ray Filmmagazin » Drama » Zehn Kanus

Zehn Kanus

| Ralph Umard |

Mit urwüchsiger Fabulierlust werden alte Mythen australischer Ureinwohner rekonstruiert  und Eindrücke von ihrer traditionellen Lebensweise und Spiritualität vermittelt.

Einem Mythos australischer Ureinwohner zufolge werden Babys nicht vom Klapperstorch gebracht, sondern vom Fisch. Fische in den Gewässern des Arafuga-Sumpfgebiets im Norden des Fünften Kontinents dienen als Zwischenwirte für die Seelen der Vorfahren. Ist die Zeit reif für eine Reinkarnation, so geht die Seele vom Fisch über in die Vagina einer Frau, um von ihr wieder geboren zu werden. Bevor die Kultur der Aborigines von weißen Kolonialisten weitgehend zerstört wurde, prägten Mythen und Rituale das Leben der Sammler und Jäger. Weise alte Männer konnten in Kontakt mit den Ahnen treten, ihren Eingebungen aus der „Traumzeit“ folgend, regelten sie das soziale Verhalten innerhalb der Klans.

Verblüffend originell lässt Ten Canoes solche Überlieferungen auf drei alternierenden Erzählebenen wieder aufleben. Die schwarzweiß gefilmte, in präkolonialer Zeit spielende Rahmenhandlung zeigt eine Jagdgesellschaft auf dem Weg in die Sümpfe, wo sie Gänse erlegen und deren Eier sammeln wollen. Mit dabei ist ein junger Mann, der die dritte Frau des Anführers begehrt. Um den illegitim Verliebten zur Räson zu bringen, erzählt ihm der Alte eine Fabel über ihre Vorfahren. Da geht es – neben Entführung und Blutrache – um einen Burschen, der eine Gattin seines großen Bruders begehrt. Als dieser an einer Verletzung stirbt, bekommt der jüngere Bruder nicht nur die begehrte Frau, sondern auch die zwei zänkischen älteren Witwen nach Stammessitte zugesprochen – und ist damit gar nicht glücklich! Diese Geschichte wird in Farbe präsentiert. Auf einer Meta-Ebene erläutert ein launiger Kommentator aus dem Off das Filmgeschehen.

Wer heutzutage durch das australische Hinterland reist und Aborigines trifft, sieht kulturell entwurzelte, häufig an Alkohol- und Nikotinsucht leidende Menschen. Ten Canoes vermittelt einen lebendigen Eindruck vom ursprünglichen spirituellen und rituellen Reichtum dieses Volkes, außerdem von der landschaftlichen Schönheit ihres natürlichen Lebensraumes. Ausgehend von Fotos des Anthropologen Donald Thomson, der in den 1930er Jahren bei den Yolngu-Klans lebte, wurden Kanus, Speere und andere Requisiten originalgetreu nachgebaut. Die Laienschauspieler sprechen ihre eigene Sprache in diesem keineswegs ethnologisch lehrhaften, sondern poesievoll unterhaltsamen Film, der Geduld lehrt und die Logik abendländischer Erzählweisen außer Kraft setzt.