Das Sundance Film Festival funktioniert wie ein gut sortierter Gemischtwarenladen – auch in diesem Jahr war für jeden Geschmack etwas dabei.
„Potential“, sagt Sergio (Eugenio Derbez) und er glaubt fest an dieses Wort. Nur seine Schüler schauen ihn skeptisch an. An der heruntergekommenen Schule in Matamoros, Mexiko, hat bisher niemand darauf gesetzt, dass aus den Kindern vielleicht einmal gebildete Menschen hervorgehen. Ihr Umfeld ist erfüllt von Gewalt, Drogenkriegen, Armut und Entbehrung. Aber Sergio ist ein Lehrer mit Herz und Verstand, dessen alternative Lehrmethoden das Schicksal seiner Schüler nicht nur positiv beeinflussen, sondern ganz und gar auf den Kopf stellen sollen.
Obwohl sich die Kinder zunächst sträuben, weil sie von Sergios Spielen eher belustigt als fasziniert sind, werden sie bald in lebhafte Gespräche über Physik und Philosophie hineingezogen. Anstatt ihre Köpfe mit Fakten zu füllen, ermutigt er sie, selbst zu denken und ihren Geist zu öffnen, auch wenn das bedeutet, dumme Fragen zu stellen oder falsche Antworten zu geben. Zwar kommt Christopher Zallas Film nicht ohne Klischees und vorhersehbare Wendungen aus, denn Radical erweist sich nicht annähernd so drastisch wie sein Titel verspricht. Doch der diesjährige Sundance-Publikumsfavorit funktioniert vielleicht genau deshalb so gut, weil er sich selbstbewusst gibt und auf seine leisen Töne sowie eine wunderbar nuancierte schauspielerische Leistung von Eugenio Derbez in der Hauptrolle verlässt.
Auf ähnliche Weise gelingt es auch der Regisseurin und Drehbuchautorin A.V. Rockwell in A Thousand and One ihr Publikum zu überzeugen, die für ihren Film mit dem US Dramatic Grand Jury Prize ausgezeichnet wurde. Die junge Mutter Inez (Teyana Taylor) steht im Zentrum der Geschichte, deren vermeintlicher Krimiplot im New York der neunziger Jahre spielt und von einem bewegenden Drama unterlaufen wird. Aufgrund ihrer Vorstrafen fällt es Inez schwer, nach dem Knast wieder auf die Beine zu kommen. Trotzdem sucht sie schließlich ihren sechsjährigen Jungen Terry (Aaron Kingsley Adetola) auf, der in ihrer Abwesenheit in die Obhut von Pflegefamilien übergeben wurde. Viel kann sie ihm nicht bieten, eine sichere Wohnung, einen festen Job, eine verlässliches Netzwerk an Freunden, all das hat Inez nicht. Aber sie ist überzeugt, dass Terry bei ihr besser aufgehoben ist.
Als die Handlung nach vorn springt – erst ins Jahr 2001, dann ins Jahr 2005 – werden wir Zeuge, wie sich die Beziehung zwischen Mutter und Sohn im Laufe der Jahre entwickelt. In der Zwischenzeit hat Inez auch Halt bei Lucky (Will Catlett) gefunden, einem alten Lover, der für Terry eine Art Ersatzvater wird. Doch dass eigentlich spannende an Rockwells Erzählweise ist, wie sie neben dem weiten Handlungsbogen zugleich das Porträt einer Stadt liefert, in der die rasante Gentrifizierung zum Vorschein kommt. Ohne didaktisch zu wirken, unterstreicht A Thousand and One, wie sich die wirtschaftlichen Realitäten zunehmend auch negativ auf Inez und ihr Leben auswirken, das sie sich so mühsam erarbeitet hat. Und es ist Rockwell hoch anzurechnen, wie wenig sie auf das Mitgefühl des Publikums setzt. Teyana Taylor spielt Inez als eine zutiefst gebrochene Frau, die ihre ganze Energie darauf verwendet, ihrem Sohn eine gute Zukunft zu sichern. Vielleicht gelingt es ihr, vielleicht auch nicht. Aber den Versuch und diesen Film, war es auf jeden Fall wert.
Ein weiterer New-York-Film, der hier nicht ganz unerwähnt bleiben soll, ist You Hurt My Feelings von Sundance-Veteranin Nicole Holofcener, in dem Julia Louis-Dreyfus eine von Selbstzweifeln geplagte Schriftstellerin spielt. Die Situation eskaliert, als sie zufällig mitanhören muss, wie selbst ihr getreuer Therapeuten-Ehemann ihr neues Buch kritisiert. Das erwartungsgemäß wortreiche Drama, das Holofcener daraus strickt, entwickelt sich zu einem emotionalen Spießrutenlauf für alle Beteiligten, in dem es um Vertrauen und Ehrlichkeit, um alles oder nichts geht. Doch während das komödiantische Potential und die scharfe Beobachtungsgabe der routinierten Regisseurin den Film übers Mittelmaß hinauszuheben versucht, hinterlässt ein unnötiger Zynismus zwischendurch immer wieder einen leicht bitteren Beigeschmack.
Zu den weiteren Spielfilm-Highlights gehörten schließlich zwei britische Produktionen, die jeweils zeigten, wie verlässlich rege und ambitioniert das Filmtreiben auf der Insel trotz aller politischen, wirtschaftlichen und solzialen Turbulenzen ist. Die Debütfilmerinnen Charlotte Regan und Raine Allen-Miller demonstrierten Mut, Elan und Kunstfertigkeit sowohl mit dem schrägem Drama Scrapper über ein 12-jähriges Mädchen, das versucht, wieder Kontakt zu ihrem Vater aufzunehmen als auch mit Rye Lane, einer äußerst charmanten wie rasanten Liebesgeschichte, die im hippen, rauen Süden Londons spielt.
Vielleicht ist es die größte Stärke des Festivals, das Sundance immer für alle und jeden etwas bereithält. Auch Filme wie Sheyda von Noora Niasari, in dem eine persische Frau, die vor ihrem misshandelnden Ehemann nach Australien flieht, stand beim Publikum vor Ort in Park City und virtuell über das Online-Streaming-Angebot des Festivals hoch Kurs. Dazu kamen die üblichen Querflieger wie Brandon Cronenbergs neuestes Horrorszenario Infinity Pool, Sebastian Silvas bitterböse menschenfeindliche Satire Rotting in the Sun oder Susanna Fogels verschenkter Psychothriller Cat Person, auf die man sich schwerer einigen konnte.
Von den immer sehenswerten Dokumentationen bleibt vor allem Davis Guggenheims Still: A Michael J. Fox Movie in Erinnerung, in dem der Filmemacher dem Back to the Future-Star und einstigen Teenschwarm seine ganze Aufmerksamkeit schenkt. Obwohl die Aufarbeitung seiner Karriere in den achtziger Jahren erwartungsgemäß viel Platz einnimmt, fasziniert Still vor allem dann, wenn wir Fox heute sehen, während er dem Publikum erzählt, wie er sich fühlt, seit sich sein Leben durch eine Parkinson-Krankheit verändert hat. Was aus diesem Film hervorgeht, ist, wie witzig Fox immer war und bis heute ist – und sein Mut, mit der erschütternden Diagnose an die Öffentlichkeit zu gehen, ist umso bewegender, weil er unaufdringlich ist.
Für Filme wie Radical, A Thousand and One oder Still, der übrigens noch in diesem Jahr auf AppleTV+ zu sehen sein wird, ist Sundance eine wichtige Plattform. Und für alle, die in diesem Jahr wieder live im Kino oder virtuell mit dabei sein konnten, war und bleibt das Festival ein großes Glück.