Zum ersten Mal seit fast einem Jahr durften die New Yorker Kinos wieder ihre Leinwände bespielen. Das macht Mut auf eine Weise wie es ein Fernseher nicht kann.
Vor 367 Tagen war ich zum letzten Mal im Kino, im AMC Lincoln Square gegenüber von der New Yorker Oper. Der Film war der Horrorfilm The Hunt. Er war nicht besonders gut. Es ging um ein paar republikanische Rednecks, die von einer liberalen Elite gelyncht werden. Es war sicherlich nicht der Film, den ich gewählt hätte, hätte ich gewusst, dass es der letzte sein würde, den ich für eine ungewisse Zeit auf einer großen Leinwand sehen würde.
Ich habe damals lange überlegt, ob ich überhaupt zur Pressevorführung gehen soll, aber die Menschen wurden damals noch ermutigt, ihr Leben zu leben. Das Kino war immer noch das Kino, einer der wenigen Orte auf der Welt, an denen man sich verlieren konnte, eine dunkle Höhle, wo man Textnachrichten und E-Mails einige Stunden lang getrost ignorieren durfte; wo es zum schlechten Ton gehörte, ständig die Nase im Handy zu haben. Für ein paar Stunden war man von den Problemen der Außenwelt abgelenkt. Und dann war es weg.
Seit einer Woche, zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie im März vergangenen Jahres, dürfen die New Yorker wieder in die Kinos gehen. Viele Leinwände sind dunkel geblieben, weil es für Betreiber rentabler ist, geschlossen zu bleiben, als für 25 Prozent Sitzplatzbelegung die Projektoren anzuschmeißen, aber das Angelika Film Center im unteren Bauch von Manhattan hat seine metallene Markise wieder hochgerollt.
Das Café, das die gesamte erste Etage einnimmt, würde an einem gewöhnlichen Freitagabend nur so von Filmneugierigen wimmeln. Jetzt ist die Lobby unheimlich leer. Es riecht nach Popcorn und Butter, aber an der glänzenden Glaskasse sitzt niemand am späten Nachmittag. Tickets muss man online kaufen. An jeder Ecke stehen Desinfektionsstationen. Alle Besucher müssen Mund- und Nasenschutz tragen und auf zugewiesenen Plätzen sitzen. Einige Sitze sind mit Schildern markiert: „social distancing“. Eine Kapazität von nur 25 Prozent oder höchstens 50 Personen pro Leinwand sind vom Gesetz her erlaubt.
Im Kinosaal sitzt fünfzehn Minuten vor der Vorstellung von The Father, dem neuen Drama mit Anthony Hopkins, noch niemand. Langsam tröpfeln still und heimlich Menschen von der Straße herein, aber der große Ansturm bleibt aus. Mehr als elf Seelen werden es nicht. Das könnte an dem deprimierenden Thema (ein Mann verliert sich im Dunst von Alzheimer) liegen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Menschen seit fast einem Jahr Filme von ihrer Couch aus schauen und verständlicherweise Angst haben, sich mit dem Virus anzustecken. Vor Beginn des Films murmelt eine junge Dame hinter zwei Masken und einem Gesichtsschutzschild etwas von „Welcome back to movie magic“ und liest dann noch ein neues Sicherheitsprotokoll vor. Jemand hat einen Hustenanfall. Ein Gast wechselt die Reihe. Vielleicht hätte man doch besser zu Hause bleiben sollen?
Aber dann geschieht etwas. Die Lichter gehen aus. Die Person, die drei Reihen weiter sitzt, schaltet ihr Handy aus. Eine Nachzüglerin huscht zu ihrem Platz. Es gibt einen Moment zu Beginn eines Films in einem abgedunkelten Kino, mit dem das Drücken von Play zu Hause einfach nicht mithalten kann.
Wir sind noch weit entfernt von guter, alter Filmmagie im Kino, aber die Wiedereröffnung in New York City ist ein Lichtblick für Kinobesitzer, deren Geschäft durch den kompletten Stillstand zerstört wurde. AMC Theatres, die größte Kinokette in den USA, konnte im Januar noch einmal die Pleite umgehen. Bei kleineren Unternehmen wie der Kette Alamo Drafthouse (die vergangene Woche Insolvenz anmelden musste) war das Herunterfahren besonders bitter. „Wenn wir nach dieser beispiellosen und unbestimmten Pause wieder öffnen, wird es in einer dramatisch veränderten Welt und in einer Branche sein, die bis ins Mark erschüttert ist“, stand auf der Website im März letzten Jahres.
Und die Welt hat sich durchaus verändert in Abwesenheit der Kinos – und damit auch die Art und Weise, wie wir Filme schauen. Große Hollywood-Studios haben ihre Blockbuster-Starts verschoben oder geben sie direkt für das Streaming frei. Das war bis dato unvorstellbar. Wir haben das Glück, in einer Zeit zu leben, in der Tausende von Filmen auf Knopfdruck auf unseren Fernsehern und Computern verfügbar sind. Und sicher, es ist schön, in der Lage zu sein, eine Pause einzulegen und aufs Klo zu rennen. Trotzdem gibt es einige Dinge, die das Heimkino nicht replizieren kann, einschließlich einiger Aspekte des Kinobesuchs, die diese Autorin bis Anfang März vergangenen Jahres für selbstverständlich hielt: sich in einer Leinwand verlieren; ein Klang, der nicht aus einem Laptop kommt, sondern den ganzen Raum ausfüllt; einfach mal das Handy für einige Stunden bei Seite legen; das Knistern von Popcorn ein paar Reihen weiter und sogar das laute Rumpeln der New Yorker U-Bahn, über das sich sonst alle mokieren.