„Mad Max“-Regisseur George Miller hat die Zeit bis zum nächsten Wüsten-Abenteuer genutzt, um sich einen lang gehegten Wunsch zu erfüllen. Ein Gespräch über seinen neuen Film „Three Thousand Years of Longing“, über Geschichten, die uns nicht loslassen, und über Duschen als Inspirationshilfe.
Die grauen Haare, die hohe Stirn und eine dicke schwarze Brille: Ein bisschen sieht er selbst aus wie ein zerstreuter Professor, wenn er vor einem sitzt. Aber dann gerät George Miller schnell ins Schwärmen: Über das Kino. Über Tilda Swinton. Über den Zauber von Geschichten. Und man merkt, dass hier einer vom Fach spricht, der nicht nur mit dem Kopf dabei ist, sondern auch mit beiden Händen. Mit seinen Mad Max-Filmen hat der gebürtige Australier über Jahrzehnte hinweg ein ganz eigenes Universum des phantastischen Kinos geschaffen. Bereits 1979 hat er uns gezeigt, was passieren kann, wenn die Zivilisation aus den Fugen gerät, weil das Öl knapp wird und sämtliche staatlichen Autoritäten versagen. Er hat in den „Babe“-Filmen Schweine auf der Leinwand zum Reden gebracht und in Happy Feet Pinguine zum Singen und Tanzen.
In Three Thousand Years of Longing versucht er sich nun als Geschichtenerzähler im Abendland. Tilda Swinton spielt die leicht verstockte britische Akademikerin Dr. Alithea Binnie, die auf einer Vortragsreise in Istanbul aus Versehen einen Dschinn (Idris Elba) aus der Flasche lässt. Im Gegenzug für seine Freiheit bietet er an, ihr drei Wünsche zu erfüllen. Der Film ist ein Herzensprojekt für Miller, das er sich lange gewünscht hat, bis nach 20 Jahren endlich das nötige Geld zur Verfügung stand. Es war die 1994 erschienene Fabel-Anthologie „The Djinn in the Nightingale’s Eye“ von A.S. Byatt, in die er sich einst verliebt hatte. Nun hat er gemeinsam mit seiner Tochter Augusta Gore, die als Ko-Autorin genannt wird, daraus eine moderne Fantasy-Romanze gemacht, um mit einem Hauch von „Tausendundeiner Nacht“ seiner Freude am Erzählen freien Lauf zu lassen.
Zu Beginn Ihres Films argumentiert die Akademikerin Alithea Binnie sinngemäß, dass wir Geschichten brauchen, um die Dinge zu erklären, die wir nicht verstehen. Lassen sich Wissenschaft und Kunst Ihrer Meinung nach voneinander trennen, oder heißt das, dass Wissenschaft auch nur eine Geschichte ist?
George Miller: Nein, ich denke man kann Wissenschaft und Kunst nicht voneinander trennen, denn der Entstehungsprozess ist im Grunde derselbe. Unabhängig von der Forschung braucht es zunächst einen Moment der Inspiration, so wie bei einem großen Komponisten, der eine Anregung benötigt, um eine neue Symphonie zu schreiben. Man könnte wahrscheinlich sogar argumentieren, dass Einstein der größte wissenschaftliche Künstler war, aufgrund der Art und Weise, wie er einige tiefgreifende wissenschaftliche Geheimnisse artikulierte. Aber es kommt letztlich immer auf die eine Initialzündung an, auf diese Art von zufälligem, losgelöstem Denken, bei dem man ganz plötzlich diesen Aha-Effekt hat.
Das vollständige Interview lesen Sie in unserer Printausgabe 09/22
Wann haben Sie Ihre besten Ideen?
Jemand hat mir neulich erzählt, er habe die besten Ideen weder auf dem Tennisplatz noch zu Hause, sondern auf dem Weg dazwischen. Und das war bei mir auch schon immer so. Das ist das Einzige, was ich in meiner Arbeit wirklich verstanden habe, dass Ideen, wirklich bedeutsame Einfälle, nur in diesem hypnagogischen Zustand hervortreten, auf halbem Weg zwischen Wachsein und Schlafen, zwischen Traum und Wirklichkeit. George Lucas meinte einmal, dass ihm seine mit Abstand besten Ideen unter der Dusche kämen. Und auch ich freue mich immer, wenn ich duschen kann. Vor allem, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen. Dann bin ich am liebsten in der Dusche oder im Flugzeug. Oder zumindest irgendwo, wo ich keine anderen Verpflichtungen habe.
Sie sind ein begnadeter Action-Regisseur. Fühlen Sie sich wohler, wenn Sie Verfolgungsjagden mit hundert Meilen pro Stunde in der Wüste inszenieren, oder intime Gespräche zwischen einer Akademikerin und einem Dschinn in einem Hotelzimmer filmen?
Lassen Sie mich eine Gegenfrage stellen: Was ist die Geschichte? Denn es kommt immer auf den Kontext an. Ich habe während der Dreharbeiten zum Film ehrlich gesagt nie gedacht: Ich wünschte, wir hätten daraus eine Wüstenszene gemacht. Aber ich habe in der Nubischen Wüste gesagt: „Ich wünschte, wir könnten das alles im Studio drehen.“
Wie war es, mit Tilda Swinton zu arbeiten?
Da fragen Sie mich etwas! Tilda hat etwas Inspirierendes, sie ist eine ganz besondere Schauspielerin. Durch die Arbeit mit ihr habe ich plötzlich verstanden, warum alle Regisseure so wild auf sie sind. Sie müssen sich ja nur anschauen, mit wem sie gearbeitet hat. Und ich muss ehrlich sagen, ich habe das vorher noch nie so erlebt. Es gab bestimmte Schauspielerinnen und Schauspieler, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sie großartig waren und ich gerne wieder mit Ihnen zusammenarbeiten würde. Aber ich habe es noch nie so intensiv gefühlt wie bei Tilda.
Verändert sich die Herangehensweise an Ihre Arbeit als Regisseur, wenn Sie mit einer Schauspielerin wie ihr kollaborieren?
Es gab ja auch noch Idris Elba, und seinen Einsatz will ich hier nicht unterschlagen. Ich habe mich am Set ein bisschen wie ein Fußballtrainer gefühlt. Man weiß, dass man das, was man will, nicht allein hinbekommt. Man kann das Spiel nicht selbst spielen. Man ist auf die Spieler – in dem Fall Schauspielerinnen und Schauspieler – angewiesen. Also sucht man nach Wegen, die es ihnen ermöglichen, aus dem Vollen zu schöpfen und ihr Potenzial auszureizen. Schließlich kommen sie auf das Spielfeld oder den Basketballplatz oder was auch immer und führen den gleichen Pass, den gleichen Wurf immer wieder mit einer solchen Präzision und Eleganz aus, dass es einem Ehrfurcht einflößt. Und jedes Mal, wenn diese Lebenskraft, diese Wahrheit im Spiel da ist, weiß man, dass man es mit Spitzensportlern zu tun hat.
Haben Sie eigentlich mal darüber nachgedacht, was Sie sich an Alitheas Stelle gewünscht hätten?
Die Wahrheit ist, dass ich sehr anspruchslos bin. Und ich denke, jeder Wunsch mit einem unverdienten Ergebnis ist nur ein leerer Wunsch. Ich könnte mir zum Beispiel wünschen, dass Three Thousand Years of Longing der erfolgreichste Film aller Zeiten wird. Aber wenn der Film diesen Erfolg nicht verdient, dann ist der Wunsch hohl. Ich habe im Laufe meines Lebens festgestellt, dass die Dinge immer dann lohnenswert sind, wenn man sie auch verdient hat. Inspiration kommt immer aus dem Prozess, der harten intellektuellen Arbeit, dieser Interaktion, diesem Wechselspiel zwischen der Intuition und dem Intellekt, diesem Ding, diesem Klebstoff. Wünsche dagegen entstehen aus einem falschen Verlangen. So wie bei Alithea. Sie wollte geliebt werden. Aber so einfach ist das eben nicht.
Gibt es eine Parallele zwischen dem Erzählen einer guten Geschichte und dem Prozess des Sich-Verliebens?
Ich denke schon. Zumindest ist das bei mir so. Wenn ich mich in eine Geschichte verliebe, dann ist da immer etwas, von dem ich mich angezogen fühle. Es ist wie ein Sog, dem man nicht widerstehen kann. Und das war definitiv bei praktisch jeder Geschichte der Fall, die ich bisher verfilmt habe. Ich mache nicht viele Filme, und zwar genau aus diesem Grund. Manchmal lehne ich Angebote ab, so wie ich nie wieder einen Mad Max-Film machen wollte, weil ich dachte, da wäre alles gesagt. Aber dann hatte ich eine Idee, die in mir keimte und wuchs und wuchs, bis ich wie besessen davon war, diese Geschichte zu erzählen. Und ganz ähnlich ging es mir mit A.S. Byatts Novelle oder Kurzgeschichte, sie passte einfach so gut zu dem, was ich über das Geschichtenerzählen und die Liebe empfand. Und ich gebe zu: Natürlich hat das, wie alle Geschichten, damit zu tun, zu welchem Zeitpunkt man darauf stößt. Es hat immer auch etwas Autobiografisches an sich.
Und was genau war das hier?
Im Grunde alles, was mich, was uns im Leben beschäftigt, die ganz großen Fragen: Liebe, Sterblichkeit, was real ist und was nicht. Aber, und das hat mich am meisten fasziniert, es geht ja nicht nur um diese Themen oder ums Geschichtenerzählen an sich. Die Frage ist auch, warum sie uns als Menschen innewohnen. Und wie sich Geschichten im Laufe der Zeit auf uns als Individuen auswirken, das Positive und das Negative von Geschichten. All das kommt hier zusammen, eingekapselt und in komprimierter Form. Ein Gedanke, der mich während der Arbeit am Film immer wieder beschäftigt hat, ist, dass eine Art darwinistischer Kampf in unserem Gehirn stattfinden muss, der darüber entscheidet, welche Geschichten überleben und welche nicht. Und dabei spielt es eben keine Rolle, ob sie wahr sind oder erfunden. Auch wenn sie nicht real sind, geben wir uns ihnen hin, immer wieder auf Neue. Ich muss nur an meine Lieblingsmomente im Kino denken. Ich weiß genau, dass alles gespielt ist und dass hinter der Kamera ein ganzes Team stand, das diese Szene ermöglicht hat, dass es ein Set gab, einen Regisseur und einen Kameramann. Trotzdem transportieren mich bestimmte Filme bis heute in eine andere Welt. Immer wieder. Darum liebe ich das Kino.
Aber wie hält man die Begeisterung für eine Idee so lange frisch, wenn ein Projekt, wie in diesem Fall, 20 Jahre auf sich warten lässt, bis man es verwirklichen kann?
Ich arbeite langsam, das stört mich nicht. Wenn es sein soll, kommt ein Projekt immer wieder zu einem zurück. Und ich denke, das passiert uns allen. Es gibt Geschichten, die Sie in ihrer Kindheit gehört oder gelesen haben, die sie unbewusst tief in sich tragen. Oder Sie stoßen irgendwann auf ein Buch, das Sie danach ihr Leben lang begleitet. Als Filmemacher habe ich all diese Geschichten in meinem Kopf, und irgendwann bekomme ich vielleicht die Möglichkeit, die eine oder andere davon auf die Leinwand zu bringen.
Wie sehr hat sich dieser Gedanke in Ihrem Kopf angesichts der Entwicklungen im Bereich der Spezialeffekte verändert? Der Film muss jetzt ganz anders aussehen als zu dem Zeitpunkt, als Sie anfingen, darüber nachzudenken.
Ich bin sehr froh, lange genug dabei zu sein und Filme gemacht zu haben, die Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre den Übergang in die digitale Dimension erlebten. Das war meiner Meinung nach ein großer Meilenstein im Kino, wahrscheinlich der bedeutendste seit der Einführung des Tons. Und das Technische hat mich schon immer fasziniert, also bin ich sehr früh eingestiegen, etwa als wir die Babe-Filme gedreht haben. Es klingt jetzt sehr einfach, aber Schweine auf der Leinwand zum Reden zu bringen, war keine leichte Sache. Steven Spielberg hat damals zusammen mit George Lucas die ganze Pionierarbeit geleistet. Jurassic Park war der Anfang, das war ein bedeutender Moment. Es gab auch einige frühere Werke, Young Sherlock Holmes von Barry Levinson kam noch davor. Und wenn man es sich überlegt, der Unterschied zwischen heute und noch vor zehn Jahren im Hinblick auf CGI ist einfach enorm. Aber das ist alles Technik, Spielzeug, darin liegt nicht das Wesen der Geschichte.
Repräsentiert der Dschinn ein Stück weit die Möglichkeiten des Kinos für Sie?
Definitiv. Er projiziert in Alitheas Vorstellung das, was wir sehen, die Geschichten, die Magie. Idris sagte einmal zu mir: „Der Typ vermasselt es wirklich jedes Mal. Ich weiß nicht, ob du dich daran erinnerst, aber das ist wie bei Pinocchio.“ Ich meinte daraufhin: „Idris, das ist mein zweitliebster Film aller Zeiten.“ Und ich erinnerte ihn daran, was am Ende passiert. Pinocchio findet Anmut und Würde. Und ich denke, ganz ähnlich ist es mit dem Dschinn und mit Alithea.
Erlöse uns von den Bösen
Nach dreißig Jahren Pause feiert Mad Max ein nicht mehr erwartetes Comeback. Eine Rückschau auf eine phänomenale Erfolgsgeschichte
Mad Max: Fury Road
On the road again
Visueller Rock’n’Roll
George Miller über seinen Film „Mad Max“