Bei seiner Nennung regt sich heute, fern der Filmgeschichte, immer noch etwas – diffuse Assoziation mit Comic oder Popmusik, auf der Ebene von TV-Entertainment, Jugendbuchkrimis, Godzillafilmen oder als Titel einer alternativen Ärztezeitschrift. Das ist nur folgerichtig, denn der Name Mabuse, „Dr. Mabuse“, bezeichnet einen Untoten, den imponierendsten Verbrecher des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland. Sein Geist flottiert, bereit zu aktualisiertem Auftritt. Die Figur des genialisch wahnsinnigen Staatsfeinds Nr. 1 wurde in ihren Wirkungen als Spiegelbild menschlicher Ängste vor 90 Jahren erstmals ins Bild gesetzt von Fritz Lang.
Zu seiner Jahrhundertfigur will der Luxemburger Autor Norbert Jacques nach Ende des Ersten Weltkriegs durch den Eindruck eines Männerkopfes inspiriert worden sein, der ihm 1919/1920 an Deck eines Schiffes auf der Fahrt von Lindau nach Konstanz aufgefallen war. Der Autor phantasiert eine Menge Zeiterscheinung in dieses fremde Gesicht hinein; es strahlt aus und wird gleichermaßen Projektionsfläche, auf der sich allerlei Zeitsymptomatisches anfindet, das über den ersten konfusen Eindruck jenes Kopfes zur Erzählung einer fieberhaften Handlung drängt: „Es waren nicht Kopf und Züge eines geistigen Mannes, aber die Eigenkraft ihres Wesens war so eindringlich, daß sie eine geistige Wirkung auf den Beschauer hervorbrachten, so, als ob dieser Fremde in einer besonderen Potenz mit der Zeit zusammengehörte. (…) war er ein Held oder ein Verbrecher?“ So Jacques 1950 über die Geburt seiner Erfolgsfigur, des folgenreichsten Verbrechers des deutschen Films. Er habe sich „für die einseitig böse Seite“ entschieden, und „die Weltgeschichte“ habe ihm „Recht gegeben“.
„Er war von gedrungener Gestalt, breitbrüstig, elegant und einfach gekleidet. Er saß wie erstarrt die drei Stunden, ohne sich von seinem Platz zu bewegen. Aber in seinem Kopf war Leben. (…) der Blick, der wie aus einer Tiefe hervorkam, war schwer, von einem verhaltenen Eis und Feuer. Diese Augen schienen die vorbeigehenden Menschen, die in ihren Kreis kamen, nicht anzuschauen, sondern anzufallen. Aber nicht nur raubtiermäßig, sondern mit der Beimischung einer schöpferischen Aufbaukraft, wie sie jedem Herrenwillen eingeschaffen ist. Und das Kinn, wie ein Balken vorgebaut, zeigte die rücksichtslose Stoßkraft einer Energie, die zum Letzten befähigt. / In jedem großen und starken Menschen ist die Kraft des Nein so stark wie die des Ja. Das ist mein Glaube. Von diesem Männerkopf, der ‚jenseits von Gut und Böse‘ war, vermochte ich den Blick nicht wegzuwenden. Er schien mir alles in sich zu schließen, was in der Zeit damals trieb: das, was sich mit Auflösung in Gier bedrohte, und das, was sich der Hoffnung zur Erlösung in dem Ruf nach einem Führer sammelte.“ – Noch vor dem Machtantritt des kommenden, realen ‚Führers‘, doch nach dem medialen Einschlag der Gestalt Mabuses in den ersten Jahren der Weimarer Republik verrät Jacques seine Inspirationen zu dieser Figur, geboren aus dem augenscheinlichen Faszinosum des Physiognomischen, und offenbart damit durchaus seinen konservativ-nationalreaktionären Standpunkt. Da ein Gesellschaftsbegriff nicht erkennbar ist, nichts, was die sozialen Kräfte trennen und gedanklich ordnen könnte, macht der Autor inflationären Gebrauch von dem Begriff ‚Zeit‘, für deren Eigenheiten seine Mabuse-Figur symptomatisch sei.
„Der Mensch ist von mir erfunden, aber der Name stammt anderswoher. Denn er ist der Beiname des alten flämischen Malers Gossaerts, der aus Maubeuge – zu flämisch Mabuse – stammend ihn als Beiname führt. / Der Name steht so merkwürdig eigentlich zwischen den Sprachen, klingt deutsch und hat doch in sich den Tonanflug anderer ganz fremder Sprachen, so daß er etwas Überdimensionales besitzt. So dachte ich mir, daß sein Klang einstimme in das Mystische und Mythenhafte eines Mannes, der in einer Zeit lebte, in der man ein großer Verbrecher sein mußte, um ein großer Mensch zu sein … einer Zeit, die als böse Mythe in der Einbildungskraft der Menschen weiter haften bleiben wird.“ (Norbert Jacques, 1928)
Ein Glücksfall sei es gewesen, bemerkt Thomas Brandlmeier in seinem Buch „Fantômas“ (2008), dass Fritz Lang, der in Paris vor dem Ersten Weltkrieg bereits die nach den Romanen von Souvestre und Allain gedrehten Fantômas-Filme von Louis Feuillade gesehen hatte, mit Norbert Jacques zusammengetroffen war, einem auch als Reiseschriftsteller tätigen Globetrotter, der in seinen Mabuse-Romanen Fantômas „germanisiert“ habe: „Die Schrift begann mit Beschreibungen von Anschlägen gegen das Geld, als gegen die Urnotwendigkeit zur Existenz und zur Sicherung des Daseins einer kapitalistisch funktionierenden Zeit. Attentate gegen das Geld mussten die ersten Unsicherheiten in das Zusammenleben der Menschen bringen, die ersten Ängste. (…) Politische Wahlen sind zu benützen, da in Zeiten politischer Hochspannung die Menschen besonders reizbar gegenüber Andersgläubigen sind. Scheinbar bedeutungslos, sinnlos. (…) Das gewaltige Heer der Arbeitslosen wuchs ständig. Es bedurfte nur der Lunte, um die angehäuften Zündstoffe zur Explosion zu bringen, das Chaos zu schaffen, das einem großen Verbrecher Möglichkeiten über Möglichkeiten bot.“ (Norbert Jacques: „Das Testament des Dr. Mabuse oder Dr. Mabuses letztes Spiel“, Vorlage für Fritz Langs Film von 1932/33). Mabuse sei „wie das Geld: dank seiner vielen Gesichter ein universelles Äquivalent“ (Georges Sturm, 1994). Gleich zu Beginn von Dr. Mabuse, der Spieler (1922) bewegt sich Fritz Lang auf den Spuren von Feuillades Fantômas (1913/14) – hatte dieser mit einer Überblendungssequenz begonnen, die den Verbrecher in verschiedenen Masken vor Augen führt, zeigt Lang eine Hand, die eine Reihe von Spielkarten mit den Porträts verschiedener Männer hält, immer denselben, nie den gleichen zeigend, es sind allesamt Masken, in denen Mabuse im Verlauf der Handlung seine Gegner täuschen wird. Fotografien theatralischer Verkleidungen, daneben falsche Banknoten, das Telefon, eine Taschenuhr – so wird eine Serie schlichter Requisiten ins Spiel gebracht, in deren Kombination sich das Instrumentarium für die beginnende Erzählung bereitstellt.
Die personifizierte Verschwörung
Mit dem Namen „Dr. Mabuse“ verbindet man eine Figur, die heute noch diffuse Ahnungen ihrer einstigen Wirkung hervorruft; 1921/22 war sie in einem Fortsetzungsroman in der „Berliner Illustrirten Zeitung“ für Monate seriell an die Öffentlichkeit getreten und steigerte auf Anhieb die Verkaufszahlen. Die Gestalt des dämonischen Verbrechers, „Mabuses Stigma als Genie, das zum Staatsfeind Nr. 1 wurde“ (Siegfried Kracauer), entsprach den Ängsten einer haltlosen, inflationsgeschüttelten Nachkriegsgesellschaft, in der eine ‚Entwertung aller Werte‘ Einzug hielt („vielleicht … der Inbegriff unseres heutigen Zeitgeistes“, befand bereits der „Film-Kurier“ in seiner Uraufführungskritik am 28.4.1922). Was auf Befehl bzw. unter dem magischen Einfluss Mabuses, dieses destruktiven Despoten und subversiven Drahtziehers, geschah, betrieb unablässig eine Art gesellschaftliche Totalsabotage um ihrer selbst willen, dabei ohne direkt nachvollziehbaren kriminellen Nutzen, und heizte die chaotischen Unruhen in den Straßen der frühen Weimarer Republik an. Seine Person scheint in repräsentativen Modernisierungstraumata fundiert, und es gibt kaum einen Text über das Phänomen Mabuse, in dem nicht vermerkt wird, dass sich die Nachkriegsanarchie in ihm ‚spiegele‘, von deren Chaos wiederum der Machtapparat Mabuses profitierte, indem er jenes mit einer Herrschaft des Verbrechens beantwortete. „Mabuse“ erscheint wie die Verkörperung einer Phantasie vom ultimativen Verantwortlichen noch hinter den undurchsichtigsten Delikten, die personifizierte Verschwörung, der potenzielle Urheber aller Schreckensszenarien, allen Aufruhrs, aller wirtschaftlichen Krisenerscheinungen, die denen, die unter ihnen leiden, so wenig verständlich gemacht werden. Haften bleibt der Schrecken, dessen Erregung in allen Beteiligten den Tonus der Geschehnisse ausmacht. Mabuse ist Ausdruck einer gleichermaßen triebhaft wie logisch funktionierenden kriminellen Intelligenz, ein bedingungsloser Willkürherrscher mit kaltem Kalkül, ein unbedrohbarer Replikant mit der verschlagenen Gewalttätigkeit eines Al Capone, profiliert als Übermensch im destruktiven Sinne, der Kopf einer Verbrecherorganisation, die sich gegen jegliche Ordnung richtet und die mit jeder agitierenden Aufklärung zugleich Propaganda verbreitet und Anschläge in beliebigem politischen Interesse durchführt. Das Gesicht wild gewordener Marktkräfte, verselbständigter Spekulationsbeziehungen, als Wirtschaftstäter gewissermaßen eine ‚Heuschrecke im Singular‘, aber ebenso ein getarnter Terrorexperte der ersten Stunde. ‚Fausts bösesten Bruder‘ hat man ihn genannt, aktiv mit der Gründlichkeit eines Forschers, und dabei trivialster Materialist unter den Dämonen. Mabuse bedient die Laster der dekadenten Klasse, die hasardierend die Tage vertändelt, interessiert ist er einzig an der Erpressbarkeit ihrer Exponenten, deren Ausschweifungen setzt er Herrschaft entgegen, wird Nutznießer ihrer Lebensgier. Selbst scheint er gegen Verführungen und die Schaulust seiner Zeit immun, doch instinktiv die weiche Stelle in der Konstitution des Anderen auf den ersten Blick entdeckt zu haben.
In „Dr. Mabuses Welt“ herrsche das „wissenschaftlich durchdachte Verbrechen“ (Kurt Pinthus, 1922). Mabuse ist der Gestaltwandler, der Machthaber hinter wechselnden Maskierungen, ein überwältigender Trickster und Massenverführer. „Noch heute wirken Mabuses viele Verkleidungen wie ein Katalog Weimarer Typen, wie sie aus den Zeichnungen von Otto Dix oder George Grosz bekannt sind: der Börsenspekulant mit Zylinder, der delirierende Trunkenbold im Hausaufgang einer Mietskaserne, der jüdische Hausierer an der Straßenecke, der bärtige Privatier in der schicken Luxuslimousine, der Industrielle mit Monokel und Schnurrbart, der Zuhälter, der Psychiater, der Hypnotiseur, der Opium rauchende Chinese in der Spielhölle.“ (Thomas Elsaesser, „Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig“, 1999) Man wähnt Mabuse in jedem Unbekannten versteckt, seine Vielfach-Identitäten führen das romantische Doppelgänger-Motiv ins Uferlose. Als der Ursprungs-Mabuse stirbt, nachdem er in der Irrenanstalt, in der er als Konsequenz des ersten Films Dr. Mabuse, der Spieler interniert worden war, unablässig Anleitungen zu subversiven Aktionen produziert hat, ergreift sein Geist Besitz vom Anstaltsleiter Dr. Baum. Nicht der Anstaltsdirektor macht den Patienten zu seinem Werkzeug wie in Das Cabinet des Dr. Caligari (1919), sondern der Insasse setzt sich qua fortgesetzter hypnotischer Kraft im Hirn des Direktors fest und zieht es in seinen Bann; in einer Doppelbelichtung wird die Seelenwanderung inszeniert. Unerlöst wird Mabuse als Untoter fortleben, dazu verdammt, sein Vermächtnis weiterzugeben, zur Wiederholung der Geschichte in veränderter Gestalt.
Als Hypnotiseur und Suggestionskünstler, dessen wahnsinnig anmutende, weil ziellos megalomanische Lehren von der Herrschaft des Verbrechens in Form präziser Attentatspläne sich wie magische Befehle quasi parapsychologisch durch die Hirne seiner Nachfolger fortsetzen, ist „Dr. Mabuse“ auch das Modell des überwältigenden Manipulators, der „mit Houdini-artiger Verkleidungskunst“ (Thomas Elsaesser) agiert, der Menschen qua eigener Willensstärke zu Handlungen wider Eigeninteresse und Selbsterhaltungsinstinkt zu zwingen in der Lage ist, einer, der eine labile, willfährige Menge, die ihm bereitwillig als Anführer folgt, mühelos zu agitieren vermag wie eine herrenlose Herde (so eine Szene nach einer Idee Langs, die im Roman fehlt; im Gegenzug dazu haben Fritz Lang und Thea von Harbou die im Roman von Jacques vorkommenden Kolonialphantasien Mabuses, wonach dieser mit dem Geld seiner Organisation „sein Kaiserreich in den Urwäldern Brasiliens“ gründen wollte – „Eitopomar“, „ein Traum seit seiner Knabenzeit“ – ausgeklammert. „Er war sich selber genug. Was waren ihm die Menschen? Sein Wille machte sie zunichte.“)
Mabuse steuert Börsen und Spielclubs und bedient sich einer eigenen, nach paramilitärischen Gesichtspunkten aufgebauten Ganovenclique aus konditionierten Befehlsempfängern, die ihren Diktator in Das Testament des Dr. Mabuse nicht zu Gesicht bekommen. Er lenkt sie durch Zeichen, Tonübertragungen und Projektionen. „Als extreme Version des Gewalttäters bringt diese Organisation einen Typus hervor, der sich mit seiner Amokläufer- und Kamikazementalität am Ende gegen alle stellt.“ (Anne Waldschmidt, 1992) Mabuses menschliche Werkzeuge erscheinen bis zuletzt aus Angst gebunden an seine Befehle. Im sechsten Akt von Dr. Mabuse, der Spieler ist dieser gleichsam zum Showdown im Western in die Enge getrieben und verschanzt sich in seiner Festung, wie einst jene Bankräuber in der Pariser Vorstadt, deren Coup Fritz Lang als reales Vorbild für die Szene diente. Auf die Aufforderung, sich zu ergeben, heißt es im Zwischentitel: „Ich fühle mich hier als Staat im Staate, mit dem ich von jeher im Kriegszustand lebte! Wenn Sie mich haben wollen – holen Sie mich!“ Als ‚Staat im Staate‘ wurde seitdem die Organisation der Reichswehr verschiedentlich bezeichnet, jene auf hunderttausend Mann beschränkte Berufsarmee, in der vorwiegend republikfeindliche, nationalreaktionäre Militärs einen regierungsdistanten Kurs verfolgten.
Ein-Mann-Krieg eines „Raffke“
Einen Lenker im Wirtschaftsleben, einen überdimensionalen, für das Inflationsgeschäft typischen „Raffke“ hat Fritz Lang seinen Mabuse einmal genannt, den Typ eines Neureichen, einen erfolgreichen Kriegsgewinnler und Inflationsnutznießer. „Damals hieß es, die Mabuse-Figur sei eine Nachbildung des Stahlmagnaten Hugo Stinnes, der es, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, zu einem Riesenvermögen brachte und eine Schlüsselposition in der Wiederbewaffnungsindustrie einnahm“ – so Thomas Elsaesser, der in seinen Studien zum Weimarer Kino (1999) einen ebenso vorstellungskräftig eingefühlten wie scharfsinnigen Kommentar zu Fritz Langs Erzählweise zitiert, der von keinem Filmkritiker, sondern von dem legendären großen Unbekannten unter den amerikanischen Schriftstellern der vergangenen Jahrzehnte, Thomas Pynchon stammt [zuletzt Autor von „Inherent Vice / Natürliche Mängel“, 2009; Pynchons siebter Roman; es heißt, Paul Thomas Anderson arbeite derzeit am Drehbuch einer Adaption. Ein weiteres Projekt Andersons soll seit längerem die Adaption von „Gravity’s Rainbow / Die Enden der Parabel“ sein]. In „Die Enden der Parabel“ lässt Pynchon seine Figur des Wissenschaftlers und Raketeningenieurs Franz Pökler sich an den „Zeitgeist“ Weimars erinnern, der für diesen die Züge eines raubvogelartigen Kinogesichts annimmt, das des Schauspielers Rudolf Klein-Rogge mit seinen „riesigen eiskalten Augen“ – Klein-Rogge ist Langs Dr. Mabuse, der Hunnenkönig Attila in Die Nibelungen, der Wissenschaftler Rotwang in Metropolis und der Chefspion der fremden Macht, Haghi in Spione. Thomas Pynchon: „An Hugo Stinnes sollte man dabei denken, den rastlosen Drähtezieher hinter den Kulissen aus sichtbarer Inflation, sichtbarer Geschichte: Spieler, Finanzhai, Erzgangster… ein pedantisch bürgerlicher Mund, rundwangig, ungelenke Gesten, der erste Eindruck komische Technokratie… und doch, wenn die Wut ihn packte, unter seinem rationalisierten Blick hervorbrach, wenn seine gletscherkalten Augen zu Fenstern in die kalte Savanne wurden, dann kam der wahre Mabuse zum Vorschein, vital und stolz vor den grauen Mächten, die ihn umringten, ihn in ein Verderben drängten, von dem er gewußt haben mußte, daß er ihm nicht entrinnen könnte, das stumme Inferno der Gewehre, Handgranaten, Straßen voller Polizisten im Angriff auf sein Hauptquartier, und sein eigener Wahnsinn am Ende des geheimen Tunnels… Und wer anders brachte ihn zur Strecke als das Idol der Matineen, Bernhard Goetzke als Staatsanwalt von Wenk, derselbe Goetzke, der den zärtlichen, wehmütigen bürokratischen müden Tod [in Fritz Langs Der müde Tod, 1921] gespielt hatte, hier ebenfalls zu seiner besten Form auflaufend, zu zahm, zu sanftmütig für die dekadente Gräfin, die er begehrte – aber Klein-Rogge warf sich ins Getümmel, die Klauen gespreizt, trieb ihren effeminierten Gatten in den Selbstmord, packte sie, schmiß sie aufs Bett, diese geile Schlampe – nahm sie!, während der sanfte Goetzke auf seinem Amt saß, bei seinen Papieren und Memmen. Mabuse versuchte ihn zu hypnotisieren, unter Drogen zu setzen, in seiner Amtsstube zu Tode zu bomben, aber nichts wollte funktionieren, jedesmal rettete ihn die große Weimarer Trägheit der Akten, Hierarchien und Routinen.“
Thomas Elsaesser begreift die Mabuse-Figur aus der Ökonomie heraus, als „Ein-Mann-Krieg“ bezeichnet er, was Mabuse ausficht, als „den Krieg eines Unternehmers gegen Bürokratie und die langen Flure des offiziellen Behördentums, aber auch ein Krieg mit den Mitteln des theatralisierten, offenen Betrugs gegen Demokratie, Recht und Ordnung im Namen der Intelligenz, der arroganten Männlichkeit und gewissenlosen Gerissenheit.(…) Mabuse ist die ‚Charaktermaske‘, von der Adorno in seiner Analyse der amerikanischen Industriebosse und Finanzkapitalisten, der Rockefellers, Kennedys und Vanderbilts spricht: das letztlich unerträgliche Antlitz der anarchistischen Kräfte des Kapitals, vor allem in der Sphäre der (Tausch-)Werte. Inflation/Deflation, das Bild des Börsenspekulanten als Emblem des Kampfes zwischen (multi-nationalem Monopol-)Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, der Demokratie. Wenn der Instinkt dabei eine Rolle spielt, dann auf der ‚instinktiven‘ Seite des Kapitalismus und der Technologie.“ So lässt sich mit dieser Figur kein Diktator wie Hitler antizipieren, einer abstrakten Logik wird lediglich ein menschliches Gesicht gegeben, ohne die Unverständlichkeit des Zusammenhangs zu beseitigen; Mabuse könnte, so Elsaesser, eher ein Weimarer Vorläufer von Orson Welles‘ Charles Foster Kane sein. „Mabuses Psychopathengesicht in Doppelbelichtung über einem leergefegten Börsenparkett: In diesem Bild konzentriert sich schon 1922 Langs romantischer Antikapitalismus. (…) Mabuse diktiert Hausse und Baisse… am Ende sprengt er die Bank. In der Sphäre des Geldes ist der Börsenkrach das Ende der Welt. Das Bild sagt aber auch: Tabula rasa – die Gesellschaft ist von ihren Parasiten gereinigt.“ So Klaus Kreimeier in seinem Essay „Der Schlafwandler“ (1987/2008) über die deutschen Filme von Fritz Lang, der hier auch Versatzstücke „völkischen Bewusstseinsbreis“ gegen eine internationale Verschwörung „jüdischen Finanzkapitals“ plündere.
Mabuse kann man auch als romanhafte Gründervision eines in ihm personalisierten Terror-Netzwerks betrachten, einen die modernsten Techniken nutzenden Weltverschwörer aus dem Geist der Schauerromantik, der sich über den irrational ausstrahlenden „Dr. Caligari“-Komplex, in dem Wahnsinn und Verbrechen, Psychiatrie und Terror, Nervenheilanstalt und Unterwelt phantastisch fusionieren, fortsetzen kann. Fritz Lang, vertraut mit den modernen Technologien der Massenkultur, hatte Formen der ästhetischen Avantgarde angewandt, die eine „Mimesis der organisatorischen und administrativen Prinzipien“ betrieben, welche „von Kapitalismus und Warenzirkulation bis zur Unsichtbarkeit naturalisiert worden waren, um so Produktion, Wissen und Subjektivität beliebig instrumentalisieren zu können.“ Zugleich war es Fritz Lang im Weimarer Kino um Vorlagen gegangen, die jeglichen Kanon traditioneller Werte möglichst wenig berührten. „Populäre, den Massen verständliche Erfindungen, vom Herrschaftsmittel Sprache unabhängige Bildlichkeit. Die Sprachformeln der Harbou [Thea von Harbou, Drehbuchautorin der ersten drei Mabuse-Filme, damals noch Gattin Fritz Langs], a-individuell, in denen das Es lauter redete als in vermeintlich originellen Wendungen und Geschichten …“ (Frieda Grafe, 1979). Ein scheinbar unzusammenhängender Handlungsfluss fesselte die Aufmerksamkeit des Publikums, gewöhnte es an schockhafte Ellipsen, einen vorwärtsdrängenden Überschuss von Täuschungsaktionen, die zeigten, wie sehr Mabuse seine Macht mehr noch als durch Verkleidung über seinen Blick, seine durchdringend fixierenden Augen ausübte.
„Er steht über der Stadt – groß wie ein Turm“
Mabuses spezifisches 20er-Jahre-Profil sollte in den späten Verfilmungen ab 1960, die sich der unheimlichen Strahlkraft dieser Figur noch einmal bedienen wollten, in trivial kriminalistischen Mustern verblassen; globale Superschurken, die die Weltherrschaft anstreben, indem sie gleichzeitig bereit sind, alles in Schutt und Asche zu legen, haben als Serienfiguren über hundert Jahre ihren Platz im populären Kino, angeführt von Mabuse. James Bond-Gegenspieler wie etwa „Goldfinger“, „Blofeld“ oder „Dr. No“ sind seine Taschenausgaben.
Eine große Zeitangst und eine entsprechend unwiderstehliche Verlockung scheinen in den Mabuse-Stories Ausläufer desselben emotionalen Kerns zu sein. Norbert Jacques‘ Roman „Dr. Mabuse, der Spieler“, so Günter Scholdt in „Mabuse, ein deutscher Mythos“ (1994), belege „die These, daß die Horrorproduzenten aller künstlerischen Gattungen in ihren besten Exemplaren die Befürchtungen und Bedürfnisse ihrer Konsumenten nicht nur ausbeuten, sondern zugleich auch enthüllen.“ Das heißt: der spekulative Angstappell der Industrie ist nicht nur exploitativ, es werden darin auch Gestalten ausprobiert, es wird etwas sichtbar.
„Dr. Mabuse, der Arzt, der Spieler, der Verbrecher“ – so stellt ein Zwischentitel den Helden in Dr. Mabuse, der Spieler vor – hat im Staatsanwalt Wenk einen Gegenspieler, der in der Romanvorlage Protagonist des Autors Jacques ist; im Film fällt der Repräsentant öffentlicher Ordnung gegen das attraktivere Image des erfolgreich-dämonischen Täters ab. Anders als im Roman, der mit dem Tod des Schurken enden muss, lässt Fritz Lang Mabuse in die Falle seiner unterirdischen Geldfälscherwerkstatt gehen. Als man sein Versteck aufbricht, sieht man, neben den Arbeitern, die, alle blind, ihre sklavische Geldzählerarbeit verrichtet haben, den Verbrecher beim Spiel mit den Banknoten, er hat sich in den Wahnsinn geflüchtet; in diesem Zustand tauchen die Toten, die er auf dem Gewissen hat, vor seinen Augen auf. Gefangen im Innern der eigenen Höhle, abgedriftet in einen Zustand jenseits der Megalomanie, als sei er regrediert in das Alter eines schutzlosen Kleinkinds, das Stadium, in dem die Voraussetzungen jenes Wahns zu finden sein mögen.
Er könne nur durch sich selbst zugrunde gehen, heißt es im Film aus dem Mund einer ihm ‚verfallenen‘ Tänzerin, die Mabuse wie ein Zuhälter als seine Verführungswaffe einsetzt. – „Wer er ist – das weiß niemand. Er ist da! Er lebt! Er steht über der Stadt – groß wie ein Turm – Er ist die Verdammnis und die Seligkeit! Er ist der größte Mann, der lebt! Und er hat mich geliebt!“ Das Uraufführungsplakat von Theo Matejko zu Dr. Mabuse, der Spieler hat diese leidenschaftliche Überhöhung graphisch ins Bild gesetzt.
„Ausmerzung realistischer Einzelheiten“ im Sinne der öffentlichen Ordnung
Die Veröffentlichung des Ullstein-Romans von Norbert Jacques und des Fritz Lang-Films waren, als frühes Beispiel für den Medienverbund, aufeinander abgestimmt und verschafften dem Buch schon im ersten Jahr über 100.000 verkaufte Exemplare. Die völkisch-nationale Presse lehnte den Film als Produkt der „Systemzeit“ ab; mit wenigen, allerdings bemerkenswerten Schnittauflagen, die Aufstände, Putschversuche und politischen Kämpfe im Inneren zu Beginn der Weimarer Republik betreffend, konnte er die Zensur passieren, wobei in deren Urteil eine Angst spürbar wird vor der Zeitnähe von öffentlichen Unruhen, gewalttätiger Subversion bis hin zu Bürgerkriegszuständen, deren authentische Darstellung zu schmälern man bestrebt war. In der Niederschrift zur Verhandlung über den Film „Dr. Mabuse, der Spieler, II. Teil“ vom 20. Mai 1922 begründet die Filmoberprüfstelle ihre Entscheidung zum Verbot von vier Ausschnitten aus dem Film damit, „dass eine Reihe von Bildfolgen zu Beginn des 6. Aktes geeignet sind, die öffentliche Ordnung zu stören. Es wird hier nämlich die Erstürmung eines Hauses, in dem ein Verbrecher mit seinen Spiessgesellen sich verteidigt, mit allem Realismus anstürmender und zu Tode getroffener Soldaten, aufblitzenden Schüssen, Rauchwolken und dem verzweifelten Mut der belagerten Verbrecher geschildert. Die Oberprüfstelle musste anerkennen, dass für den sonst nicht zu beanstandenden Sinn und Zusammenhang der Handlung diese Darstellung nicht nur notwendig war, sondern mit einem ganz besonderen Akzent als der Höhepunkt der Handlung geschildert werden musste. Doch erschien der Realismus dieser Darstellung so ausgiebig breit, dass diese Ausgiebigkeit aufreizend an Zustände erinnern konnte, die sich in Deutschland nach der Umgestaltung des Staatswesens abgespielt haben und in der Erinnerung aller Lebenden haften geblieben sind. Die Ausgiebigkeit dieser Darstellung erschien danach nicht im Sinne der öffentlichen Ordnung. Die von der Filmoberprüfstelle getroffene Anordnung durch Ausmerzung einer grossen Anzahl realistischer Einzelheiten hat die Absicht, diese Darstellung um ein Gewisses zu mildern und glaubt, dieses Ziel damit auch erreicht zu haben. Die weitere Anordnung einer Bildfolge zu verbieten, in welcher ein eingekerkerter Verbrecher kurz bevor er Selbstmord begeht an die Gefängniswand die Worte ‚Götz von Berlichingen‘ schreibt, erfolgte in der Erwägung einer verrohenden Wirkung. Denn diese Darstellung ist geeignet infolge ihrer Ungewöhnlichkeit, im Gedächtnis des Beschauers verrohend haften zu bleiben.“ (Abschrift Filmoberprüfstelle B 27.22, in: Schriftgutarchiv Deutsche Kinemathek Berlin)
Film als Bild der Zeit
Mabuse sei „ein Kind von Nietzsche“, hat Fritz Lang einst bekannt, dagegen Siegfried Kracauers Betrachtung zum „Aufmarsch der Tyrannen“ („Von Caligari zu Hitler“, USA 1947; dt. 1958; 1979, Kapitel sechs) in Filmen wie Dr. Mabuse, der Spieler, Nosferatu oder Das Wachsfigurenkabinett, mit der dieser Rückschlüsse auf die präfaschistische Disposition der Deutschen zieht und „tiefwurzelnde Vorahnungen“ des faschistischen Führerstaates verdichtet, abgelehnt. „Als kleiner heller Punkt leuchtet Mabuses Gesicht auf der schwarzen Leinwand auf, gleitet mit bestürzender Geschwindigkeit nach vorn, nimmt den ganzen Bildraum ein und richtet seinen grausamen, willensstarken Blick direkt ins Publikum.“ Zitiert wird eine Beobachtung Rudolf Arnheims: „Diese Einstellung charakterisiert Mabuse als Geschöpf der Finsternis, das die Welt, die er bedroht, verschlingt.“ – Kracauer greift auf die anlässlich der Premiere 1922 veröffentlichte Programmbroschüre der Decla-Bioscop-Produktionsgesellschaft zurück, die „Mabuses Welt“ so beschreibt: „Die Menschheit, durch Krieg und Revolution aus den Fugen geraten und niedergetrampelt, rächt sich nun für die qualvollen Jahre, indem sie ihren Gelüsten frönt (…) und sich passiv oder aktiv dem Verbrechen hingibt.“ Kracauer: „Das heißt, das Chaos zeugt Tyrannen wie Mabuse, die dann neues Chaos schaffen. Man sollte nicht das scheinbar harmlose Wort ‚und‘ übersehen, das der Werbetext für angemessen hält, die schwerwiegenden Begriffe ‚Krieg‘ und ‚Revolution‘ zu verbinden: dieses ‚und‘ wirft ein erhellendes Licht auf Mabuses Herkunft aus der Mittelschichtsmentalität.“
„Mabuse, Mabuse, das war doch [- Schnitt -] dieser irre Doktor aus der Inflationszeit, 1920/21, der Spieler“ so gräbt der gewichtige Kommissar Lohmann (Otto Wernicke) in Das Testament des Dr. Mabuse (1932/33) angestrengt im dialogischen Anschluss von einer Einstellung zur folgenden in seinem Kriminalistengedächtnis, derweil Fritz Lang den Film vom Polizeikommissariat ins Archiv springen lässt. Aus den Höhen der Regale reicht ein Archivar dem Fahnder die Akte. Zehn Jahre nach Dr. Mabuse, der Spieler hat Fritz Lang Mabuse, der unablässig wie von fremden Kräften getrieben Weltverschwörungspläne aufs Papier bringt, aus der Irrenanstalt befreit; Mabuse ist immer noch fähig, die Wünsche und Ängste des Zeitgeistes zu spiegeln. Hat Norbert Jacques‘ Fortsetzungskonzept gegenüber dem Spieler-Film einen Irrsinnigen aus der Anstalt entweichen lassen, um mit der Ausführung der Mabuse-Aufträge zu beginnen („Der Chemiker des Dr. Mabuse“, 1931), ergreift in Fritz Langs Testament Mabuses Geist Besitz vom Anstaltsleiter, der die hinterlassenen Botschaften aller besessen hingekritzelten Pläne Mabuses durch generalstabsmäßig organisierte Aktionen der Bande in die Tat umzusetzen hat, terroristische Visionen auf der Höhe der Zeit: „Attentate auf Eisenbahnlinien, Gasometer, Chemische Fabriken.“ Für das Testament wurde 1932 ein Industriekomplex in Spandau-Eiswerder bei Berlin vor zahlreichen laufenden Kameras gesprengt, ein Abriss, der in den Drehplan passte.
Ungesichert ist der verschiedentlich zu findende Hinweis auf einen noch vor dem Vorspann von Dr. Mabuse, der Spieler eingefügten Prolog, in dem Straßenkämpfe des Spartakusaufstandes Anfang 1919 als Initiative Mabuses hingestellt wurden, ebenso wie der Kapp-Putsch, die Angriffe der Freikorps-Verbände auf Arbeiterräte und Streikbewegungen der frühen Republik oder der Mord an Walther Rathenau – zu denken: der Film als unbedingtes ‚Bild der Zeit‘, mit einem dokumentarisch-kritischen Anteil, der Fritz Lang wichtig war. Drogenhandel, Glücksspiel und Prostitution bilden hier bereits die drei Säulen einer funktionierenden Unterweltorganisation, die Mabuses Machtbereich strukturieren; Industriespionage, Börsenbetrug und Geldfälschung sind dagegen die massiven Eingriffe Mabuses ins chaotische Wirtschaftsleben zur Zeit der Hyperinflation.
Lehrbuch terroristischer Akte
Das Testament des Dr. Mabuse war der erste Fall des Verbots eines Spielfilms unter der neuen Nazi-Reichsregierung. Joseph Goebbels soll nach der Vorführung gesagt haben: „Ich werde ihn deshalb verbieten, weil er beweist, daß eine bis zum Äußersten entschlossene Gruppe von Männern, wenn sie es nur ernstlich will, durchaus dazu imstande ist, jeden Staat aus den Angeln zu heben.“ Als Teilnehmer der obligatorischen Zensur-Sitzung vor der Filmprüfstelle gab ein Regierungsrat zu Protokoll, der Film sei „staatsgefährdend“, da die „fortlaufende Darstellung schwerster Verbrechen, diese grauenvolle Vermengung zwischen Verbrechen und Wahnsinn“ die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdeten. Für „die kommunistischen Elemente, die in Deutschland zur politischen Ohnmacht verurteilt seien, könnte dieser Film, der die Organisation einer Verbrecherbande mit ihrer Teilung nach den verschiedenen Arbeitsgebieten zeige, geradezu ein Lehrbuch zur Vorbereitung und Begehung terroristischer Akte sein“. Statt des angekündigten „Mabuse“-Films von Lang kam am 30. März 1933 Blutendes Deutschland in die Kinos, ein sogenannter „nationaler Tatsachenfilm“.
Psychoanalyse, Hypnose, Suggestion
„Es gibt keine Liebe, es gibt nur Begehren./ Es gibt kein Glück, es gibt nur den Willen zur Macht.“ (Zwischentitel) So der als Psychoanalytiker Dr. Mabuse zu einer Abendgesellschaft im Haus des Grafen Told (Alfred Abel) Geladene zu dessen Gattin (Gertrude Welcker), ehe der hypnotisch wirkende Strahl, den seine aufgerissenen Augen aussenden, hinterrücks den Kopf des Grafen zu treffen scheint und ihn zum Falschspiel am Kartentisch zwingt. Als dies mit einem Eklat entdeckt wird, verliert die Gräfin, die nicht nur Mabuse, sondern auch dessen Verfolger, den Staatsanwalt Wenk, libidinös fasziniert, das Bewusstsein und fällt ohnmächtig in die Arme des hypnotisierenden Analytikers, der sie in dem plötzlichen Durcheinander buchstäblich abschleppt, sich als willenlose Beute aneignet: „Mein -!“ (letzte Zwischentitel des ersten Teils von Dr. Mabuse, der Spieler).
Die Eliten der Vorkriegszeit sind erledigt, vom Willen eines dominierenden Usurpators ihrer Dekadenz überführt, enteignet und angeeignet. Hier scheint Mabuse in der Tradition des Vampirfilms zu stehen, nur dass er hypnotisch tätig wird, anstatt zu beißen. Gräfin Told, mit Sehnsuchtsblick unter schläfrig schweren Lidern, hatte sich in Nachtlokalen und Spielhöllen von der „toten Atmosphäre“ des Hauses des effeminierten Grafen, voll mit seiner Sammlung expressionistischer Kunstobjekte, erholen wollen. „Wie kommt eine Frau wie Sie in diese Umgebung? Zwischen Schieber, Spieler und Dirnen? …“ fragt sie der augenblicklich von ihr affizierte Staatsanwalt – „Wir haben müdes Blut, Herr von Wenk! Wir brauchen Sensationen ganz besonderer Art, um das Leben ertragen zu können!“
Als Hypnotiseur Sandor Weltmann liefert Mabuse in einer Großveranstaltung Beispiele experimenteller Massensuggestion („Die Geheimnisse des Seelenlebens! Das Unterbewußtsein bei Menschen und Tieren! Im großen Saal der Philharmonie“), indem er das bewegte Bild einer orientalischen Karawane von der Leinwand über die Bühne ihren Weg durchs Publikum ziehen lässt und damit quasi 3D-Kino antizipiert. „Zweifellos werden Tausende und Abertausende des Laien-Publikums in der nächsten Zeit hinter jedem Psycho-Analytiker erschauernd einen ‚Dr. Mabuse‘ wittern“ schrieb der Neurologe und Leiter des Medizinischen Filmarchivs der Ufa- Kulturfilmabteilung, Curt Thomalla in „Der Kinematograph“ (23.7.1922); er beklagte den „Fehler in der Vermengung der Psycho-Analyse, wissenschaftlicher Hypnose und Suggestion, die sämtliche Forschungs- und Anwendungsgebiete der exakten Wissenschaft darstellen, mit den Taschenspieler-Kunststücken und Gauklereien eines Zauberkünstlers, eines ‚Pseudo-Okkultisten‘, und mit den sagenhaften Fähigkeiten der indischen Fakire,…“. Seine Erwartung, dass „Tausende von Gebildeten“ aufgrund solcher Oberflächlichkeit sich vom Kino abwenden würden, lässt sich nicht bestätigen, aber die Äußerung, dass der „schlimmste Feind des Films … die Mißachtung der Gebildeten“ sei, ist immerhin erstaunlich. Der Mediziner moniert mangelndes Niveau, wo Fritz Lang doch in Dr. Mabuse, der Spieler den Kulturfilm im Detail markant zur Geltung bringt: mit einer Szene, in der Mabuse im Labor einer Schlange tödliches Gift abzapft – das Close up auf die Zähne des Reptils, eines der für Lang typischen Inserts, nur nicht im Atelier, sondern im Labor aufgenommen, ruft die wie unter Hochspannung stehende Krallenbewegung von Mabuses Händen in Erinnerung, diese selbsttätige, manisch wiederholte Willensgeste, in der ein Rest ungezäumter Energie sichtbar wird. Horror des Dokuments – man könnte an das Insert in Murnaus Nosferatu denken, der im selben Jahr wie der erste Dr. Mabuse erschien und das Wesen des Vampirischen mit der Einstellung auf die Blüte einer fleischfressenden Pflanze charakterisiert, im Moment, in dem sie einem Insekt zur tödlichen Falle wird.
Ob Analyse oder Suggestion und Hypnose, letztere damals bereits als Therapieform bei ‚Shell Shock‘-Opfern des Ersten Weltkriegs angewandt – die Angst vor einem Missbrauch durch falsche Seelenärzte, die ihre Techniken in „Teufelswerk“ wenden, eine Angst vor Persönlichkeitsverlust, die das Opfer im somnambulen Zustand erleiden könnte, dürfte einer Vielzahl zeitgenössischer Betrachter nicht unbekannt gewesen und als Faszinosum wirksam geblieben sein: Die Angst vor Kontrollverlust, vor der Aufhebung aller Abwehrfunktionen, welche die Intervention ins schutzlose Unbewusste erlaubt, Angst vorm ‚bösen Blick‘, vor Fremdsteuerung, die das Individuum wie einen Roboter lenkt – zuletzt erscheint dies alles begründet auch in der geistigen Entkernung und Enteignung eines entwurzelten, politisch desorientierten Publikums. Skrupelloser obrigkeitsstaatlicher Missbrauch, im Zusammenhang mit Verrat und Vertrauensverlust, den die von Kriegsleiden und Nachkriegschaos betroffene Bevölkerung erfahren hatte, scheint hier in fiktional verzerrter Form nachgeholt zu sein.
Megalomanie
„Jetzt soll die Welt erst erfahren, wer ich bin, – ich! Mabuse! – Ich will ein Gigant werden, – ein Titan, der Gesetze und Götter durcheinander wirbelt wie dürres Laub!“ (Zwischentitel Dr. Mabuse, der Spieler) – Dr. Mabuse als einen lustvoll elaborierten Fall von Größenwahn aufzufassen, könnte eine Erklärung für die Faszinationskraft einer solchen Figur bieten, wenn man den Anteil Größenwahn im zeitgenössischen Betrachter veranschlagt, dessen Projektionen sich auf den magischen Kriminellen und ultimativen Weltverschwörer richteten. Der Wahn als Triebkraft des Geschehens auf der Leinwand beantwortet gleichsam das unbewusste ‚Größenselbst‘ des Publikums, führt es zu einer Identifizierung mit jemandem, der dieses Größenselbst ausfüllt. Allmachts- und Größenphantasien lassen sich individualpsychologisch auf eine frühkindliche Entwicklungsphase zurückführen, die jedes Kind durchläuft. Solche Phantasien begründen sich als Abwehrmechanismen von Frustration, aus Verlassenheitsangst und dem Mangel, der entsteht, wenn es nicht die entscheidende Spiegelung – ‚Responsibilität‘ – durch die Eltern erfährt. Aus dem Gefühl der Kleinheit, des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht bilden sich Abwehrphantasien als Schutz gegen die Angst vor Objektverlust, vor Abwesenheit der stützenden Bezugspersonen, auch davor, die Bewunderung der anderen zu verlieren. Aus Angstabwehr müssen die Kinder ihre Abhängigkeit verleugnen – Pseudounabhängigkeit geht damit einher, eine Selbstidealisierung im Verbund mit einem Streben nach Kontrolle der Gefühle anderer. Dieser Größenwahn reguliert die Angstabwehr, phantasiert für sich selbst übermenschliche Stärken und Kräfte, konstruiert sich eine Vollkommenheit, die man nicht hat. Wird die Existenz dieses Größenselbst bedroht, brechen destruktive, aggressive Impulse durch, Größenwahn paart sich mit Destruktionstrieb, der sich in eine fiktive dramatische Figur auf der Leinwand projizieren lässt und an ihr erlebbar wird, so dass man ungestraft der eigenen destruktiven Megalomanie frönen kann. Charakteristisch ist das Interesse an reiner Machtausübung, eine Triebkraft auszuüben ohne Sublimation in Form von Zielen und Motiven, der Gefangene eines Größenwahns besitzt keine wirkliche Anbindung an eine Idee. Die Lust an der eigenen Zerstörungswut ist also auf andere Figuren übertragbar, Befriedigung lässt sich darin durch Identifikation mit der Verkörperung dieses Triebs erfahren, von der man sich beizeiten mit Schaudern abwenden kann. Überträgt man diese Herleitung von Megalomanie aus der Kleinkindpsychologie sozialpsychologisch, erscheint plausibel, dass auf starke soziale Niederlagen und Kränkungen, wie sie die Kriegsfolgen und die elenden, krisenhaften Modernisierungs- und Deklassierungsschübe der frühen Weimarer Republik darstellen, narzisstische Krisen der Gesellschaft folgen, in welchen der destruktive Charakter der Megalomanie symptomatisch hervortritt. Mabuse, bedeutendster Verbrecher der deutschen Filmgeschichte, dessen ausagierter Größenwahn die unbewussten Phantasien des Weimarer Publikums respondierte, könnte ein solches Symptom sein.
Läuterung einer „verrotteten Welt“
Am Ende seiner Karriere lässt sich Fritz Lang darauf ein, einige alte Stoffe für Artur Brauners CCC-Filmproduktion neu zu verfilmen. Nach Der Tiger von Eschnapur und Das indische Grabmal (beide 1958/59) wird sein letzter Film Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (1960), in dem er die Bedrohung durch die Mabuse-Figur auf fortgeschrittenem technischen Niveau atomarer Bewaffnung und totaler Überwachung aktualisiert. Der masken- und identitätenwechselnde Verbrecher findet erneut einen Nachfolger, und wieder besteht der Reiz des Stoffes noch mehr als im bloßen Suspense in der Ambivalenz des Bösen, der Schrecken wie Faszination ausübenden allgegenwärtigen Beobachtung durch einen anonymen Apparat von Monitoren, durch den der Zuschauer an Stellen selbst zum Voyeur wird, eine anziehende Horrorwirkung, die vergeblich jener ästhetischen Originalität und Ausdruckswucht nacheifert, wie sie durch Formen ausschweifender Dekadenz und wilder Destruktion in den ersten, stilbildenden Mabuse-Filmen Langs vermittelt worden waren. Zitierende Passagen, in denen Das Testament im Kontext der 1000 Augen im Westberliner Ambiente wiederbelebt wird, hat Lang deutlich platziert als Selbstzitate, nur die Apparaturen der Kontroll- und Bespitzelungstechnik sind modernisiert: Mabuse okkupiert in erster Linie Informations- und Nachrichtensysteme. War er in Dr. Mabuse, der Spieler 1922 noch weitgehend ‚vor Ort‘, ist mit dem Testament sein Platz als reiner krimineller Geist ins unsichtbare Zentrum des Informationsnetzes gerückt, eine medientechnologisch moderne Version des Unseen Enemy (D.W. Griffith, 1912). Seine Agenten bedienen fahrbare Sender, setzen elektronische Bildaufzeichnungsgeräte, versteckte Mikrophone und Kameras ein; die halbdurchlässigen Spiegel, die in einem Berliner Hotel zur Spionage einladen, wirken dagegen wie eine Reminiszenz an die ‚magischen Spiegel‘ aus Langs Frühwerk Die Spinnen (1919). Wie die Kelten zur Zeit des Römischen Imperiums scheint Mabuse damit erneut überall zu sein, man sieht ihn nur nicht, bis zur finalen kriminalistischen Entlarvung. Mit Atomraketen soll nun „diese verrottete Welt“ ins Chaos gestürzt werden – solcher Tenor durchzieht alle Mabuse-Filme Fritz Langs: als Vermächtnis dessen, der „eine verrottete, dem Untergang geweihte Welt in Trümmer gelegt“ hätte – „Dieses Gehirn hätte eine Menschheit vernichtet, die selber nichts als Zerstörung und Vernichtung kennt, die nur durch Schock und Entsetzen in letzter Stunde geläutert werden kann.“ (So der bereits unter dem Einfluss zunehmenden Wahns seines Patienten Mabuse stehende Anstaltsleiter im Testament, ehe dessen Vermächtnis vollends von ihm Besitz ergreift) An Stellen kommt der asoziale Furor über zivilisatorischen Abgründen zu Wort, gespeist aus Phantasien gegen die Angst.
„Lang hat, ohne Ironie, Spuren gelegt, Verbindungslinien gezogen, mit seiner „Mabuse“-Tetralogie einen abstrus-hellsichtigen Kommentar zu den Katastrophen des Jahrhunderts verfasst“, resümiert Klaus Kreimeier in seiner Fritz Lang-Studie „Der Schlafwandler“ (1987; 2008). Die Akte Mabuse ist 1960 in Die 1000 Augen nicht mehr auffindbar, nur ein alter Beamter erinnert sich noch, und wieder sind die endlosen Sitzungen im Polizeidezernat von Tabakdunst vernebelt. „Der Fall, erfahren wir, ging nicht in die Kriminalgeschichte ein – ‚Hitler und der braune Spuk‘ kamen dazwischen. Der Mabuse von 1960 entpuppt sich als Hoteldirektor und das Hotel als Hinterlassenschaft der Nazis; die Abhöranlagen der Gestapo sind nun auf Fernsehmonitore umgestellt. Von den Jahren der Inflation über die Weltwirtschaftskrise und jene Zeitspanne, die Lang den ‚braunen Spuk‘ nennt, bis ins Atomzeitalter: Mabuse ist nicht zu schlagen. Er kann von einem Berliner Kriminalkommissar oder von einem genialen Interpol-Beamten vorübergehend ausgeschaltet werden. Aber Mabuse kommt immer wieder. Er ist allgegenwärtig – und er ist immer Gegenwart; darum funktionieren die vier Filme über ihn wie eine Zeitmaschine.“ 1989 dreht Claude Chabrol mit Dr. M als Hommage an Fritz Lang am alten Schauplatz Mabuses im damaligen West-Berlin eine Fortschreibung, in der die Massensuggestion elektronischer Medien die Rolle der individuellen Hypnose eingenommen hat.
Erben Mabuses
Spiel als öffentliche Unterhaltung, Geld als Machtmittel sind die entscheidenden Gebiete von Mabuses Handeln. Wenn der Markt immer Recht hat, bedarf es für solche Tätigkeiten keiner Maskierung mehr. Der medial kommunikative, stets freundliche Manager will einzig Wachstum zu aller Nutzen und muß aufgrund des individualistischen Konsenses ‚Unterm Strich zähl ich‘ keinerlei Widerstand mehr weghypnotisieren geschweige denn auf blutige Weise straffällig werden. Aber eine dunkle Seite bleibt im sichtbaren Teil der Gesellschaft sowie in ihrem moralischen Anspruch gebändigt. Heute, da sich eine Investmentbank wie Goldman/Sachs berufen fühlt, das Werk Gottes zu verrichten, und mit Geld Schöpfung gleichsetzt, erscheint der Finanzmarkt als diese dunkle Seite unseres Ichs, bei der die Bewusstseinsebene unseres Gewissens wegrationalisiert wurde. Die Vorstellung eines Mabuses der nahen Zukunft müsste das Bild vom ‚modernen Raubtier‘ des globalen Unternehmers und Investors als ungezügeltem Wirtschaftssubjekt ergänzen mit Projekten, ganze Volkswirtschaften zu privatisieren, Staaten als Schuldner in seine Abhängigkeit zu bringen, deren Bevölkerung in Geiselhaftung zu nehmen, Gemeinwesen zu enteignen und zugleich alles aufs Spiel zu setzen. So bleiben Spiel und Terror, die größenwahnsinnigen Triebkräfte Mabuses, ob sichtbar oder verborgen, in der Welt. Man könnte sich ihn als gestaltwandlerischen Doppelagenten zwischen diesen aneinander gekoppelten Sphären vorstellen, zwischen der kapitalistischen ‚Erzählung‘ vom unaufhaltsamen Wachstum und den destruktiven Intermezzi zyklischer, katastrophischer Krisen, die immer auf den Krieg verweisen, als die notwendige Kapitalvernichtung.
Als Potenzial zur Fortsetzung blieb zu Zeiten der frühen Bundesrepublik vom Mabuse der Weimarer Republik die „Seelenwanderung“ übrig, der flottierende, unterminierende Geist auf der Suche nach einem ‚Wirtshirn‘, reinkarnierbar in jeglicher Gestalt. Die 1000 Augen des Dr. Mabuse, der letzte Film des Meisters, bildete den Auftakt einer Reihe, die fast, in Konkurrenz mit den zur gleichen Zeit laufenden Edgar-Wallace-Filmen, ein eigenes Genre wurde, Kriminalfilme nach einem üblichen Schema jener Jahre. Langs visionäre Zeitfigur sank in der Folge herab zum Serienschurken eines trivialisierten Kriminalfilm-Kinos, zum Bösewicht, der auch mal gezwungen war, vor den Polizeiverfolgern in rasender Autofahrt zu flüchten. Harald Reinl drehte Im Stahlnetz des Dr. Mabuse und Die unsichtbaren Krallen des Dr. Mabuse (beide 1961), Paul May Scotland Yard jagt Dr. Mabuse (1963), Hugo Fregonese Die Todesstrahlen des Dr. Mabuse (1964) und Werner Klingler lieferte ein Remake von Das Testament des Dr. Mabuse (1962). In den Todesstrahlen, dem sechsten und letzten Teil der Mabuse-Filmreihe der 1960er, eine internationale Koproduktion, ergreift Mabuses Geist, diesmal auf Malta, erneut Besitz, von einem Wissenschaftler in einer Nervenklinik, es werden bekannte Motive des Mabuse-Mythos der Zwischenkriegszeit ‚abgeklappert‘, doch springt der Film von den erwarteten hypnotischen Fernwirkungen und erfindungsreichen Tarnungen, derer sich auch der Geheimdienst bedient, zum Motiv globaler Bedrohung, indem Mabuses Organisation einen Brennspiegel in ihren Besitz bringen will, eine frühe Vorstellung militärisch nutzbarer Lasertechnologie, mit der man mit einem Schlag ganze Städte vernichten könne. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges geht es darum, in wessen Händen sich die Massenvernichtungswaffen befinden. Das typische Produzentenkalkül Artur Brauners (CCC-Filmkunst), ein bisheriges Erfolgsmodell mit einem neuen zu kombinieren, das heißt, einen ‚frei verwendeten‘ Mabuse als bewährtes Genre-Emblem für einen Spionagefilm mit Science-Fiction-Anteilen im Stil von James Bond – 007 jagt Dr. No (1963) zu nutzen, deaktivierte den Geist Mabuses, dessen Eigenheit in der Folge seiner Trivialisierung begann sich aufzulösen, zu parzellieren in meist zwar psychopathologische, doch kaum mehr unheimliche Nachfolger.