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Festival. Ein Schwerpunkt

Was lange währt …

| Alexandra Seitz |
… wird endlich wenigstens halb gut: Teil 2 der 71. Berlinale geht nun doch noch über die Bühne.

Anfang März war’s, da fand im virtuellen Raum das sogenannte „Berlinale Online Industry Event“ statt: Teil eins des dieses Jahr aus bekanntem Grund zweigeteilten Festivals. Traditionsgemäß nämlich gibt der European Film Market zu Jahresbeginn sozusagen den Startschuss für die Branche, er schiebt das Geschäft an und bringt den Festivalzirkus ins Rollen. Berlinale-Verschieben war also keine Option, das Publikum, dessen sich die Veranstalter ja so sehr rühmen, zur Gänze leer ausgehen lassen aber auch nicht. Also kommt es nun im Juni zum „Berlinale Summer Special“, aus sattsam bekanntem Grund in Gestalt einer reinen Open-Air-Veranstaltung. Sei’s drum, und hoffen wir auf gutes Wetter, denn die Zuschauerschaft darf sich freuen. Das Programm, das die Branche im März verwahrlost, im Bademantel und mit der Kaffeetasse in der Hand zuhause am Bildschirm besichtigen konnte, es kann sich auf großer Leinwand sehen lassen und ist zugleich auch der Beleg dafür, dass so eine Schrumpfkur (weniger Filme an weniger Tagen) sehr gut tun kann.

Heftige Komödie

Die Qual der Wahl hat man natürlich trotzdem. Wobei die Entscheidungsfindung insofern erleichtert sein könnte, als über die Vergabe der Bären ja bereits entschieden wurde; von einer Jury, die aus Goldbären-Preisträgerinnen und -Preisträgern der vergangenen Jahre zusammengesetzt war. Und die wiederum haben in guter alter Berlinale-Tradition mit Babardeala˘ cu bucluc sau porno balamuc (Bad Luck Banging or Loony Porn) des risikofreudigen rumänischen Regisseurs Radu Jude einen Film mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, der wie mitten aus der Gegenwart ins Kino geplatzt ist und beweist, welchen Beitrag die Filmkunst zu gesellschaftlichen Debatten zu leisten in der Lage ist, zumal in sprichwörtlichen „Zeiten wie diesen“, also der Gefährdung.

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Radu Jude nimmt denn auch kein Blatt vor den Mund und konfrontiert das Publikum gleich zu Beginn mit den expliziten Bildern eines fröhlichen Homemade-Sextapes. Zu sehen ist, wie Lehrerin Emi Spaß mit ihrem Mann hat, nur leider stellt irgendein Depp das Filmchen ins Internet, und schon steht Emis Leben Kopf, ihre Stellung auf dem Spiel und ihre moralische Integrität in Frage. Loony Porn, in Zeiten der Pandemie mit einem maskentragenden Ensemble mutig in Szene gesetzt, liefert nicht nur das unmittelbare Abbild der filmemacherischen Gemeinschaft, die mit der Seuche um den Erhalt der Möglichkeiten ihrer kulturellen Praxis kämpft. Jude zeichnet auch das Porträt einer ganzen Gesellschaft unter extremen Bedingungen. Er folgt seiner Protagonistin an einem heißen Sommertag durch das lärmende Bukarest und registriert einen derart himmelschreienden Verfall von Sitte und Anstand, dass sich dagegen der Skandal, der hier um ein in falsche Hände geratenes Sextape gemacht wird, geradezu zwergenhaft ausnimmt. Es ist also vielmehr die Frage nach der Natur der Obszönität – Was ist in welchem Kontext obszön und warum? –, die Jude in seinem dreiteiligen Film verhandelt und die er unterschiedlich formuliert in immer wieder neuen Anläufen aufwirft. Dabei erweist sich vor allem das mittlere Kapitel, das eine Collage historischer Dokumente und Anekdoten bietet, die von bestürzend über erschreckend bis grausig reichen, als ganz besonders bitter in Sachen Wahrheitsgehalt. Wie überhaupt das gesamte Unterfangen unseren derzeitigen Lebensgepflogenheiten einen ebenso aufschlußreichen wie beschämenden Spiegel vorhält. Das Entwurfhafte, das die groteske Komödie im Untertitel trägt, der da lautet „a sketch of a popular film“, zieht sich dabei mit größter Konsequenz durch bis zum tumultösen Ende, das in Gestalt von gleich drei verschiedenen Varianten angeboten wird. Deren dritte wäre wohl die allerbefriedigendste, aber wie nicht anders zu erwarten ist es auch die allerunwahrscheinlichste. Leider.

Deutlich leisere Töne werden hingegen in Rengeteg – mindenhol látlak (Forest – I See You Everywhere) von Bence Fliegauf aus Ungarn angeschlagen sowie in Guzen to sozo (Wheel of Fortune and Fantasy) des japanischen Regisseurs Ryusuke Hamaguchi. Dem Lamento, das Loony Porn angesichts allerorten zunehmend verrohender verbaler Schlagabtäusche anstimmt, setzen diese beiden gleichfalls mit Bären prämierten Filme unendliche, fein geschliffene Wortkaskaden entgegen, die von einem mittlerweile geradezu altmodischen, ganz erstaunlich anmutenden Vertrauen in die Möglichkeiten der menschlichen Sprache zur Konfliktbewältigung zeugen. Fliegauf lässt seinen Film in sieben szenischen Vignetten um den Tod kreisen, der wie jener Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht, immer mitten im Raum steht, als jener Schrecken, der die Konfrontationen auslöst, selbst jedoch nicht konfrontiert wird oder werden kann. Währenddessen Hamaguchis Figuren in drei Episoden von der Liebe reden, die sie erhofft, verloren, erträumt, für Momente sogar wohl einmal erlangt haben. Das ist ein Fest der Schauspielerei und zugleich auch strukturell faszinierend, greifen die Sprecherinnen und Sprecher der beiden Filme in ihren Dialogen doch beständig nach dem Jenseits der Szene. Nicht nur, indem sie von früher reden oder von dem, was kommen mag. Sondern auch, weil das, was gesprochen wird, nicht immer deckungsgleich ist mit dem, wovon der Film, die Vignette, die Episode „eigentlich“ handelt. Jenes Eigentliche wiederum ist, wenig verwunderlich, nichts konkret sichtbar zu Machendes – doch ist es eminent filmisch als Subtext der Sätze und Schatten in den Bildern.

Andernorts verstummen alle Versuche der Erläuterung. Das Mitgeschöpf, es sei Pflanze oder Tier, hat am wortreichen Diskurs keinen Anteil. Ihm bleibt nur das Erdulden. Wer versteht schon das protestierende Knarren des uralten, identitätsstiftenden Dorfbaumes in Taming the Garden, der, der Laune eines mächtigen Mannes geopfert, ausgegraben und hunderte von Kilometern übers Land in einen sterilen Garten verschleppt wird? Wer versteht das empörte Fauchen der Raubtiergebiss-bewehrten Robbe in From the Wild Sea, die vom Klimawandel-Sturmwind an die Klippen geworfen wird und nun zerschunden in einer Pflegestation liegt? Wer hört ihnen zu? Salomé Jashi und Robin Petré schauen hin und zeichnen auf. Äußerst wortkarg fallen ihre Dokumentarfilme jeweils aus. Der gemeinhin den allgemeinen Untergang propagierende Homo Sapiens erhält in ihnen keine Bühne. Stattdessen die aufs Existenzielle zielenden Artikulationen fremder Lebensformen. Auch hier wird etwas Wesentliches sichtbar, im Kino.