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We Come as Friends

Ein verrückter Engel

| Otto Reiter |
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen: Hubert Sauper im Porträt anlässlich seines dokumentarischen Essays „We Come As Friends“.

Paris, Ende September 2014: Hubert Sauper ist ein ganz Besonderer, ein Seltener, ein Schmetterling. Einer, der sich keinen Regeln beugt, der frei fliegt. So habe ich mich auf ihn gefreut, als die Einladung in die Jury zum Pariser Festival Signes de Nuit kam: „Flug wird bezahlt, schau wo Du bleibst.“ Beim Hubert kann ich immer schlafen.

Seine winzige Pariser Wohnung ist besetzt. „Otto, kein Problem, nimm doch von Paris-Bercy den Zug, in einer Stunde bist du in Joigny, hinter dem Bahnhof steht ein altes, gelbes Auto, wie die von der Post, neben dem linken Vorderrad steckt der Schlüssel, dann nur noch 35 Kilometer …“

Plötzlich ein Anruf: „Otto, ich komme nach Sonnenuntergang nach Paris, weil morgen tritt ein Freund von mir, Fragan Gehlker, als Seiltänzer auf.“ Hubert kommt knapp nach Mitternacht, sein Auto ist 50 Kilometer vor Paris zusammengebrochen, wir müssen mit einem Taxi ganz dringend Holzbalken in einen Keller verfrachten, ein Bier am Place Pigalle geht sich noch aus, dann gute Nacht, weil morgen Seiltanz. Das Theater Le Montfort befindet sich in einem Stadtrandbezirk, die Straßencafés voller Menschen, aber niemand kennt es. Ich finde es trotzdem, und es wird ein schöner Abend.

Am nächsten Tag mit dem Zug zu ihm nach Hause. Seine neue Heimat im Burgundischen. Fünf alte verfallene Bauernhäuschen hat er vor Jahren bei einem Rundflug entdeckt und sich verliebt, in die sanfte Landschaft, die Jahrhunderte alten Gemäuer. Kaum angekommen, zeigt er auf ein Feld: „Das ist mein Flugplatz“, links in einem kleinen Wäldchen, ein Baumhaus, das muss der Tower sein, denk ich mir. Ist er auch.

Dann reißt er wunderschöne orange Blüten ab, Les capucines, die muss ich sofort essen, weil ich brauche Vitamine. Meint er. Die lieblichen Häuschen sind nicht renoviert, sondern revitalisiert, voll mit Büchern, Filmen, Schallplatten, alten Radioapparaten,  Spielzeugen, Miniatur-Eisenbahnwaggons, Autos und Flugzeugmodellen. Und nicht einmal ein Baum- oder Strauchzaun rundherum. Hoffentlich findet nie ein Feindseliger diese faszinierende Idylle.

Ein Hektar Land, 300 Meter Landebahn, eine Oase wie im Märchen. Aber Ausruhen gibt es nicht, also Brombeer- und Himbeerernte, während Hubert wie wild Unkraut ausreißt, mit der anderen Hand mit Rio de Janeiro, dem Zurich-Filmfestival, Mexiko und London telefoniert. Dann setzt er mich auf einen Kleintraktor bei Sonnenuntergang, weil ja noch die Landepiste niedergemäht werden muss. Mittlerweile ist es stockdunkel, aber der Traktor hat Scheinwerfer, und ich drehe Runde um Runde. Endlich Erlösung, schreiend kommt er aus der Finsternis, er hat Burgunderschnecken am offenen Feuer gebraten.

Wir sitzen am Feuer, von fern singt ein Uhu sein Nachtlied, auch eine Nachtigall stimmt ein und wir reden über Vergangenes und Zukünftiges, auch über den Tod.

Vor 20 Jahren lernte ich Hubert kennen, er studierte an der Wiener Filmakademie, machte seine ersten kinematografischen Fingerübungen, Ich habe die angenehme Aufgabe, die schöne Dokureise mit dem Zirkusdirektor Emil, und Also schlafwandle ich am helllichten Tage, die Paraphrase zu Leben und Tod von García Lorca. Und er lädt mich in seine Kindheit ein. Nach Döllach, ins Kärntner Mölltal, ein enges Tal, das nach Heiligenblut und zum Großglockner führt. Er sei in einem Wirtshaus aufgewachsen, hatte er mir noch vorher erzählt. Aber das Wirtshaus war das erste Haus am Platz, der „Schlosswirt“, ein erstklassiges  Hotel mit exquisitem Restaurant, Eislaufplatz, Pferdestallungen. Als ältester Sohn hätte er das alles übernehmen sollen, sehr  zum Missfallen seines Vaters war dem schon sehr früh nicht so. Er war viel mehr fasziniert von dem Heiligenbluter Hans Senger, der mit allen möglichen Fluggeräten über dem Mölltal und weit hinaus schwebte. Damals auf Kurzbesuch hatte Hubert, lang bevor es Mode war, den Kopf kahlgeschoren und ich die Haare länger als üblich, die jungen Burschen am Nebentisch wussten uns sofort richtig einzuschätzen: „Die bringen uns ganz sicher Aids“. Haben wir nicht getan.

Hubert hat schon mit 18 weiter über den Tellerrand geblickt. So ist er einmal im Winter mit seinem Paragleiter zu einem Mölltaler Eremiten, hoch oben in den Bergen, der auf dem Landweg, unwegsam, eingeschneit, von der Außenwelt abgeschnitten war, geflogen, mit Gulasch, Bier und anderen nützlichen Dingen. Das schafft er nie, hat man im Dorf gesagt. Hat er doch. Auch seine jüngeren Brüder, der Toni und der Lois, sind Flieger und haben dem Mölltal Adieu gesagt. Toni macht Pferdewanderungen mit Haflingern über die Hohen Tauern, und Lois ist Cheftechniker am Wiener Theater der Jugend, ansonsten fliegt er von einem Flughafen in Stockerau, wohin es ihn trägt.

Für We Come As Friends hatte der sechs Jahre jüngere Lois, abgesehen vom Zusammenbau des Flugzeugs und Testflügen von Frankreich über die Alpen, eine ganz wichtige Funktion, die des „Chief Ground Controllers“: „Alle haben gesagt, mit dem kleinen Ding schafft der Hubert das nie bis Afrika. Ich hab mir auch gedacht, vielleicht bis Libyen, aber dann ist Schluss. Im Cockpit hab ich einen Peilsender eingebaut, und wir hatten Funkverbindung, über Satellit kamen Position, Flugrichtung, Geschwindigkeit zu mir nach Wien, aber wäre der Sputnik (benannt nach dem ersten sowjetischen Raumfahrzeug und der gleichnamigen russischen Satirezeitung, die kurz vor dem Ende der DDR dort noch verboten wurde) bei meiner Routenverfolgung tausende Kilometer entfernt über dem Meer verschwunden, ich hätte nichts tun können, ich habe oft genug vor meinem Bildschirm wie Espenlaub gezittert.“ Hubert sieht seinen Sputnik nicht unbedingt als großartige Meisterleistung: „So etwas kann jeder Trottel bauen, ein paar wichtige Dinge musst du halt beachten, leichtes Material verwenden, gut zusammenschrauben, und den Rotax-Motor hab ich geschenkt bekommen.“

Was denkt ein Fliegerbruder über den anderen: „Hubert ist ein waghalsiger, manchmal fast todesmutiger, aber jederzeit exzellenter Flieger. Die Betonung liegt auf ‚Flieger‘, weil er sich rein darauf konzentriert, mit der kleinen Maschine möglichst symbiotisch in der Luft zu sein. Das unterscheidet eben den Flieger vom Piloten, der einen Flug nach Checklisten, geregeltem Funkverkehr, Navigationsplan usw. wie ein Programm ablaufen lässt. Programme und Vorschriften sind Dinge, die dem Flieger Hubert ziemlich wurscht sind. Piloten sind auch keine Anarchisten, der Flieger Hubert aber schon, sonst hätte die Filmflugreise nie so beeindruckend gelingen können.“

Zurück zum Lagerfeuer im Burgundischen. Wir reden über den plötzlichen Malaria-Tod seines österreichischen Regiekollegen Michael Glawogger dieses Jahr im April in Liberia: „Als ich von seinem Tod erfuhr, ist es mir eiskalt über den Rücken gelaufen. Zweimal war schon die Malaria Tropicana in meinen Adern, 1997 im Kongo und dann im Sudan 2011. Warum ich überlebt habe, weiß ich nicht“. Langsam senken sich Schatten über die Fröhlichkeit des jugendlichen fast 50-Jährigen, ein gewisser Weltskeptizismus, fast Fatalismus greift Raum, als wir auf seinen bis dato größten Erfolg, Darwin’s Nightmare, der ihn weltberühmt und bis zum Oscar-Zirkus nach Los Angeles brachte, zu sprechen kommen. Das war vor zehn Jahren, Millionen Zuschauer, mehr als 400.000 Zuschauer allein in Frankreich, wo er dann auch die größten Probleme hatte. Gerichtsverhandlungen, die er alle gewonnen hat, sogar Wim Wenders als Präsident der Europäischen Filmakademie schrieb einen empathischen und enthusiastischen Brief, auch mit Hinweis auf sein Ehrendoktorat der Sorbonne, an die Richter, in dem er erklärte, was der Unterschied zwischen einem kreativen dokumentarischen Autorenfilm und einer journalistischen Reportage ist.

„Begonnen hat alles mit der Oscar-Nominierung. Hollywood ist praktisch die Antithese zu meiner Arbeit, aber von mehr als tausend internationalen Dokus wurden fünf ausgewählt, darunter Darwin. Ausgezeichnet wurde Der Marsch der Pinguine, verständlich, denn diese freundlichen Tiere passen viel besser in ein Society-Wohlfühlsystem als kapitalistische Gier und hungernde Kinder. Nur begannen sich plötzlich durch die mediale Strahlkraft viele, die gar kein Interesse an Film haben, für mich zu interessieren, internationale Waffenhändler, korrupte afrikanische Politiker, verwirrte französische Finanzberater und Teilzeitprofessoren. Die haben dann blindwütig auf mich eingeschlagen. Es wurde eine richtige Hetzkampagne mit Diffamierungen, Morddrohungen, in Tansania wurden Hunderte auf die Straße geschickt, um die Ehre des Landes zu verteidigen. Einige Menschen, die im Film vorkommen, wurden verhaftet, ihre Häuser zerstört, ich habe eine lange Liste von grauslichsten Details in meinem Kopf zu verarbeiten. Der Alptraum dauerte drei wahnsinnige, wirklich lebensbedrohliche Jahre, das war der bisher dunkelste Abschnitt meines Lebens, der mich politisch und persönlich enorm reifen ließ, nur – so eine Schule wünsche ich niemandem.“ Die Reaktionen waren höchst seltsam und bemerkenswert. Der Präsident Tansanias erklärte, Prostitution gebe es nur im Ausland, Waffenhändler und kriminelles Finanzkapital ebenso. Massendemonstrationen wurden organisiert, voran eine kleine Musikkapelle und Slogans wie „Rache an Sauper und seinen Freunden!“ Französische Touristen schrieben Briefe von ordentlich arrangierten Blumenbeeten und feuchtfröhlichen Safaris. Das ist, als würde der österreichische Bundespräsident Demonstrationen gegen Ulrich Seidl organisieren, weil dieser nicht die schöne Bergwelt zeigt, sondern das, was unter anderem in heimischen Kellern brodelt.

Mittlerweile ist Hubert Sauper ein ganzes Stück weiter in die Tiefen des afrikanischen Kontinents geflogen: „Nach Darwin brauchte ich viel Zeit zum Nachdenken, deshalb dieser Aufbruch oder Rückzug ins Burgundische, die verfallenen Häuser beleben, den Flieger bauen, um Zeit zu gewinnen, mich profund auf die Reise in eine merkantil-religiöse Hölle vorzubereiten. Das geht in einer kleinen Wohnung im Pariser Trubel nicht. Und der Sudan-Film war auch bis jetzt das inhaltlich schwierigste Projekt meines Lebens. Kapitalismus kann man auf den Computerbildschirmen der Wall Street kaum verständlich wahrnehmen, wirklich verständlich und sichtbar wird er erst vor Ort, wo das Kapital aus der Erde gegraben oder aus Seen und Meeren gefischt wird. Kolonialismus ist ein klischeehaftes, verharmlosendes Wort, doch steckt darin die ganze Kraft mächtiger Länder-Wirtschaftsinteressen, am Rande eines weltgeschichtlichen Abgrunds. Kolonialisten denken: ,Wir haben das Wissen und ihr nicht, daher bestimmen wir die Zukunft.‘ Ich aber war auf der Suche nach Menschen, die dagegen Widerstand leisten, wie jene Frau, die ,My Land‘ singt. Wenn ich diese Leute nicht gefunden hätte, ich wäre wahnsinnig geworden, umzingelt von all der Hirnlosigkeit und Zerstörung. Ich würde auch gern etwas als Erster entdecken, aber nicht wie James Cook, einer der schlimmsten Eroberer und Mörder, der für die englische Königin Australien entdeckte und – fast – eigenhändig hunderttausend Aborigines tötete. Manchmal habe ich mich gefragt, was tu ich eigentlich da in Afrika? Wie mit den texanischen Missionaren: Alle haben gedacht, ich sei auch einer, da war ich echt verzweifelt, die haben den ,Wilden‘ weiße Socken gebracht. Und ich? Ich kann nicht sagen, ich bin kein Missionar, habe nur die gleiche Hautfarbe, ich bin der liebe Hubert und auf eurer Seite.“

Seit der Uraufführung von We Come As Friends zu Beginn des Jahres beim von Robert Redford gegründeten Sundance Festival in Park City, Utah, ist Hubert Sauper endgültig weltberühmt, mit Preisen überhäuft und gelobt, wie etwa von Ruby Rich in „Film Quarterly“: „Sauper reflektiert die Kolonisation Afrikas von Queen Victorias Eisenbahnlinie quer durch den Kontinent bis zu George W. Bush, der einen südsudanesischen Politiker mit einem Cowboyhut krönt. Sauper fliegt vom Himmel wie ein verrückter Engel, aber seine pure Anwesenheit ist entwaffnend. Er beschreibt eine Welt im Werden, seine Kamera und sein Flugzeug sind viel mehr als Spielzeuge, er baut an einem erschreckenden Archiv für die Zukunft, das Bildmaterial in Tränen getaucht.“

Bei der Viennale 2014 erhielt Sauper nach Darwin’s Nightmare bereits zum zweiten Mal den Wiener Filmpreis. Nur Ulrich Seidl hat diesen Preis bisher dreimal erhalten. Sportreporter würden schreiben, jetzt sei er in der obersten Liga angekommen. Hubert Sauper reagiert ganz gelassen: „Die Preise von Sundance über Berlin bis Wien sind alle sehr erfreulich, aber am meisten freue ich mich, wenn der Film durch den hellen Wahnsinn, den er beschreibt, möglichst viele Menschen sinnlich und intellektuell aufrüttelt.“

Michael Glawogger schrieb kurz vor seinem Tod in sein Tagebuch, er fürchte sich vor Afrika. Hat Hubert Sauper das Fürchten gelernt? „Das Fürchten hab ich erst im Nachhinein gelernt. Als ich all die uniformierten, von Machtgier und religiösen Dogmen besessenen Wahnsinnigen am Schneidetisch wieder gesehen habe. Die können einem ordentlich Angst machen.“

Vor kurzem klagte eine Freundin, dass Hubert Sauper nicht zu fassen sei. Ich sagte ihr: „Er ist ein Schmetterling, freu Dich doch an seinem Fliegen.“