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Winterdieb / L’enfant d’en haut

| Pamela Jahn |

Schnee von heute: zwei Menschen, eine Familie, kein Ausweg, nirgends

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Simon (Kacey Mottet Klein) ist zwölf, sagt er. Eltern habe er keine, die seien bei einem Autounfall tödlich verunglückt. Fragt man ihn morgen, sind sie vielleicht noch am Leben und Besitzer eines Luxushotels unten im Tal, die nur zu beschäftigt sind, sich um den eigenen Sohnemann zu kümmern. Schön wär’s, denn dann bräuchte Simon auch die Ausrüstungen, Sonnenbrillen und Sandwiches der wohlhabenden Skiurlauber nicht klauen, die ihm gerade genug zum Überleben einbringen. Aber eine große Schwester gibt es, und die gibt es scheinbar wirklich, nur leider hält Louise (Léa Seydoux) von Arbeit nicht viel. Lieber lange schlafen und mit Typen abhängen und feiern. Das Geld dafür knöpft sie Simon ab, der alles dafür tut, einen Funken Aufmerksamkeit von Louise zu ergattern. Dann schließlich, zwar leise befürchtet und doch unverhofft, kommt die ungeheure Wahrheit ans Licht, die dem Film wie den Zuschauern für einen Moment die Sprache verschlägt. Und immer mittendrin: Simon, dem es mit seiner Geburt das eigene Leben unter den Füßen weggezogen und in ein Niemandsland zwischen Lügen, Stehlen und Fantasie verbannt hat.

Winterdieb ist ein spürbarer, ein eigenartiger Film, wobei die Betonung hier auf eigen liegt, nicht auf artig. Es ist Ursula Meiers zweiter Spielfilm nach Home, in dem sie von einer französischen Familie erzählte, die sich ihr Heim an einer stillgelegten Autobahn einrichtet hat und nicht vom Platz weicht, als der Verkehr eines Tages wieder aufgenommen wird. Ungewöhnlich ist der Ort des Geschehens auch diesmal: Das Skiparadies in den Schweizer Bergen, das der Junge zu seinem Beuterevier erklärt hat, mag von noch so gewaltiger Schönheit sein, doch dafür interessiert sich die Kamera nicht, oder nur ganz am Rande. Was bleibt, sind die Bilder von dem alleinstehenden Hochhausblock an der Betonstraße unten im Tal, in dem Simon und Louise ein winziges Apartment bewohnen. Hier liegt das Epizentrum des Kleinfamiliendramas, auch wenn die darin Agierenden stets und ständig in Bewegung sind. Die Tragödie, die Meier schildert, braucht jedoch weder Originalität noch aufgesetzte Spannung, um erzählenswert zu sein – nur zwei Menschen in einer verzweifelten Situation. Der Ton, zu dem die Regisseurin und ihre Kamerafrau Agnès Godard dabei finden, entspringt aus einer unsentimentalen Erkenntnis von Notwendigkeiten. Winterdieb berührt in erster Linie durch sein Gespür für das Angemessene. Und wenn sich Louise und Simon einander am Ende doch wieder knapp verfehlen, besiegeln ihre Blicke eine Zuversicht, die sich der Film hart erarbeitet hat.