junge zündet ein Feuer an und starrt mit leerem Blick in die Flammen. Schnitt. Nächster Morgen: Der Waldgänger bricht zum Rückweg auf. Ein großes düsteres Herrenhaus kommt ins Blickfeld, andere Menschen tauchen auf. Mitbewohner des Blonden, die in ihrem eigenen Orbit zu kreisen scheinen und nur gelegentlich aneinander anstreifen.

Eine Gegenwelt, eine negative Utopie, in dem Solipsisten im Gefängnis ihres Ich leben. Incomunicado! Und Blake (Michael Pitt), die Hauptfigur des Films, stolpert unter glossolalischem Gemurmel wie ein entfernter Verwandter des narkoleptischen Mike aus My Own Private Idaho durch das von verlorenen Seelen und ausgebrannten Künstlern bevölkerte Szenario. Der Film Last Days arbeitet mit den Mitteln des Cinema vérité: Entfesselte Kamera, lange Einstellungen, wenige Schnitte – gewissermaßen die radikale Gegenposition zum Videoclip.

Von Illusionen gereinigter Nullzustand

Dass es sich bei Blake um einen Rockstar im Zustand der Selbstauflösung handeln könnte, wird nur durch eine sparsame Zeichensetzung deutlich: Man sieht in einem Raum Marshall-Verstärker, Gitarren und ein Schlagzeug. Gelegentlich streift der ziellose Seelenwanderer durch das Zimmer, zupft ein paar Akkorde, hämmert auf die Trommeln. Dann wiederum greift er sich ein Gewehr, zielt wie im Scherz auf seine schlafenden Kameraden und setzt seinen erratischen Kurs ins Nirgendwo fort. Last Days sei von den letzten Tagen der durch Selbstmord mit der Schusswaffe verstorbenen Rock-Ikone Kurt Cobain inspiriert, ansonsten aber ein frei erfundenes, fiktionales Werk, hat Regisseur Gus Van Sant verlautbart. Der allgemein bekannte Suizid des Nirvana-Stars hängt wie eine dunkle Wolke über dem Drama der alltäglichen Banalität, das sich in quälender Langsamkeit entfaltet und wird im Film konsequenterweise gar nicht gezeigt. Es geht um das Vertropfen der Zeit, um die Monochromie des Seins und die Dialektik von Genie und Wahn statt um das Sensationalistische des Ausnahmezustands. In diesem Sinne entzieht sich Last Days, der von übereifrigen Kritikern vorschnell unter die Gattung Biopic (= biographical picture) eingereiht wurde, den Anforderungen des Genres. Denn die bestehen gerade darin, dass isolierte Ereignisse und epiphanische Momente aus dem Leben berühmter Leute dramatisch verdichtet und überhöht werden. In Last Days findet aber keine affektive Aufladung im Sinne Hollywoods statt, sondern, im Gegenteil, eine radikale Gefühlsentleerung und Entdramatisierung. Es geht um die pure Existenz in ihrer entropischen Unfassbarkeit und in ihrem von Illusionen gereinigten Nullzustand.

Jenseits der Zwangsjacke

Dies mag zwar im Einklang mit den gestalterischen Prinzipien und ästhetischen Präferenzen des Regisseurs Gus van Sant passieren, sicher aber nicht mit den Wünschen und Sehnsüchten der Nirvana-Fans, die vermutlich einen tränenseligen Account des finalen Touchdowns ihres Idols erwarten und wohl ihr Geld an der Kinokassa zurückverlangen werden. Last Days wurde von der Kritik durchaus zwiespältig aufgenommen. „Man spürt eine abgrundtiefe Langeweile, die sehr wohl zum Selbstmord führen kann“, schrieb ein amerikanisches Filmmagazin. Und der Miami Herald empfand die Arbeit als „ziellos und frustrierend“. Die subjektiven Idiosynkrasien und das reduktionistische Vokabular des Filmautors Gus Van Sant, die sehr wohl geschätzt werden, wenn es sich um cineastische Ausstülpungen seiner inneren Dämonen handelt, verlieren für Publikum und Kritik im Zusammenspiel mit einer prominenten Figur, die nachprüfbare empirische Fakten mit sich schleppt, offenbar ihre suggestive Kraft.
Gus Van Sant hat ein gefährliches Spiel gewagt und bestenfalls einen Achtungserfolg erzielt.
Denn eine Welt-Celebrity filmisch jenseits der Zwangsjacke, die das Biopic seinen Machern anmisst, abzuhandeln, wird wohl nur von einer qualifizierten Minderheit akzeptiert werden. Biografische Filme sind so alt wie das Kino selbst, von Meliès (Jeanne d’Arc) und Abel Gance (Napoleon) bis hin zu Orson Welles’ Citizen Kane, der, vage nach den biografischen Konturen des Zeitungszaren Randolph Hearst modelliert, als Urtext des modernen Biopics gelten kann. Die Gattung war in ihrer hybriden Mischung aus Komödie, Melodram, Tragödie, historischem Epos und Film noir, in ihrem Gleiten zwischen den unterschiedlichen Konventionen des Genrekinos von Beginn an nicht unumstritten, gleichwohl aber nicht totzukriegen.

Alles verschlingender Drive?

Gerade Welles ist allerdings ein Beispiel dafür, dass es im Herrschaftsbereich des biographischen Films durchaus möglich ist, Meisterwerke hervorzubringen. Er habe einen völlig neuen Umgang mit dem europäischen Konzept der Identität und mit den Begriffen der Konsequenz, der Moral, der Verantwortung gepflegt, schreibt Fritz Göttler, Filmkritiker derSüd-deutschen, und damit die Blaupause für das zeitgenössische Biopic gezeichnet: „Die Dialektik von Erinnern und Vergessen, von Bewusstsein und dunklem Trieb, von höchster Lust und extremem Schmerz ist der Stoff der Bio-Filme – ein alles verschlingender Drive, der den Urgrund ihrer Destruktivität bildet.“ Tobender cineastischer Wahnsinn zwischen Destruktion und Dekonstruktion, der Löcher in die Leinwand reißt?

Das scheint denn doch eine Spur zu euphemistisch gedacht, denn auf einen Orson Welles kommen zwanzig brave Handwerker, die sich der normativen Kraft des Faktischen unterwerfen, die von TV-Formaten vorgegeben wird, und diese Westentaschenvisionen auf die große Leinwand übertragen.

Biopics hatten im Lauf der Filmgeschichte immer ihre Haussen und Baissen. In letzter Zeit scheint das Publikumsinteresse an großen Erzählungen, die in der Wirklichkeit verankert sind, wieder stark zu wachsen: Kevin Kline als Cole Porter  in De-Lovely von Irwin Winkler, Kevin Spacey als der Sänger Bobby Darin in Beyond the Sea, Geoffrey Rush inThe Life and Death of Peter Sellers von Stephen Hopkins, Jamie Foxx als oscargekrönter Ray Charles, und nun eben Joaquin Phoenix und Reese Witherspoon als Johnny Cash und June Carter in Walk the Line von James Mangold.
Geschichte wird gemacht, es geht voran – zumindest im Film!

Bei aller Berücksichtigung individueller Regietemperamente und subjektiver Erzählweisen ist doch den meisten dieser Filme gemein, dass sie auf denkbar vorhersehbare Weise das „real life“ ins reel life übersetzen. Im Gegensatz zum rein fiktionalen Kino hat das Biopic den Nachteil, dass es seinen Plot entlang allgemein bekannter Fakten entwickeln muss. Im Fall von Johnny Cash sind das etwa: erste Begegnung mit Sam Phillips im Sun-Studio, legendäres Konzert im Folsom Prison, Karriereknick durch verschärfte Drogensucht, Wiederauferstehung an der Hand des rettenden Engels June Carter. Fakten, Fakten, Fakten! Und diese ins kollektive Unbewusste geritzten Erinnerungsmomente, nach denen die Fans gieren, müssen mit der Überwältigungsmaschinerie des Kinos zu transzendentalen Höhepunkten im Rahmen festgefügter Kinotraditionen hochgejazzt werden. Das Experimentelle hat – siehe Last Days – im dialektischen Spiel von Unterhaltungsangebot und Publikumserwartung keinen Platz.

Theater der Illusionen

Biopics vermitteln oft den Eindruck, dass sie Geschichte schreiben, wobei sie doch meist nur Geschichten erzählen. Dieses genreimmanente Missverständnis führt zu jenem grundlegenden Unbehagen, das die Gattung seit jeher begleitet. Im Biopic fehlt jedes Überraschungsmoment, da die grundsätzlichen historischen Fakten als Spielmaterial der kollektiven Publikumsfantasie vorausgesetzt werden. Andererseits wird die historische Akkuratesse gerne vernachlässigt und auf dem Altar der narrativen Klischees der Hollywood-Spielfilms geopfert. So entsteht in den meisten Fällen eine schwer verdauliche Mischung aus Fact und Fiction. Statt Geschichte gibt es Mythen in Tüten. Das Medium wird nicht als Ort der Aufklärung genutzt, sondern, ganz im Sinne McLuhans als Mittel zur Massage der Affekte.

Das Biopic als verwässerte Tragödie für die TV- und Kinogeneration war, ist und bleibt ein Bastard, der so lange nicht sterben wird, wie die Menschen sich vom Theater der Illusionen unterhalten und erhöhen lassen wollen. „Biografische Filme präsentieren einen nahezu monochromen Blick auf die Geschichte,“ hat George Custen in seiner exemplarischen Studie Bio/Picsgeschrieben: „Aus der Vielzahl an möglichen Darstellungen werden die paar ausgewählt, die schon einmal beim Publikum Erfolg hatten. So entsteht eine ontologische Schräglage, die das Gold der narrativen Vielfalt ins Stroh erzählerischer Dürftigkeit verwandelt.“