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Tsai Ming-Liang

Tsai Ming-Liang | Interview

Reminiszenzen an das Kino

| Ella Raidel |
Die Wiener Festwochen widmen dem herausragenden taiwanesischen Filmemacher und Künstler Tsai Ming-Liang eine Personale.

Als Tsai Ming-Liang letztes Jahr für Stray Dogs (2013) den Großen Preis der Jury beim Filmfestival von Venedig erhielt, verkündete er, dies sei nun sein letzter Film, er werde sich vom Kino und seinen schwierigen Produktionsbedingungen verabschieden. Seither tauchen auf verschiedensten Film- und Theaterfestivals weltweit Arbeiten auf, die sich zwar der erzählerischen Eigenschaft des Kinos entziehen, sich dafür umso mehr auf seine Quintessenz, d.h. auf Mise en Scène, Kadrierung und Bildkomposition verdichten. Tsai entwi-ckelt zunehmend einen Werkkomplex, der mit den Mitteln des Kinos, aber außerhalb seines institutionellen Rahmens arbeitet und in Form von Film-/Videoinstallationen in Galerien und Museen sowie als Theaterarbeiten gezeigt wird.

Tsai steht im Mai und Juni im Mittelpunkt einer Personale der Wiener Festwochen. In der Passagengalerie wird der Kurzfilm It’s a Dream (2007) als Videoinstallation zu sehen sein, das Stadtkino im Künstlerhaus zeigt eine Retrospektive seines filmischen Werks – von den vergleichsweise „konventionellen“ Anfängen mit Rebels of a Neon God (1992) bis zu Stray Dogs. Die Kurzfilme der Reihe Walker werden an unterschiedlichen Orten als Installationen zu sehen sein. Vervollständigt wird das Programm durch einen Theaterabend im Semperdepot, bei dem „Der Mönch aus der Tang-Dynastie“ aufgeführt wird.

The Long Take

Tsai Ming-Liang wurde 1957 in Malaysia geboren und lebt in Taiwan. Er erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, darunter den Goldenen Löwen für Vive l’Amour (1994) oder den Silbernen Bären für The River (1997). Kürzlich bekam er in Taipei den Golden Horse Award (2014) als bester Regisseur, sein Schauspieler Lee Kang-sheng wurde als bester Darsteller ausgezeichnet. Als Gesamtwerk folgen Tsais Filme einer inneren Logik; es gibt immer wiederkehrende Motive und stilistische Elemente, und sie ergeben eine fragmentarisch zusammenhängende große Erzählung. In seinen Filmen setzt er stets Referenzen an das Kino selbst, bedient sich verschiedener Genres (wie des Musicalfilms in The River) oder lässt Stars aus der Nouvelle Vague (Jean-Pierre Léaud) oder dem chinesischen Schwertkampffilm auftreten. Sein Drehort ist vorzugsweise Taipei, das er unter Dauerregen setzt, was den Filmen einen morbiden Endzeitcharakter verleiht, dem er aber stets mit den Mitteln des Humors und Slapsticks entgegenwirkt.

Tsai Ming-Liang zelebriert seinen langsamen Abschied in einer Reihe von Werken, um dem Kino seine vorerst letzte Ehre zu erweisen. Seine filmischen Tableaus sind Meisterwerke der Kadrierung und Bildkomposition, seine Schauspieler verkörpern im Sinne Bressons „Modelle“, die wie aus dem Leben genommen und nur „sie selbst“ sind. Sein Darsteller Lee Kang-sheng, mit dem er seit seinen Anfängen vor über 20 Jahren arbeitet, verkörpert stets die Rolle des Drifters und gesellschaftlichen Außenseiters. Immer wieder weist Tsai ihm Tätigkeiten zu, die aus dem Umfeld des Kinos stammen, z.B. als Filmvorführer, als Darsteller einer Leiche, als Verkäufer illegaler DVDs oder als überforderter Regisseur in Paris. Lee Kang-sheng, quasi Tsais Ebenbild, spielt seine Rollen nicht, sondern er verkörpert sie und verleiht durch seine Sprödigkeit den Filmen ihren Charakter.

Die Filme gleichen Zeitskulpturen, die sich jeder herkömmlichen Form von Handlung entziehen und so gut wie ohne Dialoge auskommen. „The Long Take“, der langen Einstellung, die so etwas wie sein Markenzeichen ist, macht Tsai alle Ehre, wenn die letzte Einstellung in Stray Dogs vierzehn Minuten lang anhält. Auch in früheren Filmen dauerten die Einstellungen genauso lang, wie es im wirklichen Leben dauert, um zu essen, zu pinkeln oder zu rauchen. In seinen neuen Arbeiten radikalisiert er die Länge der Einstellungen um ein Vielfaches, wodurch er den Realitäts-effekt verstärkt und die Leinwand zu einer Verlängerung der Wirklichkeit macht. Tsai Ming-Liangs Bilderwelten dienen zur Schärfung der Sinne, die cineastische Wirklichkeit ist von dokumentarischen, aber präzise durchkomponierten Bildern und Tönen durchdrungen. Weil die Einstellungen zehn Minuten und länger andauern, kann Zeit und Raum für das Kino im Kopf entstehen. Die Filme wirken wie Zen-Meditationen über das Kino.

In Walker, der seit 2012 entstandenden sechsteiligen Reihe filmischer Arbeiten mit den Titeln No Form, Walker, Sleepwalk, Diamond Sutra, Walking on Water und Xi you (Journey to the West), tritt Lee Kang-sheng als Mönch auf und durchschreitet in kontemplativer Langsamkeit Szenen und Orte in Europa und Asien. Dem Mönch dienen diese Orte als Passagen für die Durchdringung der Zeit. Er entzieht sich der Außenwelt und begibt sich auf eine Reise in sich selbst. Der bei der Berlinale erstmals präsentierte Teil Xi you (Journey to the West, 2014) schöpft aus dem gleichnamigen Klassiker der chinesischen Literatur aus der Ming Dynastie, der eine Reise zum westlichen Himmel beschreibt, um die Lehren des Buddhismus zu erforschen. Bei Tsai ist es eine visuelle Reise in wenigen ausgewählten Einstellungen, die ohne Handlung und ohne Worte auskommen. Seine Bilder entbehren dabei nicht einer gewissen Ironie, wenn sich zum Beispiel in Journey to the West der französische Schauspieler Denis Lavant an die Fersen des Mönches heftet und ihm in seinen langsamen Bewegungen gleichgeschaltet ist. Während sich die beiden synchronisiert fast unmerklich fortbewegen, sorgt das Leben auf der Straße auch ohne Regieanweisungen für den Plot.

In einer der längsten Szenen des 54-minütigen Films durchschreitet der Mönch im vom Staub flirrenden Gegenlicht eine Fußgängerpassage. Dem Strom der Passanten, der Betriebsamkeit des Lebens ist die Langsamkeit und auch die Fremdheit des Mönchs diametral entgegengesetzt. Immer wieder dauern die Einstellungen so lang, bis der Mönch mit seiner grell rot-orange-farbigen Kleidung die Szene bzw. das Bild betritt und es wieder verlässt, sich oftmals aus den äußersten Bildkanten herausschält oder als Spiegelung in den glänzenden Oberflächen der Neubauten in Marseille, in Spiegeln der Wohnungen oder bei vorbeifahrenden Fahrzeugen erscheint. Journey to the West extrahiert sich aus einer größeren zusammenhängenden Erzählung und Bildgeschichte bei Tsai Ming-Liang. Er bezeichnet sein Werk als einen langen Film, der ein sich wiederholendes Ritornell der Erzählung bedient, um die filmische Realität zu intensivieren. Das Kino dient ihm dabei als Material und Archiv, aus dem er seine Erfahrungen und Erinnerungen schöpft.

Der Traum, das Kino

Tsai wurde als Sohn chinesischer Immigranten in Malaysia geboren und wuchs gewissermaßen mit der Nostalgie des Exils, der Sehnsucht nach einer vergangenen Zeit auf. Als eine seiner stärksten Impressionen aus seiner Kindheit nennt er immer wieder das Kino, das er als Kind mit seinen Großeltern, bei denen er aufwuchs, mehrmals wöchentlich besuchte. Kino bedeutet seine emotionale Heimat, den Ort, an dem sich seine Familie und die Protagonisten seiner Filme versammeln, und wo es immer eine Projektion aus einer anderen Welt gibt.

Als Reminiszenz an seine Kindheitserlebnisse entstand die Arbeit It’s a Dream (2007), ursprünglich eine Auftragsarbeit zum 60. Geburtstag des Filmfestivals in Cannes, aus der er später eine 20-minütige Filminstallation entwickelte. In der Installation nimmt man Platz in den zerschlissenen Kinosesseln aus Malaysia, wo auch der Film gedreht wurde. Man blickt in einen leeren, heruntergekommenen Kinosaal, und die Protagonisten starren zurück. Anwesend sind Tsais Familie, seine leibliche Mutter, sein Schauspieler Lee Kang-sheng in der Rolle seines Vaters, ein Kind und das Porträt einer verstorbenen Frau, stellvertretend für seine Großmutter. Sie scheinen nicht nur wegen der Filme ins Kino gekommen zu sein, sondern sie richten sich dort häuslich ein und zünden eine Petroleumlampe an. Der Vater raucht, sie knacken große tropische Früchte und blicken gebannt in Richtung Leinwand. Es läuft jedoch kein Film. Aus dem Off erzählt Tsai Ming-Liang, dass das Kino seiner Träume schon lange nicht mehr existiere, dass es aber seine große Sehnsucht darstelle. Am Ende ertönt ein Lied, das von einer romantischen Mondnacht erzählt und in dem die Sängerin Li Xianglan fragt: „Is it a dream or reality?“

Traum und Realität sind in Tsais Kino keine Gegensätze, sondern an das Kino gebundene, sich ergänzende Qualitäten. In Stray Dogs erscheinen seine Protagonisten wie Geister aus seinen früheren Filmen. Sie halten sich an Drehorten auf, an denen schon The River oder der Kurzfilm Moonlight on the River (2003) gedreht worden waren. Die Charaktere nehmen ihre filmischen Rollen ein als Mutter, Vater, Sohn und bewegen sich auf vagem, desolatem Terrain, das sowohl aus der Gegenwart als auch aus der Vergangenheit stammen könnte. Als Lu Yi-ching in der Rolle der Mutter einige streunende Hunde füttert, gibt sie dem Anführer des Rudels den Namen „Lee Teng-hui“ – ehemaliger Präsident (1988–2000) und Schlüsselfigur für Taiwans Demokratie. Es wird nicht an politischer Konnotation gespart, wenn zum Beispiel der obdachlose Lee Kang-sheng in seinem gelben Regenmantel ein Werbeschild für luxuriöse Villen hält und dabei ein Propagandalied der Kuomintang-Partei rezitiert, das die Rückgabe der Heimat (des Festlandes) fordert.

Stray Dogs kann als politische Allegorie für Taiwans politischen Status als nicht anerkannte Nation verstanden werden. Über das geopolitische Kräftespiel hinaus begeben sich die Protagonis-tinnen und Protagonisten auf eine innere Reise und eine Suche nach einem Ort, der Heimat bedeutet könnte.

Zurück zur Stille

Tsai Ming-Liang im Gespräch

Derzeit gibt es in Taipei immer wieder Studentenunruhen. Die Studenten haben das Parlament besetzt, um das von der Regierung eilig durchgepeitschte Freihandelsabkommen mit China zu verhindern. In der Folge haben 500.000 Menschen auf den Straßen für den Erhalt der Demokratie demonstriert – die größte soziale Bewegung, die es in Taiwan seit der Demokratisierung vor über 20 Jahren gab. Was denken Sie über die Studentenbewegung?
Tsai Ming-Liang: Ich schätze diese Studentenbewegung und ihre ideellen Werte wirklich sehr. Alles, was heute zählt, sind doch nur das Geld und die Wirtschaft. Die Studenten haben genug davon und kommen nun aus ihrer Resignation heraus. Es ist doch meistens so, dass die Werte der Mehrheit falsch sind. Der Glaube, dass die Mehrheit Recht hat, ist ebenso falsch. Es ist genau umgekehrt, die Minderheit hat Recht! Alle setzen auf Fortschritt, wie Präsident Ma behauptet. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als den Dienstleistungsvertrag mit China zu unterzeichnen, ansonsten sind wir im Rückschritt, behauptet er. Die Hauptfrage bleibt: Müssen wir uns an die Werte der Mehrheit anpassen? Ist es nicht ironisch, dass jeder das Geld will, die Macht – und wer will den Rest? In diesem Sinn ist der Präsident auch nur das Resultat eines Systems. Deshalb mag ich diese Studenten gerne, weil sie sich nicht wohl fühlen mit den Mainstream-Werten.
Mit der Filmindustrie geht es mir übrigens genauso, ich verweigere mich dem ganzen Kino-Zirkus. Dem Kanon der Industrie zu folgen, ist einfach furchtbar. Und man kann sich ja vorstellen, in welche Zukunft sie uns leiten wollen. Möglicherweise fällt man darauf rein, weil man ja auch nur an sein eigenes Glück denkt. Man muss sein Leben selbst gestalten, das kann nicht der Staat oder sonst wer für einen machen.

Wie machen Sie Ihre Filme, welches Konzept verfolgen Sie? Welche Geschichte erzählen Sie?
Tsai Ming-Liang: Meine Methode, einen Film zu machen, ist, alle Elemente des Kinos wegzulassen: die Story, den Plot und die Schauspieler. Was bleibt, ist nur das Bild. In meinen neuen Arbeiten zeige ich nur Xiao Kang (= Lee Kang-sheng) gehend und die Perspektive, aus der ich ihn sehe. Geschulte Zuseher mögen einen Weg finden, diese Filme zu genießen, aber die meisten im Publikum können das nicht. Es gibt überhaupt nur eine ganz kleine Gruppe von Leuten in China oder Taiwan, die meine Filme schätzen. Ein Pub­likum zu erziehen, ist schwer – als Faustregel gilt: „Deine Mutter bleibt deine Mutter“, das heißt, man kann sie nicht belehren, und sie will das auch nicht. Das Publikum kann man im Kino nicht erziehen, im Museum ist das schon eher möglich. Es ist so wie in der Malerei, da braucht man auch nicht unbedingt eine Geschichte. Das ist es, was ich dem Kino geben möchte. Keine Geschichten mehr, nur mehr das Bild per se: so wie das Licht in den Filmen Kurosawas, die Großaufnahmen bei Dreyer, die die Wahrheit an sich zeigen. Ich habe eine Methode, Filme zu machen und dabei Mise en Scène, Montage und alles, was man nach dem Dogma der Filmindustrie lernt, loszuwerden. Alles in der Filmindustrie läuft nach einer einzigen Formel ab, nach einem Standardprozess. Wie kann da etwas Außergewöhnliches entstehen? Durch die Industrie wird das Publikum zu Zwangskonsumenten, die keine Bedeutung suchen, sondern nur schockierende Erfahrungen in Nennwert. Die einzige Möglichkeit, die wir haben, über Filme zu sprechen, ist, unser standardisiertes Wissen auszutauschen, weil wir dieselben Plattformen verwenden. Das ist Gedankenkontrolle, das sind die Attribute der Zeit, in der wir leben. Der Krieg, der in unseren Gehirnen jeden Moment stattfindet, ist furchterregend.
In den meisten amerikanischen oder europäischen Filmen gibt es keine Qualität des Bildes mehr. Man kümmert sich nur um die Protagonisten, den Plot, die Geschichte, und ob man sich damit identifizieren kann. Das ist alles, womit man sich beschäftigt. Es gibt so viele Filme im Westen, die um so viel schneller sind als unsere aus dem Osten, mit ein paar Ausnahmen. Meine Filme erzeugen eine Langsamkeit, um den Stand der Zivilisation aufzuzeigen.

Wie schwierig ist es, sich gegen den Mainstream zu stellen?
Tsai Ming-Liang: Wenn man sich gegen die Mehrheit stellt, ist man sein wahres Selbst. Das ist schwierig. Meine Filme reflektieren das, natürlich zeigen sich auch andere Aspekte, der Aberglaube, der diesem Gedanken anhaftet, das Paranoide. Menschen sind fragil, und es ist wichtig, sich selbst zu finden, sich gegen die Mehrheit zu stellen, so wie Xiao Kang, der sich weigerte, die Aufnahmeprüfung ans College zu machen. Es ist verdammt schwierig, anders zu sein als die anderen. Es gibt Zeiten, da sagen einem die Leute, was zu tun ist, oder man zensuriert sich selbst, und das erzeugt Schuldgefühle. Religion, vor allem der Buddhismus, macht stark und gibt dir Freiheit. Wenn ich meine Arbeit abgeschlossen habe, bekomme ich meine Antwort und fühle mich großartig, weil ich weiß, ich bin frei!

Journey to the West konnte man bei der Berlinale im IMAX-Kino, also auf einer riesigen Leinwand sehen. Sie präsentieren Ihre Arbeit aber auch im Museum, und in den letzten Tagen war der Film sogar im Internet frei zugänglich zu sehen. Das sind ja ganz unterschiedliche Bildkonzepte. Wie kommt es zu dieser Entscheidung?
Tsai Ming-Liang: Journey to the West wurde von Arte France mitfinanziert, und sie haben die Vorführungsrechte. Der Film hatte Premiere in einem Pariser Kino, lief dann im Fernsehen und wurde dann ein paar Tage lang ins Internet gestellt. Da bin ich auf eine seltsame Sache gestoßen. Ich habe entdeckt, dass ein „Fan“ von mir den Film auf eine Minute gekürzt hat. Das ist unglaublich, er hat sogar Musik darüber gelegt und ist noch ganz stolz auf sich. Das ist traurig für mich, weil er denkt, der Film sei zu langsam, daher lässt er ihn einfach mal schneller abspielen. Er hat das nicht für sich selbst gemacht, sondern um ihn für andere aufzubereiten und ihn via Internet um die ganze Welt zu verteilen. Ich kann da gar nichts machen, weil der Typ in China sitzt. China, was für eine schreckliche Welt! (Lacht.) Es gibt da ganz schreckliche Internet-User. Dabei gibt er vor, ein Fan von mir zu sein! Ich denke wirklich, dass der Typ keinen Stil hat, es fehlt ihm an Urteilskraft, er hat keinen Respekt und glaubt, im Recht zu sein. Das ist das Syndrom für das Chaos in der Welt. Wir arbeiten so hart für die Freiheit der Kunst, und dann kommt dieser Typ daher, zerstört alles, um seine Wertvorstellung zu befriedigen.

Können Sie uns mehr über das Konzept des Mönchs in Ihren neuen Arbeiten erzählen? Wofür steht der Mönch?
Tsai Ming-Liang: Die drei Personen, die mich am meisten beeinflusst haben, sind mein Vater, Xiao Kang und der Mönch Xuanzang aus dem 7. Jahrhundert. Im Unterschied zu den ersten beiden ist Xuanzang erst spät in mein Leben getreten, und zwar durch den religiösen Klassiker „Die Biografie eines Mönchs“. Diese Geschichte hat mich wirklich berührt: Dieser Mönch ging durch die Wüste und über die Berge nach Indien, um die originalen buddhistischen Sutras zu finden und sie ins Chinesische zu übersetzen, und er kam zurück, um uns alle durch die Weisheit Buddhas zu retten. Das ist der Grund dafür, dass ich diesen großen Geist bewundere, den Ausdruck seiner Individualität. Er hat das alles ganz allein gemacht, verantwortlich für sich selbst, sein Leben und seinen Tod. Xuanzang gibt mir viel Inspiration, und in dem Theaterstück verkörpert Xiao Kang diese drei Rollen, sich selbst, meinen Vater und Xuanzang. Während einer Probe brachte mich Xiao Kang auf die Idee, diese Rollen durch langsames Gehen darzustellen. Er ging 17 Minuten lang ganz langsam, und ich war so berührt, das Bild war so umwerfend, dass ich fast weinen musste. Diese Erfahrung deckt sich genau mit meiner Konzeption von Theater. Das Broadway-Theater, zum Beispiel, ist viel zu laut und entspricht ja nur dem Geschmack der Mehrheit. Ich dachte, ich gebe dem Theater das, was ihm fehlt. Das ist natürlich nicht das, was sich der Großteil des Publikums wünscht. Woran es in der jetzigen Zeit fehlt, ist Stille. Zurück zur Stille ist der wichtigste Aspekt des zeitgenössischen Theaters – keine Performance, keine Bühne, und das Theater in möglichst minimalem Rahmen halten.
Auch in Journey to the West geht es nicht um die Mehrheit, sondern um das Individuum. Schon vor langer Zeit zogen sich Laozi und Zhuangzi in die Einsamkeit zurück, um nach ihrem Glück und nach der Wahrheit zu suchen. Die Wahrheit gehört nicht der Mehrheit, sondern basiert auf dem Individuum. Es sendet ein Zeichen der Rebellion. Der Gehende, Xuanzang, also der Mönch, hat auch einen rebellischen Geist, deshalb wollte er allein nach Indien pilgern, ungeachtet der schwierigen Umstände, die körperliche und psychische Distanz zu überwinden, um an die Sutras zu gelangen. Ich bin überzeugt, dass Xuanzang ein Symbol für den Kampf gegen die heutigen Werte der Mehrheit ist.

Was bedeutet Religion für Sie?
Tsai Ming-Liang: Als ich in Malaysia lebte, machte ich verschiedene Erfahrungen mit unterschiedlichen Religionen, und ich fand sie alle schön. Man sollte keinen Unterschied zwischen den Religionen machen. Religion kann sehr komplex sein. Ich glaube, das Kost-barste am Buddhismus ist die Freiheit. Buddha sitzt unter einem Baum und denkt über die Welt nach. Die Freiheit aus sich heraus ist es, was diese Religion bietet. Es ist ganz so wie im Louvre. Alles was ich in diesen Kunstwerken sehe, ist der Aufschrei, der Kampf, den der Mensch mit sich selbst hat. Sich zu emanzipieren, bedeutet nicht, all sein Verlangen zu entfesseln, sondern einen Zustand der Gleichberechtigung zwischen dem Einen und dem Anderen auf gleicher Ebene zu erlangen. Alles in dieser Welt ist im Fluss vom Einen zum Anderen. Hunden oder sogar Blumen wird die gleiche Wertschätzung entgegengebracht, weil sie alle vergängliche Lebewesen sind. Es ist das Schwierigste, sich selbst aufzugeben, das hat uns der Buddhismus gelehrt. Ich habe mich selbst noch nicht komplett aufgegeben, ich versuche es aber ständig und bin mir auch dessen bewusst.

In Stray Dogs hält der obdachlose Xiao Kang eine Werbetafel für Luxusvillen in der Hand und rezitiert einen Propagandasong der Kuomintang, der die Rückgabe des Heimatlandes fordert. Er ist ohne Land, Familie oder Staat. Um welche Art der Obdachlosigkeit geht es da?
Tsai Ming-Liang: Eine Nation zu verteidigen, so wie es in dem Propagandalied gefordert wird, oder eine Familie wie Xiao Kang im Film, das ist ziemlich das Gleiche. Die Bedeutung der Familie hat sich geändert. Vor allem im Osten war die Macht jeweils an die Familienstruktur gekoppelt und die Gesellschaft ein intersubjektives Netzwerk. Heutzutage ist die Bedeutung der Familie im Osten zerstört durch die Urbanität und den Staat. Es ist alles im Zustand der Veränderung: das Verhältnis zwischen Mann und Frau, männlich und weiblich, und so weiter. Ich möchte eine Sichtweise erzeugen, nicht von oberhalb, sondern auf die unteren Schichten der Gesellschaft. Was machen wir denn wirklich? Wofür kämpfen wir? Wofür wir am meisten kämpfen, kann im nächsten Moment schon verschwunden sein – alles ist in Bewegung. Ein General wie Yue Fei, von dem das Lied stammt, kann seine Nation verlieren, so wie Xiao Kang seine Familie und seine zwei Kinder. Meine Filme erzeugen Fragestellungen, über die man nachdenken muss.

Spiegelt der Film Ihre eigene Obdachlosigkeit als Form von Zugehörigkeit wider?
Tsai Ming-Liang: Die alte Generation hat immer gesagt: Ein fallendes Blatt muss sich seine Wurzeln suchen. Das glaube ich nicht: So ziemlich jeder ist ein fallendes Blatt, muss aber nicht unbedingt nach der Wurzel suchen. Vielleicht stelle ich in Frage, ob es wichtig ist, eine Heimat zu haben. Ein Individuum zu sein bedeutet Freiheit, vor allem, wenn es sich selbst begegnen muss. Zwischen China, Taiwan, chinesischen Malaien, da ist nicht viel Unterschied, weil es eine freie Entscheidung ist, wer man sein möchte, und es ist die individuelle Freiheit, die respektiert werden soll. Die Freiheit ist das Kostbarste, was man haben kann, aber da kann es Unterschiede geben. Taiwan ist in meinen Augen ein freies Land: Du kannst so ziemlich alles machen, was du willst, und jedermanns unterschiedliche Wahl akzeptieren. Auch wenn ich in Taiwan stark kritisiert werde, denke ich, muss ich die Freiheit der Meinungsäußerung auch schätzen.

Kritisiert Stray Dogs den Kapitalismus?
Tsai Ming-Liang: In dieser Welt werden viele Sachen im Überfluss produziert, z.B. Shopping Malls, All-You-Can-Eat, 7–11, und gleichzeitig sieht man Armut und Menschen in Not. Der Sandwich-Mann, den ich in meinem Film vorführe, zeigt den marginalisierten Menschen und nicht das gesellschaftliche Anliegen. Jeder weiß, wie die Logik des Kapitalismus funktioniert oder die soziale Sicherheit oder der Wohlfahrtsstaat. Ich zeige den Sandwich-Mann, der ein paar Groschen verdient, von seiner Frau verlassen wird und seine Kinder mit Essensproben aus dem Supermarkt ernährt. Mein Ziel ist es, durch meine Arbeit den marginalisierten Menschen zu zeigen. Das ist das Schicksal des Kapitalismus: Nicht alle sind gleich, manche sind reich, andere arm. Aber im Budd­hismus ist jeder Buddha, und als Buddha kommt jeder in diese Welt, um zu teilen und zu geben. Meine Filme bieten keine Lösung für die Marginalisierten, sondern zeigen die Wahrheit über den gesellschaftlichen Rand und die Welt, in der wir leben. Ich bin Künstler und kein Soziologe. Ich zeige die Welt so, wie ich sie sehe, das ist mir wichtig.