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Akipleša
Akipleša

Filmfestival

Zwischen Fluchtversuch und Selbstbestimmung

| Kirsten Liese |
In seiner 77. Ausgabe widmete sich das Locarno Filmfestival den Krisen und Problemen junger Frauen

Marija ist eine aparte, sensible Erscheinung mit einer leichten Gehbehinderung, Kristina etwas dickhäutiger und leichtsinniger. Beide Mädchen sind 13 und weitgehend auf sich gestellt. Die eine wurde zu ihrer Großmutter abgeschoben, die andere wohnt beim Vater, der sich nur mit seiner neuen Freundin beschäftigt. In dem trostlosen Umfeld einer Industriegegend, in der die Schwächeren gnadenlos gemobbt und um ihre wenige Habe beraubt werden, werden sie zu leichter Beute für Betrüger.

Die litauische Regisseurin Saulė Bliuvaitė entwirft in ihrem Film Akipleša, den die Jury unter dem Vorsitz von Jessica Hausner in Locarno nachvollziehbar mit dem Goldenen Leoparden für den besten Film ausgezeichnet hat, ein beklemmendes Bild von jungen Frauen in ihrer Heimat. Kristina hat Marija anfangs ihre Jeans geklaut, um die sie sich brutal prügeln. Aber dann freunden sich die Heldinnen überraschend an und geraten in die Fänge einer dubiosen Casting-Agentur, die ihnen eine vielversprechende Karriere als Model in Aussicht stellt, in Wirklichkeit aber nur auf aufreizende, erotische Fotos von ihnen aus ist, die die Mädchen selbst auch noch bezahlen sollen. Am meisten aber schockiert, was Kristina ihrem Körper wegen fragwürdiger Schönheitsideale antut: Als bereitete ihr das Piercing auf der Zunge, das sie sich zuerst stechen lässt, nicht schon Schmerzen genug, pfeift sie sich Bandwürmer ein, die das ohnehin schon dünne Mädchen freilich krank machen statt wie erhofft noch schlanker. Schlimmer könnte die Bilanz über eine kranke, verkommene Gesellschaft mit versagenden, verantwortungslosen Eltern kaum ausfallen.

Der internationale Wettbewerb in Locarno mit insgesamt 17 Beiträgen legte den Fokus auf junge Frauen, die einiges riskieren, aus ihren desolaten Lebensumständen auszubrechen. Dass diese Versuche überwiegend scheitern, ist nicht auf fehlenden Mut der Protagonistinnen zurückzuführen, sondern auf verheerende soziale, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren. Gleich mehrere dieser Produktionen fanden bei der Preisvergabe verdient Beachtung.

Wo der Name Ulrich Seidl auftaucht, lässt sich schon ahnen, dass es in der Geschichte heftig zugehen wird. Für das mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnete Drama Mond von Kurdwin Ayub zeichnet er als Produzent.

Im Mittelpunkt dieses aufwühlenden Dramas steht eine ehemalige Kampfsportlerin, die sich von einem reichen Araber anwerben lässt, seine drei Schwestern in Jordanien zu trainieren. Mit der Ankunft in einer luxuriösen Unterkunft lässt sich das Abenteuer vielversprechend an, aber die Motivation der jungen Frauen, die Sarah trainieren soll, lassen zu wünschen übrig. Wie sich nach und nach herausstellt, hoffen diese vielmehr, mit der Hilfe der taffen Trainerin ihrem goldenen Käfig zu entkommen und damit der Unterdrückung und Gewalt, der sie sich über ihre Brüder ausgesetzt sehen.

Wie die mutige Protagonistin allmählich hinter die Geheimnisse und Abgründe in dem weitläufigen Ansehen kommt und dafür selber Gefahren auf sich nimmt, schildert das Drama sehr spannend. Allerdings hat es auch ein Glaubwürdigkeitsproblem, erscheint es doch nicht sehr wahrscheinlich, dass ein Tyrann seine Schwestern ausgerechnet darin unterrichten lässt, wie sie sich körperlich verteidigen und zur Wehr setzen können. Zudem nimmt man der Trainerin ihre Einfalt nicht ab, dass sie in solche patriarchalen Strukturen in der arabischen Welt derart unvorbereitet hineinstolpert.

Die befreundeten Mütter in dem mit dem Regiepreis bedachten Drama Seses (Drowning Dry), ein weiterer Beitrag aus dem aktuell offenbar sehr produktiven Litauen, erscheinen in ihrem Verhalten schon eher wie aus dem realen Leben gegriffen. Nach einem Unfall, der es beinahe mit sich gebracht hätte, dass die kleine Tochter der einen im See ertrunken wäre, ziehen die Protagonistinnen die Konsequenten und trennen sich von ihren Männern, jedenfalls sind sie einige Zeit danach Alleinerziehende. Schließlich hatte der Vater seine kleine Tochter Urte im wahrsten Sinne des Wortes ins kalte Wasser geworfen, weil sie sich selbst einen Sprung nicht zugetraut hatte. Was die Trennung dann aber mit den Paaren macht, verfolgt der Film nur  rudimentär. Zusehends verliert sich die Erzählung mit seiner komplizierten, verschachtelten Dramaturgie in einem unerwarteten Krimi um einen weiteren Unfall, der jedoch nicht aufgelöst wird und deshalb unbefriedigend bleibt.

Tiefgründiger und psychologisch spannender erscheint das Psychodrama Der Spatz im Kamin, dritter Teil einer Trilogie des Schweizer Filmemachers Ramon Zürcher, das beim Fachpublikum dank seiner scharfsichtigen subtilen Beobachtungen zu den Favoriten zählte, auf der Preisverleihung aber leer ausging.

Düstere Erinnerungen, Schweigen über brodelnde Konflikte und wachsende Aggressionen  drohen an einem Geburtstag zu eskalieren, aus dessen Anlass zwei Schwestern mit ihren  Ehemännern und Kindern zusammenkommen. Zuerst sieht es aus, als wäre die garstige Karen (stark mit ihrer versteinerten Mimik: Maren Eggert) die Drahtzieherin allen Übels, die ihre Kinder vielfach anherrscht und terrorisiert. Zumal besonders der noch kleine Sohn sehr darunter leidet, der es immer versucht, der Mutter Recht zu machen, ihr in der Küche abnimmt, was nur geht und allen eigenen Kummer herunterschluckt bis er schließlich in der Katze ein wehrloses Opfer für seinen angestauten, lange Zeit unausgesprochenen Hass findet. Seine Tante, die zunächst so strahlend und freundlich in das Haus hereinschneit, sich aber feige aus allem heraushält, behauptet sich jedoch ebenso wenig als eine Lichtgestalt. Karens Mann flüchtet sich unterdessen in die Arme einer Geliebten. Einzig die ältere Tochter bietet Karen mit schnippischen Repliken Paroli und versucht unverhohlen ihren Onkel zu verführen.

So wie die Auseinandersetzungen bisweilen ans Unerträgliche grenzen, tut es dem stark besetzten Kammerspiel gut, dass zum Ende hin ein wenig Licht hineinkommt, so dass es nicht bleischwer endet.

Ähnlich verhält es sich mit dem spanischen Beitrag Salve Maria, der sich den Verstörungen einer Schriftstellerin widmet, die all das nicht kann, was von jungen Müttern üblicherweise erwartet wird. Maria fühlt sich ihrem Baby nicht gewachsen, sie will die Fürsorge verzweifelt an ihren Mann delegieren, der aber seinen Vaterschaftsurlaub nicht so schnell antreten will wie sie es erhofft. Alptraumhafte Visionen von einer Krähe, die sie und ihr Baby bedroht überwältigen sie, unbewusst sucht Maria nach Möglichkeiten, ihr Baby loszuwerden. Befeuert wird diese Fantasie von schockierenden Schlagzeilen um eine Mutter, die ihre 10 Monate alten Zwillinge in der Badewanne ertränkte. Die Tragödie lässt Maria nicht mehr los, zwanghaft fühlt sie sich inspiriert, Schreckliches zu schreiben und mit der Mörderin in Kontakt zu treten. Um sich dafür den Freiraum zu schaffen, vertraut sie den kleinen Eric kurzerhand einer fremden Frau an.

Alles läuft auf einen dramatischen Ausgang hinaus, aber schließlich sieht es so aus, als schaffte Maria nach Intervention des besorgten Vaters des Kindes doch noch die Kurve. Tief an die Nieren geht der Film dennoch.

Deutlich unspektakulärer kommt die etwas eigenwillige italienische Studie Luce daher, in der eine junge Fabrikarbeiterin eines Abends von einem alten Mann angerufen wird, in dem sie ihren verloren gegangenen Vater wiederzuerkennen meint, von dem sie ewig nichts gehört hat. Ob tatsächlich die Stimme des Vaters an ihr Ohr dringt, der sich nicht explizit zu erkennen geben will, ob es dessen Freund ist oder nur eine surreale Vision in ihrem Kopf bleibt offen. Leider geht jedoch Regisseurin Marianna Fontana der Vater-Tochter-Beziehung nicht tiefer auf den Grund, beobachtet vielmehr ihre Heldin etwas beliebig mal beim Tanzen, mal beim Kochen.

Auch wenn sich auf der Piazza Grande in diesem Sommer wenige internationale Stars tummelten, was hier und da von Einheimischen ein bisschen bemängelt wurde, ist es doch dem künstlerischen Leiter Giona A. Nazzarro gelungen, den erhöhten künstlerischen Anspruch insbesondere im Wettbewerb zu halten, auf den er ihn seit seiner künstlerischen Übernahme des weniger glückreichen Carlo Chatrian gebracht hat. Und das drückte sich auch wirtschaftlich mit einer Steigerung der Zuschauerzahlen um 3,5 Prozent aus.

Bei alledem wartete der Wettbewerb im Zuge der Dokumentation Hard Times mit einer brisanten politischen Anklage gegen moderne Sklaverei im heutigen China auf. Über dreieinhalb Stunden ist da auf erschreckende Weise zu erleben, wie Arbeiter, teils noch halbe Kinder, in vermüllten, verdreckten Textilfabriken unter menschenunwürdigen Bedingungen im Akkord arbeiten, in schmalen Kammern nebeneinander auf harten Pritschen nächtigen, sich Tag für Tag unter großer Ermüdung abrackern und am Ende noch um ihren Lohn geprellt werden. Auch wenn all dieses Elend bis zum bitteren Ende über eine derart lange Lauflänge schwer auszuhalten ist: Filmemacher Wang Bing setzt damit ein wichtiges Zeichen gegen die wachsende Ausbeutung von Menschen, die ihre Arbeitskraft für Nichts in einer trostlosen Umgebung chinesischer Provinzen vergeuden.