Der Reiz von True Crime ist unerschöpflich. Wie passend, dass Streaming-Gigant Netflix zur Ergänzung seines ohnehin schon beträchtlichen Portfolios rund um wahre Verbrechen auch noch den ehrwürdigen Genre-Veteranen „Unsolved Mysteries“ aus dem Hut zaubert – und dabei sogar das Publikum um Hilfe bittet.
Geheimnisse ziehen Menschen nahezu magisch an, je düsterer, desto besser. Denn vom Sofa aus lassen sich auch die schaurigsten Szenen gefahrlos genießen. Dieser Umstand verschafft dem Genre True Crime einen besonderen Faktor. Die Bezeichnung „Basierend auf wahren Begebenheiten“ ist hier weit untertrieben – was gezeigt wird, ist wirklich passiert. Echten Menschen, die die eigenen Freunde, Nachbarn, Kollegen sein könnten. Oder man selbst.
Im Juli 2020 veröffentlichte Netflix Unsolved Mysteries. Das Team um Stranger Things-Produzent Shawn Levy und Josh Barry (Books of Blood) widmet sich darin in sechs Folgen je einem Kriminalfall, der mit Hilfe der Angehörigen, damals beteiligten ErmittlerInnen oder JournalistInnen im Dokumentar-Stil ausführlich beleuchtet wird – mit Zugriff auf Originalmaterial und neuen Aufnahmen der Schauplätze. Da wäre der angebliche Selbstmord von Rey Rivera, den die Familie noch immer nicht glauben kann. Zwei Frauen, Patrice Endres und Lena Chapin, wurden mitten aus dem Leben gerissen – eine von ihnen blieb verschwunden. Kann es sein, dass Xavier Dupont de Ligonnès seine eigene Erblinie ausgelöscht hat? Im Fall von Alonzo Brooks deutet vieles auf einen Mord hin. Die Akte wurde dennoch geschlossen. Und schließlich geht es sogar um UFO-Sichtungen in der Gegend von Berkshire County im Jahre 1969. Die verschiedensten Ereignisse finden ihren Platz in diesem düsteren Sextett. Sie alle eint eines: Die Umstände der vorgestellten Schicksale wurden bis heute nicht geklärt. Wer Informationen hat, soll sich melden. Bei den ermittelnden Behörden oder direkt auf der Website zur Sendung.
Den vollständigen Artikel lesen Sie in unserer Printausgabe 04/2021
Gemeinsam gegen das Verbrechen. Dieser Ansatz ist nicht neu. Es gibt Formate, die dem heutigen True-Crime-Hype voraus waren – aus ganz logischen Gründen. Im deutschsprachigen Raum ist Aktenzeichen XY… ungelöst wahres Kultprogramm. Die Sendung des ZDF gibt es seit 1967, und sie erscheint auch heute noch zwölfmal im Jahr. Darin werden dem Publikum ungelöste Straftaten vorgestellt, bei denen man hofft, Hinweise aus der Bevölkerung könnten zur Klärung führen. Das kann gelingen: Laut dem ZDF wurden von 1967 bis 2020 ganze 1917 der ausgestrahlten Delikte aufgeklärt – eine Quote von 39,9 Prozent. Und auch Österreich fand mit bisher 477 Fällen seinen Platz in der Fernsehserie. Einer der berühmtesten war dabei der des Briefbombenattentäters Franz Fuchs.
1987/88 erblickte in Amerika ein vergleichbares Produkt das Licht der TV-Welt: Unsolved Mysteries. Nicht nur der Name ist identisch: Tatsächlich ist die erste Folge der Netflix-Serie genau genommen Folge 582 des Formats! Was in den achtziger Jahren als siebenteiliges Special begann, war so erfolgreich, dass danach in 15 Staffeln mysteriöse Geschehnisse vorgestellt wurden, von der Suche nach Vermissten über Gefängnisausbrüche bis hin zu Morden und paranormalen Ereignissen. Nicht selten kam es in folgenden Episoden zu Updates: Täter wurden gefasst, Verschwundene tauchten wieder auf. Und ein Mysterium war gelöst.
Wer die Fälle online nachschaut – anders als in der Neuauflage gab es im Original pro Folge mehrere Taten – wird dabei auf gefürchtete Namen wie Son of Sam oder Billy the Kid stoßen. Oder auch auf bekannte Orte wie die Queen Mary 2, auf der es angeblich spuken soll. Die Moderation prägte bis 2002 Schauspieler Robert Stack (Written on the Wind, The Untouchables), dessen Silhouette als Hommage das Ende des neuen Intros schmückt. Nach seinem Tod ein Jahr später übernahm 2008 Dennis Farina, ebenfalls Schauspieler (Law and Order), diese Aufgabe für weitere 175 Episoden.
Der Moderator bewegte sich im Original zwischen Beweismaterial und nachgestellten Szenen durch verschiedene Kulissen und sprach dabei mit dem Publikum. Was ist geschehen? Können Sie uns helfen? Auch damals wurde bereits ein großer Fokus auf die Interviews gelegt. Klassisch, könnte man sagen. Zusammenfassend funktionieren True Crime-Formate aber noch immer nach diesem Prinzip.
Von 1988 bis 2021 hat sich selbstverständlich einiges geändert. Die Rolle des Moderators übernimmt mittlerweile das szenische Erzählen. Die Animationen sind flüssiger, die Mittel größer. Dass nach Jahren eine Exhumierung vorgenommen werden kann, bei der die Kamera live dabei ist, oder mit einem Detektor der Platz eines vermuteten Mordes untersucht wird, kann am Geldbeutel des finanzstarken Medienunternehmens liegen. Und das legte noch im selben Jahr mit sechs neuen Folgen von Unsolved Mysteries nach. Weitere unglaubwürdige Selbstmorde wurden rekonstruiert – JoAnn Romains Familie möchte noch immer beweisen, dass sie ermordet wurde. Bei der mysteriösen „Jennifer Fairgate“ reichen die Theorien bis hin zu Geheimdiensten. Man fahndet nach dem vor Jahren entlaufenen Häftling Lester Eubanks und beobachtet den Weg des scheinbar desillusionierten John P. Wheeler III, der tot auf einem Müllplatz aufgefunden wurde. Vermisste Kinder und Geister nach der Tsunami-Katastrophe in Japan komplettieren die zwölf neu aufgelegten Folgen des Serienhits.
Netflix beweist schon seit Jahren, dass es True-Crime-Dokumentationen umsetzen kann. Auch wenn der Aufbau der Serien sehr ähnlich ist und die Zuschauerinnen und Zuschauer wissen, was auf sie zukommt – es funktioniert. Gewappnet mit dieser Schablone und einem so großen Namen wie Unsolved Mysteries ist es, so ehrlich muss man sein, nahezu ein Selbstgänger. Aber eben einer, der hohe Aufrufzahlen beschert.
Der größte Unterschied zu damals ist, dass die Fälle nun ausführlicher erzählt werden. Wer mehr Geduld aufbringen kann als für die blitzlichtartigen Vorstellungen von damals, erhält dafür auch weitreichendere Details und bekommt die gewünschte Spannung geboten. Auch abseits des Bildschirms: Der Fall des verschwundenen Alonzo Brooks wird nach neuen Hinweisen vom FBI wieder untersucht. Seine Leiche wurde im vergangenen Juli exhumiert. Netflix stellte kurz darauf auch erweitertes Material zur Selbstrecherche über Google Drive zur Verfügung. So ist Unsolved Mysteries neben der soliden Fortführung des Netflix-True-Crime-Konzepts vor allem eine Einladung zum Detektivspielen, die sicher eine Fortsetzung haben wird.